Zur Entwicklung des Sozialismus – Von der Utopie zur Klimawissenschaft

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Zunächst ein paar Zeilen Altbekanntes, um dann von der sozialistischen Utopie zur Notwendigkeit einer postkapitalistischen Gesellschaft auf der Grundlage der Klimawissenschaft vorzudringen.

Wissenschaft ist fehlbar. Was heute als gletscherfeste Wahrheit gilt, kann morgen bereits dahinschmelzen und in eine neue Theorie einfließen. Bis auf Weiteres gilt jedoch:Stimmen die Erkenntnisse und Prognosen einer bislang überzeugenden Majorität von Klimawissenschaftlern, so stürzt eine Fortsetzung unseres wachstumsgetriebenen Wirtschaftens die Welt immer rascher in einen chaotischen Abgrund.

Der Grund für diesen Abgrund ist die Klimaerwärmunginfolge der Verbrennung der fossilen Energieträger Kohle und Erdöl und der Freisetzung von Methan. Technologisch ist diese Erwärmung nicht beherrschbar, solange eine Volkswirtschaft wächst: Was „hier“ durch technologische Entwicklungen eingespart wird, wird „dort“ über Wachstum und Mehrkonsum mehr als übertroffen: der Rückschlag-Effekt.

Bei der Entstehung fossiler Brennstoffe wurde Kohlendioxid über hunderte Millionen Jahre hinweg der Atmosphäre entnommen und in Organismen eingebunden. Vor etwa 250Jahren knallte der Sektkorken der Industrialisierung. Seitdemwerden diese gigantischen Treibhausgasmengen in einem einzigen großen Produktions- und Konsum-Rausch in den wohlhabenden Ländern wieder in die Atmosphäre entlassen. Zunehmende Erwärmung führt zum Schmelzen des Permafrosts, wodurch in der Tundra bislang gebundenes Methan freigesetzt wird. Im Zuge der Erderwärmung schmelzen die Polkappen und das Grönlandeis sichtlich ab. Während in Südostasien nach dem Schmelzen der Himalaya-Gletscher die großen Flüsse versiegen werden, die hunderte Millionen Menschen ernähren, steigen mit dem Schmelzen des grönländischen und polaren Eises die Wasserspiegel der Meere und Flüsse in anderen Weltgegenden. Hunderte Millionen Menschen müssten sich in Bewegung setzen, um dem zu entkommen.

Wie wäre dem drohenden Chaos zu entgehen? Ein zunächst plausibel scheinendes Konzept lautet: Wir schalten möglichst komplett auf erneuerbare Energien um. Die Crux an diesem Vorschlag: Auch für die Gewinnung erneuerbarer Energien müssen überaus energieintensive Vorarbeiten geleistet werden. Beispielsweise muss Wasserstoff zuallererst energieintensiv aus Wasser gewonnen werden. Erneuerbare Energien sind zudem flächenverbrauchend – wenn wir an die erforderlichen Windräder und Solarpaneele denken – sowie wetterabhängig. Kurz gesagt: Eine Fortsetzung des bisherigen Wirtschaftswachstums ließe sich nach einem Umstieg auf erneuerbare Energien kaum bewerkstelligen.

Vor diesem Hintergrund ist öfters der Vorschlag zu hören: „Dann fahren wir eben das Wachstum solange zurück, bis die Ökobilanz unseres Wirtschaftens nichts mehr zum weiteren Aufheizen des Klimas beiträgt.“ Die Crux an diesem Vorschlag: Er führte ebenso ins Chaos wie der Klimawandel selbst. Warum ist dies so? Weil ausgerechnet Wachstum das Alpha und Omega unserer Wirtschaftsweise ist. Eine kapitalistische Wirtschaft, die über Jahre nicht wächst, bringtHeerscharen von Arbeitslosen hervor, die sich in Bewegung setzen, um den Fährleuten rechtsextremer Parteien hinterherzulaufen. Mit anderen Worten: Man kann den Kapitalismus schwerlich ohne Wachstum denken – außer man wäre bereit, ihn als Diktatur zu akzeptieren.

Wachstum ereignet sich nicht zuletzt auch deshalb, weil die meisten von uns gern konsumieren oder mehr konsumieren wollen. Davon unabhängig muss die Wirtschaft im Kapitalismus nicht in erster Linie wegen unserer Konsumwünsche wachsen, sondern weil die Wirtschaft andernfalls mit unabsehbaren Folgen für das Zusammenleben einbrechen würde. Hierin gründen unter anderem Werbekampagnen und Verschrottungsprämien. Der Konsum darf nicht längerfristig hinter der Produktion zurückbleiben.

Wenn zutrifft, dass fortgesetztes Wirtschaftswachstum zu forcierter Klimaerwärmung führt (mit katastrophalengesellschaftlichen Konsequenzen). – Und wenn gleichermaßen stimmt, dass eine Wachstumsrücknahme innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaft ebenfalls in ein gesellschaftliches Chaos führt, so verbleibt als Stellschraube offenbar einzig und allein: der geordnete, nicht-chaotische Übergang in eine post-kapitalistische Wirtschaftsform, die wesentlich ohne Wachstum auskommt.

Die Klimawissenschaft führt uns vor Augen, warum der Übergang in eine nach-kapitalistische Form des Wirtschaftens alles andere utopisch und vielmehr dringend geboten ist. Diese Ableitung wird vielen missfallen. Den wenigen noch real existierenden utopischen Sozialisten wird sie missfallen, weil die Idee des Sozialismus einst ein auf fortschrittlicher (aber leider eben auch Energie-intensiver) Technologie basiertes Schlaraffenland verhieß. Den zahlreichen Verteidigern und Nutznießern unserer aktuellen Wirtschaftsverfassungwiederum dürfte diese Ableitung missfallen, weil sie ihren weltgeschichtlich einmaligen materiellen Lebensstandardtrotz seinen exorbitant hohen Energieverbräuchen undrücksichtslos angemaßten Welt-Verschmutzungsrechten sehr liebgewonnen haben. Wobei wir mit letzteren – wie Stephan Lessenich es einmal schlagend ausdrückte – weniger über unsere Verhältnisse leben als vielmehr über die Verhältnisse weniger begünstigter Menschen in den Peripherien der Wohlstandsgesellschaften westlichen Typs.

Aus wirtschaftlichem Minus-Wachstum folgt innerhalb kapitalistischen Wirtschaftens ein unkontrollierter gesellschaftlicher Kollaps. Aus einem Weitermachen auf Wachstumskurs folgen ebenfalls Zusammenbrüche: wegen der Auswirkungen einer ungebremsten Klimaerwärmung. So gesehen ist das Gebot eines geordneten Ausstiegs, Umstiegsund Aufstiegs in eine postkapitalistische Weise des Wirtschaftens klimawissenschaftlich begründet.

Aus klimawissenschaftlicher Perspektive gibt es heute für Milliarden Menschen eine relativ neuartige objektive Interessenlage, die ihren Ausdruck in einer neuen Theorie für einen nichtchaotischen Übergang in den Post-Kapitalismus erst ansatzweise gefunden hat. Man kann die Klimawissenschaft als einen – abgasfreien – Motor für eine solche Theorie des Übergangs begreifen.

Im Zuge der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zu vermeintlicher Wissenschaftlichkeit gelangte man zu der Vorstellung, dass eine solidarische Transformation (Revolution) der Gesellschaft in erster Linie in der Dimension der Arbeit gründen und von ihr ausgehen müsste. Die Klimakrise zeigt, dass es auch die sehr viel abstraktere Öko-Sphäre sein kann, die in Richtung auf eine Überwindung der aktuellen Wirtschaftsverfassung drängt.

Früher waren die um die pure Fortsetzung ihrer organismischen Existenz schuftenden Arbeiter die Statthalter des Neuen. – Sind es heute die für eine nichtkatastrophale Fortexistenz demonstrierenden Klimaaktivisten? Letztere mögen kein revolutionäres Subjekt sein – mit Sicherheit aber ein transformationswilliges Subjekt. Es bleibt abzuwarten, mit welcher Insistenz und mit welcher Resonanz sie künftig nochfür einen Abschied vom Wachstum und damit vom Kapitalismus plädieren mögen.

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Über Karim Akerma 75 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).