Kein Atheist: Wie Darwin zu Religion und Schöpfungsglauben stand

Charles Darwin (1809-1882) war fasziniert von der Vielfalt der Lebewesen auf unserer Erde. Und er war ein großer Naturforscher, der eine riesige Fülle von Beobachtungsmaterial gesammelt und viele Bücher dazu geschrieben hat. Weltberühmt wurde er durch die Theorie, die er in dem Buch Über die Entstehung der Arten (1859) dar­legt und begründet: Die Deszendenztheorie oder Ab­stammungslehre (Darwin sprach nicht von Evolution, sondern von Transmutation, Abwandlung, Abstammung u. ä.). Den Kerngedanken dieser Theorie kann man kurz so zusammenfassen:
Alle Lebewesen haben sich aus gemeinsamen Urformen allmählich entwickelt, im Laufe von langen Zeiträumen. Die verschiedenen Arten von Lebewesen kommen also nicht fertig vom Reißbrett des Schöpfers, sie wurden nicht jede in einem eigenen Schöpfungsakt erschaffen. Sie haben sich vielmehr entwickelt, sind entstanden durch Mutation und Selektion, d. h. durch zufällige kleine Abänderungen (Mutationen) an dem, was schon da war, an den schon vor­handenen Lebewesen, so dass es bei deren Nachkommen zu Variation kam und sich dann im Kampf um Nahrung und Sexualpartner nur die Lebensfähigeren fortpflanzten, während die weniger Lebensfähigen ausstarben: natürliche Auslese (Selektion). Diese beiden Faktoren Mutation und Selektion (Abwandlung und Auslese) reichten aus, um die allmähliche Entstehung der Vielfalt der Lebewesen zu er­klären. Darwin hat damit das Fundament einer Biologie geliefert, die von religiösen Überzeugungen frei ist.
Er hat damit nichts anderes getan als das, was der be­deutende mittelalterliche Theologe und Naturforscher Albertus Magnus (1200-1280) propagiert hat: „In der Naturforschung haben wir nicht zu untersuchen, wie Gott der Schöpfer … sich seiner Geschöpfe bedient, um durch Wunder seine Allmacht kundzutun. Wir haben vielmehr zu erforschen, was im Bereich der Natur durch natureige­ne Kräfte auf natürliche Weise alles möglich ist.“
Wie stand Darwin zur Religion, zum Glauben an einen Schöpfer? War er ein Gegner oder gar Feind von Religion und Schöpfungsglauben?
1) Darwin hat nie einen ideologisch-atheistischen Dar­winismus vertreten, auch nicht in seiner agnostischen Endphase. Er war aufgewachsen in einer dekadenten Form von Christentum, das einerseits mit Moral, Sünde und Furcht vor ewigen (Höllen-)Strafen operierte, dessen damals vorherrschende rationalistische Physikotheologie andererseits überall in der Natur eine auf den Nutzen des Menschen bezogene Zweckrichtung sah, daraus die gött­liche Vernunft ablesen und Gott aus angeblichen Lücken wissenschaftlicher Welterklärung beweisen wollte (wie es heute wieder die ID-Lobby tut).
In den Jahren zwischen seiner Weltumseglung auf dem Forschungsschiff Beagle (1832-1837) und der Veröffentli­chung von Über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (1859) wandte sich Darwin, wie er im Kapitel „Religious Belief“ seiner Autobiographie ausführt, von dem Glauben, in dem er erzogen worden war, und von der Sicht der Physikotheologie – etwa des in Cambridge damals viel zitierten William Paley (1745-1805) – allmäh­lich ab und einem vorsichtigen Deismus zu.
Er lehnte die Einzelerschaffung der einzelnen Arten durch zahllose getrennte Schöpfungsakte ab, ebenso Wun­der, sofern sie als Durchbrechung der Naturgesetze ver­standen wurden, und er war aus moralischen Gründen ge­gen die „abscheuliche Lehre“ von ewigen Strafen. Das grausam qualvolle Leiden in der Natur, das er so oft gese­hen hatte, war für ihn nicht mit einem Schöpfungswerk Gottes vereinbar, wohl aber mit der natürlichen Selektion. Die Überzeugung von der Evolution war für ihn eine Be­freiung von bedrückenden religiösen Vorstellungen.
Im allerletzten Satz seines Werkes On the Origin of Species (1859) deutet er dann aber kurz eine andere Auf­fassung von Gott und von Schöpfung an: „Es liegt etwas wirklich Erhabenes in der Auffassung, dass der Schöpfer den Keim allen Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und dass, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwer­kraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.“ Es ist bemer­kenswert, dass 1500 Jahre vor Darwin ein griechischer christlicher Theologe, Gregor von Nyssa (335-394), eine ganz ähnliche Sicht vertreten hat, und zwar ganz umfas­send ausgedehnt auch auf die kosmische Evolution.
Darwin nahm eine allgemeine Vorsehung bei der Pla­nung der Gesetze an, die die Evolution überhaupt erst möglich machen. Eine Welt, die so „wunderbar geordnet“ ist, könne als Ganzes nicht das Ergebnis puren Zufalls sein, wenngleich die Details wenig perfekt und zufällig sind. In einem Brief von 1870 an seinen Freund, den Bio­logen Joseph D. Hooker, den er in „Entstehung der Ar­ten“ öfters erwähnt, schrieb er: „Ich kann das Universum nicht als Resultat blinden Zufalls ansehen. Gleichwohl kann ich im Detail keine Evidenz von einem wohltuenden Plan (design) sehen, oder überhaupt einen Plan von ir­gendeiner Art.“ (F. Darwin & Seward 1903, I, 321) Und in einem anderen Brief an den Naturwissenschaftler Asa Gray in Harvard schrieb er: „Ich neige dazu, alles so zu betrachten, als folge es den Gesetzen des Schöpfungsplans, während die Details dem überlassen bleiben, was wir Zu­fall nennen.“ (F. Darwin 1887, II, 105)
2) Drei Jahre vor seinem Tod schrieb Darwin (1879): »In meinen extremsten Gedanken war ich nie ein Atheist in dem Sinne, dass ich die Existenz Gottes verneint hätte. Ich glaube meistens, aber nicht immer (doch je älter ich werde, desto öfter), dass ‚Agnostiker’ eher auf mich zu­trifft.“ (E Darwin 1887, I, 274) Agnostiker ist einer, der meint, dass wir das, was über die sinnliche Wahrnehmung hinausgeht, nicht erkennen, es aber auch nicht bestreiten können.
Dazu erläutert er in seiner Autobiographie (1879): „Das ergibt sich aus der äußersten Schwierigkeit oder viel­mehr Unmöglichkeit, einzusehen, dass dieses ungeheure und wunderbare Weltall, das den Menschen umfasst mit seiner Fähigkeit, weit zurück in die Vergangenheit und weit in die Zukunft zu blicken, das Resultat blinden Zu­falls oder der Notwendigkeit sein soll. Denke ich darüber nach, dann fühle ich mich gezwungen, mich nach einer ersten Ursache umzusehen, die in Besitz eines dem des Menschen in gewissem Grad analogen Intellekts ist, und ich verdiene Theist genannt zu werden … Dann entsteht aber wieder der Zweifel: Kann man sich auf den Geist des Menschen verlassen, der, wie ich glaube, sich aus einem so niederen Geist wie dem der niedersten Tiere entwickelt hat, wenn er solch großartige Schlussfolgerungen zieht?“ (F. Darwin 1887, I, 282 f)
Darwin fragt also sehr ernsthaft und ehrlich. So be­klagt er auch den Verlust seiner früheren Freude an Na­turerlebnissen, an Poesie und Literatur und sagt, er sei „eine Art Maschine zum Herausmahlen von allgemeinen Gesetzen aus einer großen Faktensammlung“ geworden. Früher ein Liebhaber der Musik, ist jetzt „meine Seele zu vertrocknet, um sie wie in früheren Tagen zu schätzen. Ich bin in jeder Beziehung ein verwelktes Blatt – außer in der Naturwissenschaft. Manchmal hasse ich sie deswe­gen.“ (F. Darwin 1887, II, 273)
Bittere Worte. Offenbar kann man, leidenschaftlich be­wegt von einer einzigen großen Fragestellung und faszi­niert von den dabei gemachten Entdeckungen, so sehr in einer eindimensionalen Perspektive versinken, dass andere Seiten der Wirklichkeit nicht mehr zum Zug kommen und das Menschsein verarmt. Sagt hier nicht einer der ganz großen Naturwissenschaftler zugleich etwas über die Grenzen von Naturwissenschaft aus: dass der Mensch sei­nen tiefsten Anlagen nach nicht mit Naturwissenschaft allein er selbst und wirklich Mensch sein kann?
3) Darwins Grundidee (Entstehung der Vielfalt des Le­bens durch abwandelnde Variation und durch Effizienz bei der nachfolgenden Selektion) hat sich als richtig erwiesen, wenngleich als ergänzungsbedürftig (z. B. durch Me­chanismen wie Symbiose). Die Durchführung seines An­satzes aber ist nicht frei von fragwürdigen Beimischungen: Beispielsweise nahm Darwin, nachdem er zunächst mit dem Ökonomen Thomas Malthus vom struggle for existence gesprochen hatte, seit 1869 von dem Soziologen Herbert Spencer die problematische Formel survival of the fittest auf. Und über den Festlegungen durch das na­turhaft Angeborene unterschätzte er die Offenheit jedes neugeborenen Menschen und seine Formbarkeit durch menschliche Zuwendung, sozialen Umgang, Erziehung, geistige Bildung usw. Er verkannte die Macht kultureller Evolution mit ihren (medizinischen, technischen, sozial­kooperativen, pädagogischen usw.) Möglichkeiten, die sich über die biologische Evolution und die Selektion erheben können, was sein Konkurrent Alfred Russel Wallace (1823-1913), der unabhängig von Darwin dieselben Ideen einer Evolution durch Modifikation und Selektion ent­wickelte, eher gesehen hat.
Vor allem aber muss Darwin deutlich unterschieden werden vom Darwinismus als Weltanschauung, der aus Darwins Idee eine Ideologie macht, und vom Sozialdar­winismus, der das Recht des Stärkeren im Verdrängungs­wettbewerb propagiert. Beides hat in Deutschland ins­besondere der Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) betrieben. Er erklärte Konkurrenz und Selektion zur Grundlage gesellschaftlichen Fortschritts und lieferte die Basis für Rassenideologien. In seinem populären Bestseller Die Welträtsel (Bonn 1899) erhob er den materialistisch interpretierten Darwinismus zur „monistisch“-materialistischen Totaldeutung der Welt, zum Religionsersatz: Ein Welturheber sei unvereinbar mit der ewigen Materie und den ehernen, mechanischen Naturgesetzen. Haeckel tat Gott spöttisch als „gasförmiges Wirbeltier“ ab und ließ sich in Rom zum materialistischen Gegenpapst krönen, ohne dass ihm und seinen Anhängern das Unwissenschaftliche und Lächerliche dieses Vorgehens bewusst ge­worden wäre.

Aus: Hans Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht
(c) 2009 Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer, 2. Auflage 2009, www.bube.de

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