Lou Andreas-Salomé und die weibliche Sexualität

Herz: Foto: Stefan Groß

Mit dem Titel „Erotik“ hat Lou Andreas-Salomé im Jahr 1910 als erste Psychoanalytikerin ein Buch über die weibliche Sexualität geschrieben. Es dauerte immerhin weitere fünfzehn Jahre, bis eine andere Freud-Schülerin – Helene Deutsch – ein weiteres Buch über die weibliche Sexualität schrieb. Es trägt den Titel „Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktion“ (1925). Das Bemerkenswerte an dem Buch von Lou Andreas-Salomé ist, dass sie es bereits geschrieben hat, bevor sie Sigmund Freud erstmals im Jahre 1911 begegnete. Ihre Wiener Lehrzeit bei Sigmund Freud war schließlich ein Jahr später in den Jahren 1912/1913.

„Die Erotik“ (1910)

Als das Buch „Die Erotik“ im Jahre 1910 erschien, war Lou Andreas-Salomé fast fünfzig Jahre alt. Sie war zu dieser Zeit bereits in ganz Europa als erfolgreiche Philosophin und Schriftstellerin bekannt. Friedrich Nietzsche machte ihr Heiratsanträge und sie schrieb die erste Werkbiographie über ihn. Mit dem Lyriker Rainer Maria Rilke verband sie eine mehrjährige Liebesbeziehung und eine lebenslange Freundschaft bis zum Tod Rilkes. Das Thema der weiblichen Sexualität, der Liebe, der Erotik und der Beziehung zwischen Mann und Frau waren jedoch Themen, die sie schon viele Jahre früher beschäftigten. Im Jahr 1892 erschien ihr Buch „Hendrik Ibsens Frauengestalten. Nach seinen sechs Familiendramen.“ Dieses Werk ist bereits eine Psychologie der weiblichen Seele und eine Analyse der Geschlechterbeziehungen zwischen Mann und Frau. In der Zeitschrift „Neue Deutsche Rundschau“ erschienen zwei Artikel von Lou Andreas-Salomé: „Der Mensch als Weib“ (1899) und „Gedanken über das Liebesproblem“ (1900). Diese beiden Arbeiten waren gewissermaßen eine Vorbereitung für ihr Buch „Die Erotik“.

Zahlreiche Neuausgaben und Übersetzungen

In der weiteren Rezeptionsgeschichte wurde „Die Erotik. Vier Aufsätze.“ in einer erweiterten Ausgabe von Ernst Pfeiffer posthum neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen. Zu den bereits genannten drei Aufsätzen kam die Arbeit „Psychosexualität“ hinzu, die 1917 in der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“ veröffentlicht wurde. Diese wurde von dem Sexualwissenschaftler Iwan Bloch in Berlin herausgegeben. Lou Andreas-Salomé hat sich mit Iwan Bloch im Dezember im Jahr 1916 mehrmals getroffen. Im Verlag Medienedition Welsch wurde der Band „Die Erotik“ im Jahr 2015 neu herausgegeben. Dieser Verlag gibt eine 18-bändige Werkedition über Lou Andreas-Salomé heraus. „Die Erotik“ erschien als Band 11. Der Band „Die Erotik“ wurde zu einem der bekanntesten Bücher von Lou Andreas-Salomé. Mittlerweile liegen sechs Übersetzungen vor: französisch (1984), italienisch (1985), serbokroatisch (1986), spanisch (1993), griechisch (2012) und englisch (2012). Im Vorwort der Neuausgabe im Verlag „Medienedition Welsch“ schreibt die Herausgeberin Kathrin Schütz:

„Das Büchlein „Die Erotik“ bildet den Höhepunkt von Lou Andreas-Salomés vorfreudianischer Essayistik zur Geschlechterfrage. In ihm verbinden sich Einflüsse aus Wilhelm Bölsches „Liebesleben in der Natur“ mit ihrer eigenen physiologisch-mystischen Lebensphilosophie vor dem Hintergrund der sich neu formenden Sexualwissenschaften.“

Durch ihre jahrelange Liebesbeziehung mit dem Lyriker Rainer Maria Rilke, ihren lebenslangen Briefwechsel und schließlich durch ihre Biographie über Rilke hat Lou Andreas-Salomé einen anderen und vielleicht sogar tieferen Zugang zum Lieben gefunden. Die Dichter waren schon immer Künstler in der Sprache der Liebe. Ihre Gedichte sind eine Sprache des Herzens.

Die Erstbegegnung mit Sigmund Freud erfolgte im Jahr 1911. Nun näherte sich Lou Andreas-Salomé der Liebe mit Hilfe der Psychoanalyse, einer neuen Wissenschaft. Dies führte zu einer anderen Vertiefung – gilt doch die Psychoanalyse als Tiefenpsychologie. Von nun an interessierte sich Lou Andreas-Salomé für den Einfluss des Unbewussten auf das Liebesleben des Menschen. In ihrem Tagebuch „In der Schule bei Freud“ über die Jahre 1912/1913 in Wien finden sich zahlreiche konkrete Beispiele, wie sie sich der weiblichen Sexualität und dem Liebesleben aus der Perspektive der Psychoanalyse widmete. In ihrer Wiener Zeit hatte sie mit zahlreichen Psychoanalytikern sehr fachkundige Gesprächspartner für diese Themen.

Liebe und Sexualität im Spiegel des Freud-Tagebuches von Lou Andreas-Salomé

Lou Andreas-Salomé setzte sich gemeinsam mit anderen Psychoanalytikern bevorzugt mit jenen Themen zu Liebe und Sexualität auseinander, die sie auch für sich selbst bedeutend und konflikthaft waren. Sexuelle Untreue war eines dieser Themen. Im realen Leben war ja Lou Andreas-Salomé nach ihrer Heirat mit Carl Friedrich Andreas im Jahre 1887 wiederholt sexuell untreu. Nachdem sie Sexualität mit ihrem Ehemann kategorisch ausschloss, hatte sie zahlreiche, deutlich jüngere Liebhaber. Rainer Maria Rilke, Friedrich Peneles, Poul Bjerre und Viktor Tausk waren die bekanntesten. Im Freud-Tagebuch vertritt sie zur Untreue apodiktisch zwei kurze Thesen:

  • Untreue ist kein Verrat!
  • Untreue ist Heimkehr zu sich selbst.

Den typischen weiblichen Konflikt mit der Treue fasst sie in das Bild des „blitzzersplitterten Baumes“ – also ein Baum, der durch die Untreue zersplittert wird. Dies drückt sie mit ihren Worten wie folgt aus:

„Für ein Weib gibt es überhaupt nur die Wahl der Halbheit oder der Untreue. Sie ist in der Liebe wie ein Baum, der den Blitz erwartet, der ihn spaltet – und sie ist doch auch wie der Baum, der reich vor sich hinblühen will. Indem sie eins nur auf Kosten des andern vermag, muß sie mit der Halbheit paktieren.“ (Lou Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud, S. 132-133).

Die große Bedeutung der Liebe für die Selbstfindung und Selbstverwirklichung beschreibt sie in ihrem Freud-Tagebuch mit folgenden Worten:

„Wir werden in der Liebe, Hingabe, ja uns selber geschenkt, wir werden uns in ihr präsenter, umfänglicher, mit uns selbst vermählter als zuvor, und nichts anderes als dies ist ihre echte Wirkung, ihre Lebens- und Freudenwirkung.“ (Lou Andreas-Salomé, Wien: „In der Schule bei Freud“, S. 49).

Literatur:

Andreas-Salomé, Lou.  Henrik Ibsens Frauen-Gestalten. 1892 (neu herausgegeben mit Kommentaren und Nachwort von Cornelia Pechota, Taching am See 2012

Andreas-Salomé, Lou. Der Mensch als Weib. Ein Bild im Umriß. In: Die Deutsche Rundschau 10, 1899, S. 225-243

Andreas-Salomé, Lou. Gedanken über das Liebesproblem. In:  Die Deutsche Rundschau 11 (1900), S. 1009-1017

Andreas-Salomé, Lou. Die Erotik. Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt/Main, 1910

Andreas-Salomé, Lou, Zum Typus Weib, in: Imago, 3, 1914, S. 1-14

Andreas-Salomé, Lou, „Anal“ und „Sexual“, in: Imago, 4, 1915/16, S. 249-274

Andreas-Salomé, Lou, Psychosexualität, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, 1917, S. 1-12 und 49-57

Andreas-Salomé, Lou. In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres, 1912/13. Hrsg. von Ernst Pfeiffer, Max Niehans, Zürich 1958

Andreas-Salomé, Lou. Die Erotik. Vier Aufsätze. Hrsg. von Ernst Pfeiffer, Matthes & Seitz Verlag, München 1979

Csef, H., Plädoyer für eine Sprache der Liebe. Literaturgeschichte und Sexualität. Ein Beitrag zum 150. Geburtstag von Lou Andreas-Salomé. Gyne. Fachzeitschrift für den Arzt der Frauen. Jahrgang 32, Heft 6 (2011), S. 26-28

Csef, H., Lou Andreas-Salomé und ihre Beziehung zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud. Tabularasa-Magazin vom 18. Mai 2019

Deutsch, H., Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktion. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien, 1925

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef 

Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Zentrum für Innere Medizin

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Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.