Rassismus, Xenophobie und Integration – Warum tut Europa zu wenig für die Integration von Migranten?

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Im März vorigen Jahres erschien ein Buch der Journalistin und Politologin Gilda Sahebi mit dem Titel „Wie wir uns Rassismus beibringen“. Im Werbetext des Verlages bringen zwei Sätze einzentrales Problem auf den Punkt: Der erste Satz lautet: „Wo Mehrheits- und Minderheitsgesellschaften aufeinandertreffen, bilden sich fast zwangsläufig rassistische Denkmuster und Strukturen – außer man steuert bewusst dagegen.Der zweite Satz zielt auf das deutsche Problem mit dem bewussten Gegensteuern, denn Sahebi stellt fest: In Deutschland tut man das nicht.“ Zudem gibt es leider eine erhebliche Begriffsverwirrung, was eigentlich als rassistisch beschrieben wird. Die Rassenbiologie des 20. Jahrhunderts ist überholt und die durch sie generierten anthropologischen Merkmals- und Begabungsprofile ebenfalls. Trotzdem ist in der Migrationsdebatte die „Rassismuskeule“ allzu schnell bei der Hand.  

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Singapur: Von Anfang an „Multikulti“

Weil inzwischen so gut wie alle europäischen Länder und die USA mehr an Zustrombegrenzung und Ausweisung denken als ihre rassistischen Denkmuster zu hinterfragen, lohnt sich der Blick aufein kleines Land, das genau dieses Notwendige schon lange tut, nämlich kontinuierlich und bewusst gegensteuern.“ Dieses Land ist das heute hochentwickelte und kosmopolitische Singapur.Seine moderne Geschichte begann damit, dass 1819 die East India Company die Insel dem Sultan von Johor abkaufte und die Briten sie 1867 zur Kronkolonie machten. Als Freihafen konzipiert, zog sie sofort Migranten aus der Region an, vor allem Chinesen und Inder, die auch von der Kolonialverwaltung und den Handelsfirmen als billige Arbeitskräfte angeworben wurden. Singapurliegt zwischen Indien und China und damit fast in der Mitte einer der für Großbritannien wichtigsten Handelsrouten des 19. Jahrhunderts. Mit dem Erfolg des Freihafens wurde die einheimische malaiische Bevölkerung schnell von den Migranten überflügelt. Bis heute leben in Singapur Chinesen, Malaien, Indersowie andere Südostasiaten und Europäer zusammen.Nach Rassenunruhen 1964 zwischen Malaien und Chinesen war die ethnische Balance bei der Unabhängigkeit 1965 eine riesige Herausforderung. Die neue Regierung erklärte Malaiisch als Nationalsprache und Mandarin, Tamil und Englisch ebenfalls als offizielle Landessprachen. Amtliche Dokumente sind viersprachig, die Nationalhymne ist malaiisch. Der Stadtstaat ist ein Paradebeispiel für eine multi-ethnische und multi-religiöse Gesellschaft, allerdings auch für die Notwendigkeit, die Diversität immer wieder neu zu justieren und Spannungen zu vermeiden. Bewährt, aber immer wieder in Frage gestellt, ist die Einteilung in Rassen, die auch als solche im Pass stehen, nämlich Chinesen, Malaien, Inder und Others, kurz CMIO genannt. Das hatheute weniger rassistische Untertöne, bleibt aber bei der ethnischen Durchmischung im dominierenden öffentlichen Wohnungsbau wichtig, dessen CMIO-Quotierung ethnische Enklaven verhindert. Im Wohnumfeld, in Kindergärten und Schulen, im Wehrdienst und natürlich am Arbeitsplatz sind alle Gruppen ständig gemischt und in direktem Kontakt. Trotzdem gibt es weiterhin und auch immer wieder neu die oben angesprochenen Denkmuster und Strukturen, ob ethnisch, religiös, rassistisch oder einfach „anders“ sei dahingestellt. Denn Vorurteile gegen „andere“ bilden sich auch ausreichend in der eigenen Ethnie oder Gruppe, in Stadtteilen, Dorfgemeinschaften oder Sportvereinen. Das oder der „Andere“ ist allzu leicht verdächtig, nicht vertrauenswürdig oder gefährlich, auch in den internationalen Beziehungen, ganz besonders imKrieg.

„Racial Harmony“ als politische Daueraufgabe

Aktuell verteilen sich die 3,4 Millionen Staatsbürger Singapurs auf 74 Prozent Chinesen, 13.6 Malaien, 9 Inder und 3.3 Prozent Andere. Unter den 1,9 Millionen ausländischen Arbeitskräften gibt es ebenfalls große Unterschiede bei Herkunft, Sprache und Religion. Sie alle, Bauarbeiter, Busfahrer, Pflegekräfte und Haushaltshilfen haben keine Aussicht auf ein Bleiberecht oder gar Einbürgerung, werden aber durch weitaus bessere Bezahlung als zu Hause angelockt. Anders als Europa kann Singapur als Inselstaat illegale Einwanderung ausschließen. Dafür konzentriert es sich darauf, in der heimischen Bevölkerung rassistische und religiöse Vorurteile zu bekämpfen und für ein Wir-Gefühl zu werben. Die Schulen unterrichten weitgehend auf Englisch, aber auch Mandarin, Malaiisch und Tamil, um das kulturelle Erbe der ethnischen Gruppen zu erhalten. Das Institute for Policy Studies (IPS) untersucht seit Jahren den Stand der Integration und die Rolle von Vorurteilen in der Bevölkerung. Die kritischen Punkte sind dabei Rasse, Religion, Migration und LGBT. Zwei Drittel der Befragten unterstützen die Rolle der Regierung und dreißig Prozent würden sogar mehr staatliche Interventionen begrüßen. Das IPS-Forschungsteam betont, dass auch die Zivilgesellschaft einen Beitrag leisten muss, um eineBalance zu erreichen und aufrecht zu erhalten. Seit 1997 bündelt ein Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen unter dem Namen Onepeople.sg mit Veranstaltungen und Informationen den Übergang „vom ich zum wir.“ Insgesamt, so zeigen Umfragen und Forschungsergebnisse, steigt die gegenseitige Akzeptanz, auch die Zahl der Mischehen entwickelt sich seit Jahren positiv. Aber „Vorfälle“ kommen ebenfalls immer wieder vor, seien es relativ banale, dass sich eine Influencerin über indische Turbane beschwert, die ihr die Sicht auf das Formel-1-Rennen versperren, oder unmittelbar rassistische gegen gemischte Paare auf der Straße. Besonders gefährlich kann es bei religiösen Themen werden, weil die große malaiische Minderheit muslimisch ist und immer wieder Jugendliche für jihadistische Themen anfällig werden. Die Geistlichen der vielen Religionsgruppen arbeiten deshalb betont an interreligiösen Kontakten, um Kenntnis über und Verständnis für die anderen zu fördern.

Ein neues Harmonie-Gesetz  

Am 4. Februar hat das Parlament mit der„Maintenance of Racial Harmony Bill“ versucht, den gesamten Komplex unter Einbeziehung der alten Regeln auf eine kohärente gesetzliche Grundlage zu stellen. Besonders interessant an dem Gesetz ist für Europa die Erweiterung der bisher schon strafrechtlich regulierten Bereiche um einen eher versöhnenden Mechanismus. In dieser Community Remedial Initiative (CRI) geht es um einen verständnisfördernden Dialog der Beteiligten, wie in dem zitierten Turban-Fall. Das sehr detaillierte neue Gesetz versucht, die Spannungen zwischen freier Meinungsäußerung und gesellschaftlichem Zusammenhalt auszugleichen. Satire, kritische Debatten oder Forschungsergebnisse sollen nicht durch das Strafrecht eingeschränkt werden, wohl aber Beleidigungen und Hate Speech. Einfluss aus dem Ausland wird präventiv eingeschränkt, Hasspredigern wurde auch bisher schon die Einreise verweigert.

Was könnten Deutschland und Europa von Singapur lernen?

1. Integration ist kein Zustand, sondern ein sehr langer Prozess.

Das Beispiel Singapur und sein neues Harmonie-Gesetz zeigen deutlich, dass eine heterogene Gesellschaft auch in Jahrzehnten nicht nahtlos zusammenwächst. Singapur ist seit 1965 unabhängig und sieht nach sechs Jahrzehnten immer noch großen Bedarf an staatlichen und zivilgesellschaftlichen Bemühungen um ein friedliches Zusammenleben. Denn kulturelle Bindungen an die alte Heimat, oft auch die der Eltern und Großeltern, bleiben einflussreich. Bei Religionsgemeinschaften wird diese Bindung noch einmal intensiver. Wenn an Brennpunkten im Ausland die eigene Religion bedroht erscheint, können andere Loyalitäten stärker in den Vordergrund rücken als staatsbürgerlichePflichten. Der Gaza-Krieg ist nur eins von vielen Beispielen. Auch Jugendliche können sich dann über soziale Netzwerke radikalisieren und Attentate planen.
Die Länder Europas mit hoher Migration haben zu spät erkannt, dass die Quantität schneller als erwartetzum qualitativen Problem werden musste. Die aktuellen politischen Reaktionen unter der Überschrift Rückführung und „Zustrombegrenzung“ zeigen, dass die Integration vernachlässigt wird. Zudem hat die ungesteuerte geographische Verteilung die Bildung von Parallelgesellschaften nicht nur ermöglicht, sondern geradezu herausgefordert. Die erwähnte Zwangsläufigkeit von rassistischen und fremdenfeindlichen Denkmustern darf also nie unterschätzt werden. Gerade wenn Migranten die Alterung der europäischen Gesellschaften und den Arbeitskräftemangel ausgleichen sollen, erfordert die Integrationsfrage deutlich mehr Aufmerksamkeit. Von den europäischen und türkischen Migranten sind viele zweifellos ohne große Probleme integriert worden und im Arbeitsmarkt angekommen. Aber auch sie werden immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert, wenn sie nur ihren Familiennamen nennen. Insofern ist es keine Überraschung, dass auch unter den Migrantengruppen Vorurteile gegenüber den Gastgebern entstehen. Wie abhängig zum Beispiel Deutschland von arbeitswilligen Migranten ist, hat das Statistische Bundesamt am 27. Februar in einer Pressemitteilung unterstrichen. Demnach sind im Aus- und Trockenbau 67 Prozent Migranten tätig, in der Lebensmittelherstellung 51, in der Gastronomie 45, in der Gesamtwirtschaft 26 Prozent. Die schwierigsten Problemgruppen mit hoher Kriminalitätsrate brauchen zweifellos ganz besondere Aufmerksamkeit. Wie das Beispiel Singapur zeigt, kann das nur durch konsequenten Polizeieinsatz und schnelle Justizverfahren eingedämmt werden, beide sind ebenfalls eine langfristige Daueraufgabe.

2. Integration kann nur als gemeinsame Aufgabe staatlicher Regelung und zivilgesellschaftlichen Engagements erfolgreich sein.

Eine rechtzeitige Zuzugsbegrenzung haben die meisten europäischen Länder, außer Ungarn, verpasst. Das sollte aber nicht nur für Remigrations-und Grenzabweisungs-Fantasien herhalten, sondern zu einer Bestandsaufnahme und Koordination der bereits vorhandenen Instrumente zur Integrationsförderung führen. Es gibt ausreichend ermutigende Beispiele privater Hilfsbereitschaft, persönliche Partnerschaften und Offenheit von Vereinen. Allerdings bleiben Ausländerbehörden, Justiz und Polizei weiterhin überfordert und teilweise verzweifelt, von den finanziellen Bürden ganz abgesehen. Die wichtigsten Baustellen sind ausreichend bekannt: 1. Die hohe Konzentration von Migranten gleicher Herkunft in bestimmten Stadtteilen, Stichwort Duisburg-Marzloh, und die schleichende Bildung von Parallelgesellschaften. 2. Die nicht ausreichende Verfügbarkeit von Sprachkursen ohne zwingende Ergebniskontrolle. 3. Der restriktive Zugang zum Arbeitsmarkt sowie nicht ausreichende Anreize zur Arbeitsaufnahme durch Alimentierung. Aber selbst mehr Erfolge mit der Integration werden nicht zu einer Homogenisierung führen. Wer nach einigen Jahren neue Deutsche, Franzosen oder Schweizer erwartet, kann nur enttäuscht werden. Die Idee von Nationalstaaten ist in Europa ohnehin erst am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden und in klassischen Einwanderungsländern wie den USA wurde die „Melting Pot-Theorie“ längst von dem treffenderen Bild der Salatschüsselabgelöst. Deshalb kann und muss es vor allem um Toleranz und Verständnis gehen, was die Singapurer „racial harmony“ nennen und kontinuierlich pflegen. Es wäre politisch und wirtschaftlich fatal, wenn die komplexe Integrationsfrage von der aktuellen Diskussion um Grenzkontrollen, Zustrombegrenzung und Ausweisungen verdrängt wird, denn diese werden sich nie ausreichend durchsetzen lassen. Sie gehört zu den entscheidenden Schicksalsfragen für Europa. Wenn vor allem über Billionenbeträge für militärische Sicherheit diskutiert wird, deren Einschätzung auf vermuteten Bedrohungsszenarien beruht, und gleichzeitig die Integration vernachlässigt wird, sind die Prioritäten nicht ausreichend abgewogen