Spenglers Schatten

Implodiert der Westen? Zum drohenden finanziellen Bankrott kommt der geistige

I
Vielleicht hatte Spengler doch recht mit seiner markigen These vom „Untergang des Abendlandes“. Statt Abendland sprechen wir, obwohl es geographisch kaum mehr Sinn macht, inzwischen von „dem Westen“. Desgleichen weckt das Wort Untergang irreführende Assoziationen, es klingt nach plötzlichem Verschwinden, z.B. einer Stadt wie Atlantis oder Pompeji. Gemeint aber hatte es Spengler anders, nämlich als langsamen und schmerzhaften Niedergang, als Martyrium des kulturellen Verfalls im großen Maßstab.
Vielleicht sind wir Zeuge, wie es beginnt oder besser begonnen hat, und allmählich wird es immer schwerer, es zu verleugnen oder zu verdrängen. Die EU, die als Bollwerk gegen Globalisierung und autoritären Kapitalismus gemeint war, scheint so schwach wie nie. Das haben jetzt auch die Politiker verstanden und wollen sie aus dem politischen Abseits holen. Vielleicht bräuchte sie zunächst, und das meine ich ganz ernst, eine PR-Agentur, die ihr ein wenig mehr Aura verleiht, die höhere Weihe einer großen, zukunftsweisenden Idee.
Universalisierung, Rationalisierung und Technisierung haben die Sinnfundamente des Westens ausgehöhlt und aufgezehrt; man braucht nicht mehr zu beschwören und schwarz zu malen; es reicht völlig aus, die Augen vor der Realität nicht zu verschließen. Wie sieht sie aus, jene Realität, in der wir leben? Verwahrlosung und Verrohung dehnen sich aus auf breite Bevölkerungsschichten, krasser Egoismus, Beschleunigung und Leistungsdruck führen vermehrt zu psychischen Erkrankungen, gewaltsame Familiendramen sind an der Tagesordnung, sexueller Missbrauch dehnt sich von Einzeltätern auf ganze gesellschaftliche Gruppen und Institutionen aus. Bei Amokläufen an Schulen sterben regelmäßig Unschuldige, Nachbarn erschießen sich neuerdings selbst in Deutschland, wo es kaum Waffenbesitz gibt.
Man könnte die Reihe noch eine Weile fortsetzen, zu bemerken ist jedoch: Es handelt sich in der Mehrzahl um empirische belegbare Fakten, also objektive Daten, keine lediglich ‚gefühlten‘, subjektiven Eindrücke. Zudem häufen sich Fälle von menschlichem oder technischem Versagen; Paul Virilio sprach vom „integralen Unfall“: Mit der steigenden Zahl von Vorgängen und Entscheidungen pro Zeiteinheit wird ein System immer störungsanfälliger, es kommt fast zwangsläufig zu Zwischenfällen – oft mit Todesfolge –, mit denen sich das System künstliche Ruhepausen schafft. Eine Bibliothek brennt, Häuser werden in die Tiefe gerissen, Züge entgleisen oder stoßen zusammen, auf der Autobahn kommt es zu infernoartigen Massenkarambolagen, in Großstädten fällt zeitweilig der Strom komplett aus – und so weiter und so fort. Auch hier ließe die Reihe sich fortsetzen, ohne dass man von der Natur verursachte Kalamitäten und Katastrophen miteinbezieht.
Ist jene Zusammenstellung von Fakten bereits tendenziös? Mit anderen Worten,kann man ihr Zynismus vorwerfen – oder ist sie stattdessen Ausdruck eines angemessen Realismus, der den allmählichen Verfall oder besser die Implosion der westlichen Kultur anzeigt? Fast jeder Leser kennt das Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis aus dem Jahr 1911. Wer es wieder liest, wird eine gewisse Aktualität der Stimmung kaum leugnen können. Es gibt dort die harmlos-naiv anmutende Zeile „viele Menschen haben einen Schnupfen“ – wenn es doch nur so wäre. Doch zu den Grippetoten kommen Opfer von Zivilisationskrankheiten im eigentlichen Sinn des Wortes, solchen nämlich, die die Zivilisation erst geschaffen hat, z.B. in dem sie das barbarische industrielle Regiment der Massentierhaltung aufrichtete: von der Vogel- über die Schweinegrippe zu den EHEC-Opfern, und besorgt fragt man sich, was als nächstes kommt. Der Tod, er ist kein Meister aus Deutschland mehr, sondern ein wandelbarer Geselle, und für einen etwas längeren Augenblick trägt er nun das schmucke Antlitz des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik.
II
Wenn nicht alles täuscht, so begründet dessen kaltblütige Tateine neue Epoche in der Geschichte des Westens. Zum ersten Mal seit den frühen 80er Jahren entsprang eine terroristische Tat nicht antiwestlichenMilieus, die aus der Ferne gesteuert werden, sondern den liberalen Wohlstandsgesellschaften selber. Es handelt sich jedoch auch nicht um den bekannten rechtsextremistischen Terror, wie er etwa in den 90er Jahren in Deutschland regelmäßig ausbrach. Denn erstens waren diesmal die Opfer keine Ausländer, sondern meist junge Bürger, die vom Täter einer bestimmten geistigen Richtung zugerechnet wurden. Und auf Täterseite fällt auf, dass Breivik wesentlich allein und auf eigene Rechnung agierte; seine Tat ist kein Ausdruck einer bestehenden Gruppenideologie, höchstens einer eingebildeten. Laut Plan sollte sie als initiales Fanal wirken, verstärkt durch einen medienwirksamen Auftritt in der Gerichtsverhandlung.
Schaut man sich das Kalkül des Terroristen genauer an, so wird seine Nähe zum Hitlerismus deutlich: Da ist dieses 1500-seitige Manifest, das im ersten Moment unheilvoll an „Mein Kampf“ erinnert; und da ist die mitleidlose Tötung einer möglichst großen Zahl unschuldiger Menschen, die zu ultimativen Feinden stipuliert werden. Was Hitler die Juden waren, sind Breivik die „kulturellen Marxisten“ der Sozialdemokratie. Der Unterschied liegt in Maßstab und Rationalität des Vorgehens: Anders als Hitler handelt Breivik als Privatmann, er verfolgt, wenn man das überhaupt noch als rationales Vorgehen begreifen kann, eine Politik der Ansteckung – möglichst viele Gleichgesinnte sollen es ihm nachtun und damit einen reaktionären Sturm entfachen, einen gewaltsamen „Kreuzzug“ gegen die multikulturelle Verderbnis des christlichen Abendlandes.
Breivik ist nicht bloß ein Ritter von der traurigen Gestalt, er ist der fleischgewordene, uns frech anblickende Nihilismus.
Während jedoch Hitler in politisch rationaler Weise den Marsch durch die Institutionen antrat, um sich an die Spitze des größtes verfügbaren Machtapparates zu setzen, bevor er sein geschichtlich einmaliges Zerstörungswerk begann, betreibt Breivik eine Art anarchische Subversion mitten im bestehenden gesellschaftlichen Umfeld. Beiden jedoch wird die Gewalt zum Selbstzweck, der Tod der anderen zum letzten Wort. Es handelt sich um jene „verwilderte Selbstbehauptung“, die mit der Überschreitung der letzten Grenze auch das Worumwillen ihres vermeintlich weltanschaulichen Programms aus dem Blick verliert.
In auffälliger Weise entspricht Anders Behring Breivik damit dem standardisierten Feindbild des amerikanischen Films: Er ist der Dämon, der aus der Mitte unserer vermeintlich so friedvollen Wohlstandsparadiese den gewaltsamen Tod bringt. In dem aktuellen Film „Source Code“ etwa ist der Held ein als Torso aus Afghanistan zurückgekehrter US-Soldat, der künstlich am Leben erhalten wird. Sein Gehirn wird mittels eines Computersystems mit dem eines Anschlagopfers verbunden, so dass er die Möglichkeit erhält, die letzten acht Minuten dieser Person wieder und wieder zu durchleben. Der Terrorist, den er schließlich nach wiederholten Sitzungen identifizieren kann, entpuppt sich als sozial isolierter Weißer, ängstlich, schwach und weltverdrossen, der beim Versuch ertappt wird, seine Vernichtungsphantasien in die Tat umzusetzen.
III
Während der wirkliche Bankrott des Westens durch immer neue Sparpakete und Rettungsfonds, durch intensives Schuldenmachen hinausgezögert wird, ist – weniger sichtbar – der Bankrott seiner Ideen beinahe abgeschlossen. Wir erleben nun wirklich jene von verschiedenen Denkern vorausgesagte Zeit, „in der alle Ideen sich blamiert haben“ (Karl Mannheim), jenen Nihilismus der Kultur, der als subjektiv artikulierter noch stets jenen, die ihn verkündeten, als Hartherzigkeit oder persönliches Versagen zugerechnet wurde. Breiviks Tat erweist sich als nihilistischer Akt, der durch die Art seines Zustandekommens jedwede mit ihm verbundene ideologische Zielrichtung dementiert. Mehr noch als das Phänomen Amoklaufaber macht Breiviks Handeln auch den objektiven kulturellen Nihilismus sichtbar. Man kann den norwegischen Attentäter – auch kulturräumlich – als radikalen Jünger Kierkegaards ansehen, der gegen die Verlogenheit der Kultur nicht mehr nur mit dem Wort, sondern mit der Waffe ankämpft. Aber sein vorgeblicher „Glaube“, von dem er sagt, er mache ihn wertvoller als 1000 Menschen mit bloßen „Interessen“, und der ihn in jenem Augenblick zum drastischsten Tun verführt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als oberflächlicher, eklektizistischer Remix, als bloßer „Mash-up“ (Sascha Lobo) fremder Texte und disparater Ideen. Die Individuen haben, frei nach Adorno, dem falschen Ganzen, das sich zum geschichtsmächtigen Universellen aufgespreizt hat, nichts Substantielles mehr entgegenzusetzen; es bleibt ihnen nur noch die Wahl zwischen Resignation und dem Versuch, die Barbarei der Realität durch Gewalt zu überbieten.
Was wäre nun, wenn die jüngsten Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrisen nichts anderes sind als Folgen des Versuchs, die Idee vom Wohlstand für alle zu retten? Jenes Wohlstands, an denen wir im Westen uns gewöhnt hatten und der irgendwann in den 90er Jahren seine Selbstverständlichkeit verlor? Während der vergangenen 20 Jahre ist dem Abendland recht unversehens ein neuer Gegner erwachsen, der autoritäre Kapitalismus, der im chinesischen Modell am reinsten und erfolgreichsten verkörpert zu sein scheint. Noch steht die Freiheit zwischen uns und denen. Noch werden prowestliche chinesische Künstler hofiert und Dissidenten mit Preisen ausgezeichnet. Doch nichts garantiert, dass Hegels Einsicht, die Geschichte werde vom Drang nach Freiheit vorangetrieben, noch in Geltung ist. Wie ein Symbol wirkt es da, dass der kranke Mann jenseits des Atlantiks mehr und mehr zum Schuldner Chinas wird. Sehen wir hier den Kampf des alten und neuen Geistes am Horizont aufziehen? Ist Gary Shteyngart, in dessen düsterer Zukunftsvision Super Sad True Love Story die USA am Tropf Chinas hängen, der rechte Prophet zur rechten Zeit?
Wer immer eine gewisse Antipathie dem Westen gegenüber hegt, sei versichert, dass die eröffnete Perspektive eines asiatischen Zeitalters so unerfreulich wie nur irgend denkbar ist. In jener brave newworld wird die Entseelung noch weiter vorangetrieben und das Individuum noch weiter entmündigt werden. Seiner politischen und rechtlichen Freiheit beraubt, wird der Bürger nur noch die Karikatur dessen sein, wie ihn der Fortschrittsoptimismus der Aufklärung imaginierte.Von den großen Ideen der Aufklärungszeit, Wohlstand, Fortschritt, Demokratie, Freiheit ist nur die der Freiheit noch nicht vollends kompromittiert. Wie lange wird es dauern, bis auch dieses letzte aufrechte Banner des Westens im Kampf der Kulturen preisgegeben werden wird?

Über Lembke Robert 35 Artikel
Robert Lembke, geb. 1980, bis 2005 Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie. Von 2006 bis 2008 Mitarbeiter und Doktorand an der Universität Jena. Seit 2008 freier Autor und Schriftsteller (Gedichtband „Stadien“, 2010). Veröffentlichte u.a. in „FUGE – Zeitschrift für Religion und Moderne“.

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