Stefan Groß trifft: Interview mit Prof. Dr. Alfred Grosser: Was bleibt aber stiftet der Moralpädagoge

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Was bleibt, aber stiftet der Dichter, sagt Hölderlin, was stiftet der Moralpädagoge? Sie sprechen von unserer Zeit als einer, in der die Zeiten des Glücks etwas weniger geworden sind! Was können wir dagegen tun und wo sehen Sie die Ursachen?

Unter anderem, indem ich versuche das ständige „Was wird das Ausland sagen?“ zu bekämpfen sowie die Art, sich von Israel ständig erpressen zu lassen, wie ich das in meinem Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel“ dargestellt habe. Heute muss aber vor einem neuen deutschen Hochmut gewarnt werden, mit seinen dummen antieuropäischen Konsequenzen.
Etwas dagegen tun könnte man beispielsweise in der Presse. Anstatt nur negative Meldungen zu verbreiten, wäre es doch weitaus besser und würde das Glück befördern, wenn man mehr über positive Ereignisse berichten würde. Dieses Positive allein begegnet einem in der öffentlichen Medienwelt allerdings sehr selten. Etwas Böses hingegen findet sich immer wieder. Und um Freude zu verbreiten, bräuchte man auch einen Begriff, dass es Freude geben kann und Freude geben soll. Aber der Geist der Zeit ist Anti-Freude.

Was macht Ihrer Meinung den Geist der Verzeihung aus? In der heutigen Welt, so scheint es, Ihre persönliche Geschichte hat Sie etwas anderes gelehrt, ist die Verzeihung aus der Mode gekommen!

Ich bin gar nicht zu sehr für Verzeihen. Ich bin zuerst einmal dafür, dass man begreift, dass der Andere vielleicht auch Recht gehabt hat. Ich bin dafür, dass man den Anderen nicht personifiziert, es gibt keine Kollektivschuld, es gibt solche und andere Deutsche. Um eine Anspielung auf das Buch „Das Amt“ zu machen; es gibt Diplomaten die so oder anders waren; jede Verallgemeinerung ist etwas, für das man sich erst einmal entschuldigen sollte. Ich glaube, das Verzeihen ist grundsätzlich sehr schwierig, wenn man nicht selbst gelitten hat. Deswegen ist das gegenseitige Verzeihen vor allen Dingen erst dann wirklich und echt, wenn man das Leiden des Anderen erst einmal verstanden und akzeptiert hat. Beispielsweise können heute die Israelis den Palästinensern nicht verzeihen, weil sie sie nicht verstehen.

Was beeindruckt Sie an Emmanuel Levinas? Sie haben eine tiefe Affinität zu Camus, warum?

Levinas, er beeindruckt mich, weil er die Ethik über alles stellt, über jede Metaphysik. Es kann keine Politik geben, ohne eine moralische Begründung, ob die nun gut oder schlecht ist. Und es gibt zuerst eine Moral und die Sicht des Anderen bestimmt diese Moral weitgehend. Als ich 65 wurde, stifteten mir ehemalige Studenten und Kollegen ein Buch mit dem Titel „Der Andere“ und Levinas ist jemand, der das Gesicht des Anderen verherrlicht. Ich glaube, das ist wesentlich. Meine Begeisterung für Camus besteht seit Anfang an, weil er menschlich ist, weil er andere versteht. Ein Beispiel: er plädiert, dass der extrem rechte Schriftsteller Robert Brasillachnicht erschossen wird, er ist doch erschossen worden, nicht weil er Anhänger dieser Ideen ist, sondern weil er gegen die Todesstrafe ist. Er ist systematisch gegen die Todesstrafe – auch gegen die Todesstrafe der Feinde. Übrigens kenne ich sehr wenige Menschen, die im Rückblick sagen, man hätte in Nürnberg niemand verurteilen können, wenn sie auch gegen die Todesstrafe sind.


Sie plädieren für die Mäeutik des Lernens und der Wissensvermittlung im sokratischen Sinne! Was bietet diese Methode für Vorteile für Studierende? Sie haben immer jene Form von Wissenschaft kritisiert, die sich im Elfenbeinturm verschließt.

Ich habe immer versucht, sokratisch zu sein, ich gehe auf den anderen ein – „Du sagt das, Du sagst das Gegenteil – siehst Du nicht den Widerspruch“; dann kommt im Gespräch die Konsequenz, die man nicht gewollt hat und über die es wieder nachzudenken gilt. Das ist die sokratische Methode. Ich habe diese immer wieder mit meinen Studenten vollzogen, die sich darüber geärgert haben. Aber ich selbst wurde von einem Philosophieprofessor beeinflusst, diese sokratische Einstellung zu haben.

Warum muß man gegen Mythen ankämpfen, lebt es nicht schöner mit diesen?

Ja, das würde ich, wenn ich bösartig wäre, von Religionen sagen, da aber meine Frau sehr gläubig ist, werde ich es nur halb sagen. Mythen können positiv sein. Beispielsweise war der ÉlyséeVertrag von Anfang an ein Scheitern. Charles De Gaulle hat gesagt, er sei tot, es ist wenig daraus entstanden, außer dass der Mythos 50 Jahre später eine große Wirkung und viel bewirkt wird, weil sich tausende Menschen gegenseitig begegnen im Namen eines Vertrages, der zum Mythos geworden ist. Also ich bin nicht gegen alle Mythen, aber ich versuche immer Mythen zu zerstören, denn mit Mythen baut man auch Fanatismen auf.

Was kann der moralisierende Einzelgänger leisten?

Es ist ein freudiges Einwirken auf andere, es ist ein freudiges Ein-sich-lassen auf sich selbst, man soll wissen, wer man ist, sich also nicht selbst aufgeben, in dem Willen, andere zu beeinflussen. Ich will beeinflussen und will mich beeinflussen lassen. Ich glaube, dieser Austausch ist unglaublich wertvoll. Einer meiner Freunde, ein großer Jesuit sagte, ich möchte, dass der andere sei, d.h. eine Persönlichkeit habe und das er anders sei als ich. Und ich tue diese Arbeit, wenn ich zu den Gymnasiasten in Deutschland und Frankreich gehe und schöne Dialoge führe, weil diese jungen Menschen nie eine dumme Frage stellen – im Gegensatz zu den Erwachsenen.

Ihre Autobiographie „Die Freude und der Tod“ beginnen Sie mit dem ausdrücklichen Hinweis auf eine, Ihre, glückliche Existenz, aber auch vom Tod ist die Rede. Gibt es da eine Dialektik? Wo steht der Aufklärer, dem jede Metaphysik fremd ist?

Nein, das Ende ist der Tod, dies habe ich entdeckt als ich neun war und mein Vater gestorben ist. Man darf keine Zeit vergeuden. Mit vielen Christen verbindet mich, dass man die Zeit nicht für Kleinigkeiten verschwenden soll. Der Tod ist für mich das endgültige Ende, weder hoffe ich auf mehr noch habe ich Schrecken davor. Es bleibt wenig Zeit, heute mit 88 setze ich alles daran, die Zeit intensiv zu nutzen.

Wie sehen Sie das deutsch-französische Verhältnis zur Zeit? Wie beurteilen Sie die Beziehungen zwischen Hollande und Merkel?

Da muss man zwischen unterer und oberer Ebene unterscheiden. Auf den unteren Ebenen, auf der Universität, der Schul- und Städteebene geht es sehr gut – hier gibt es viele Austauschprogramme in ganz Frankreich und auch die Forschungskooperationen sind besser als je zuvor. An der Spitze hingegen geht es nicht gut. Weil Hollande nicht den Mut hat das zu tun, was die Kanzlerin vorschlägt, nämlich zu sparen. Da ist der Name Schröder was Furchtbares, denn Schröder weißt darauf hin, das man weniger Lohn zahlen und die Altersgrenze nach oben schrauben und viele Einschränkungen machen muss. Wenn man auf Deutschland blickt, sollte man sagen, dass es bessere Verhältnisse zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmern in Frankreich geben soll, man sollte mittelständische Unternehmen wie in Deutschland fördern, ebenso die Forschung und nicht nur sparen. Hollande – bedrängt von seiner Linken innerhalb und außerhalb der Partei – hat nicht den Mut, etwas durchzusetzen. Und die Kanzlerin ihrerseits besteht auf einen Standpunkt, den heute niemand mehr teilt. Man kann nicht sagen, die Menschen in Spanien, Portugal und Griechenland sollen sich zu Tode sparen. Wo kommt denn das Geld her, damit sie wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben, um ihre Schulden zu bezahlen? Sie sollte wenigstens ein paar Worte des Mitleids zum Ausdruck bringen, des Verstehens für das große Leiden zum Beispiel der Jugendlichen in Spanien, von denen ein viertel arbeitslos ist, für die Spanier und Griechen also, bei denen die Gehälter um 40% gekürzt wurden. Da sehe ich ein immenses Leiden, eine immense Hoffnungslosigkeit – dafür Verständnis zu zeigen, dies ist der Kanzlerin bis heute nicht gelungen.

Sie haben immer für Europa gekämpft, ist die „Alternative für Deutschland“ eine Gefahr oder ist diese Partei nur eine vorübergehende Episode? Ist die Euro-Zone zu groß geworden?

Nein, es ist keine vorübergehend Episode. Es gibt eine gewisse neue Deutschlandfeindlichkeit oder Merkelfeindlichekit. Auch mit Blick auf die Wahlen im September hat die Kanzlerin, zusammen mit Cameron, den Anti-Europäer, in Brüssel gesagt, dass man noch mehr sparen muss, für einen Haushalt, der sowie so schon so winzig ist. Wo man doch einen enormen anderen Haushalt bräuchte, einen europäischen Haushalt unter europäischer Kontrolle, der überall investiert, damit die Wirtschaft wieder aufwärts geht. Aber solch einen Fond gibt es nicht und die Bundesrepublik wird ihn nie zugeben.


Ihnen ist soeben der Theodor Wolff Preis für Ihr Lebenswerk zugesprochen worden. Was bedeutet das für Sie?

Nicht nur die schöne Anerkennung von Seiten des Zeitungsverbands, wo ich doch nicht nur als Professor, sondern als Journalist gewirkt habe. Aber vor allem habe ich ja jahrzehntelang, in all meinen Vorlesungen über Weimar, von dem großen, von mir bewunderten Journalisten Theodor Wolff gesprochen, der 1933 aus seiner Zeitung hinausgeworfen wurde, während seine Bücher auf dem Scheiterhaufen landeten. Er ist von Frankreich nicht gut behandelt worden, wurde von den Italienern der Gestapo ausgeliefert und starb in einem KZ. Er glaubte wie mein Vater an die tiefe deutschjüdische Verbundenheit.


Herzlichen Dank für das Gespräch, das Dr. Dr. Stefan Groß führte.

Prof. Dr. Alfred Grosser, 1925, war Prof.em. am Institut d’études politiques, Paris, Präsident des CIRAC (Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine), Politischer Kolumnist für La Croixund Ouest-France, Friedenspreisträger (1975) des deutschen Buchhandels als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente“. Veröffentlichungen u.a.Verbrechen und Erinnerung, Mein Deutschland,Wie anders sind die Deutschen? Wie anders ist Frankreich?; Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Grosser erhielt u.a.: Grosses Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband, Grosskreuz des Ordre national du Mérite,Grand Officier de la Légion d’Honneur.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2127 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".