Wo wir stehen. Überlegungen zur gegenwärtigen Krise

Unser Land ist in eine tiefe Krise geraten. Diese Krise betrifft jedoch nicht nur die Finanzmärkte oder die Wirtschaft, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte. Ihre Ursachen liegen meiner Auffassung nach wesentlich tiefer. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise ist für mich in ihrem Kern eine Kulturkrise, weil die Gründe für ihre Entstehung in fast allen Gesellschaftsbereichen zu finden sind. Zusammengefasst lautet meine Diagnose: Wir haben in unserem Land über Jahre hinweg einer Kultur der entfesselten Konkurrenz und der daraus folgenden Verantwortungslosigkeit die Herrschaft überlassen. Marktradikalität, Deregulierung und Entstaatlichung, das wissen wir heute, sind nur andere Worte für eine unverantwortliche Laissez-faire-Politik. Deren Folgen bekommen wir nun eindringlich vorgeführt.
Wir haben in unserem Land über Jahre hinweg einer Kultur der entfesselten Konkurrenz und der daraus folgenden Verantwortungslosigkeit die Herrschaft überlassen.
Einen wirklichen Ausweg aus der Krise finden wir nur, wenn wir es wagen, ihre Ursachen ganzheitlich in den Blick zu nehmen. Von einer solchen systemischen Betrachtung sind wir momentan noch weit entfernt, denn wir konzentrieren uns auf die Zukunftsfähigkeit einzelner Branchen oder die Fehler einzelner Akteure. Individuelles Fehlverhalten und auch die individuelle Haftung steht bei vielen Managern außer Frage, doch wir müssen sehen, dass sie in einem System „funktioniert“ und gemäß dessen Regeln agiert haben. Handlungen, die aus heutiger Sicht zum Kollaps des globalen Finanzsystems geführt haben, wurden in diesem System jahrelang begünstigt und honoriert.
Deswegen ist auch die Gier, die jetzt überall angeprangert wird, das falsche Stichwort für die Aufarbeitung der Krise. Auch künftig kann und wird es in der Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht um die moralische Verdammung menschlicher Gier gehen. Wir müssen stattdessen politisch die Einhaltung von Regeln durchsetzen, welche die Transparenz und damit die Funktionsfähigkeit der Märkte sicherstellen. Und wir müssen dabei wieder für mehr Gerechtigkeit sorgen. Denn die Privatisierung der Gewinne bei gleichzeitiger Sozialisierung der Verluste ist ein Vorgang, den die Menschen nicht ewig hinnehmen werden.
Auch künftig kann und wird es in der Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht um die moralische Verdammung menschlicher Gier gehen. Wir müssen stattdessen politisch die Einhaltung von Regeln durchsetzen, welche die Transparenz und damit die Funktionsfähigkeit der Märkte sicherstellen.
Wenn also Analyse statt „Moralin“ gefragt ist, richtet sich diese Forderung zunächst an die Verursacher der Krise selbst. Das Vertrauen in die Finanzwelt kann erst wieder hergestellt werden, wenn sich die Verantwortlichen ihren Fehlern stellen und diese auch offen legen. Wir brauchen ernsthafte Beiträge aus dem Kreis der Finanzindustrie darüber, wie es eigentlich zur Krise kam und mit welchen Änderungen im System man einer Wiederholung vorbeugen kann. Die Minimalstandards sind hierfür schon häufig benannt worden: Dringend nötig sind Transparenz in den Bilanzen, das Verbot von Scheinbanken, die Austrocknung von Steueroasen, eine bessere Kontrolle der Finanzmärkte sowie eine Managervergütung, die sich auch an Prinzipien der Nachhaltigkeit orientiert.
Eine Aufarbeitung der Krise darf aber nicht bei den Banken und der Finanzwelt halt machen. Wir müssen fast alle gesellschaftlichen Bereiche einer Revision unterziehen: Im Zentrum steht für mich hier die Bildung. Leider setzen wir auch bei der Bildung seit langem nur noch auf die entfesselte Konkurrenz: gefördert wird vor allem, wer sich im Wettbewerb gegen die anderen durchsetzt. Damit haben wir eine Kultur geschaffen, die Bereicherung mit Leistung verwechselt und Egoismus zum Zentralprinzip allen Handelns erklärt. Egoismus ist aber nur dann moralisch zu rechtfertigen, wenn er im Ergebnis allen und nicht nur dem Einzelnen nutzt. Wir brauchen einen Neuanfang in der Bildung, der auf das Miteinander der unterschiedlichen Talente und Charaktere zielt. Unsere Institutionen müssen wieder echte Verantwortungsträger ausbilden. Dafür gilt es, das vorherrschende Effizienzprinzip in Bildung und Ausbildung zu durchbrechen und auf allen Ebenen wieder Freiräume für Nachdenken und spielerische Experimente zu schaffen. Nur so gewinnen wir Potenziale für Innovationen.
Eine Aufarbeitung der Krise darf aber nicht bei den Banken und der Finanzwelt halt machen. Wir müssen fast alle gesellschaftlichen Bereiche einer Revision unterziehen.
Handlungsbedarf sehe ich auch bei den Wirtschaftswissenschaften, die bei der Vorhersage der Krise versagt haben. Wir brauchen dringend eine Pluralisierung der Wirtschaftswissenschaften. Die Vielfalt der Ansätze und Betrachtungsperspektiven, welche gerade die deutsche Wirtschaftswissenschaft einst ausgezeichnet haben, muss sich auch bei der Besetzung von Lehrstühlen und im Ausbildungskanon widerspiegeln. Gerade viele der gängigen MBA-Programme sind reine „Karriere-Turbos“, die ihre Absolventen vielleicht in Unternehmen handlungsfähig machen, ihnen aber keine ethische oder politische Verantwortung nahebringen. Auch das hat zur Entstehung der gegenwärtigen Krise beigetragen.
Insgesamt gilt: Gemeinsam müssen wir gegen die Kultur der entfesselten Konkurrenz und der kollektiven Verantwortungslosigkeit angehen, die gerade die Eliten erfasst hat. Die laxen Haftungsregeln für Manager etwa sind schwer vermittelbar, wenn man sich überlegt, wie weit ein Hartz-IV-Empfänger sein Vermögen aufzehren muss, bevor er staatliche Unterstützung bekommt. Auch dies zeigt: Wir haben die Solidaritätsgefühle in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahren vielerorts durch eine Ethik der Leistung ersetzt, in der sich jeder selbst der nächste ist. Eine Klima des Egoismus aber schlägt schnell in eine Kultur der Verantwortungslosigkeit um. Wir müssen dieser die Prinzipien der Solidarität und der Gerechtigkeit entgegensetzen. Eigenverantwortung sollten wir künftig als Selbstbestimmung, nicht als Leistungszwang definieren.
Doch auch unser Denken müssen wir verändern und es wieder für die Vielfalt möglicher Zukunftsentwürfe öffnen. Durch die Orientierung an vermeintlichen Sachzwängen haben wir das Denken in Alternativen verlernt. Antizipierende Krisenbewältigung aber kann nur funktionieren, wenn man unterschiedliche Entwürfe und Modelle abwägt. Die Komplexität unserer globalisierten Welt verlangt, Ursachen und Wirkungen zu einem größeren Bild zusammenzusetzen, statt sich auf einzelne Mechanismen zu konzentrieren.
Wer das Land zu neuen Spitzenleistungen führen will, muss für eine neue Gemeinsamkeit sorgen. Hierzu gehört ein erneuerter Zusammenhalt der Menschen, aber auch eine neue, integrale Sichtweise auf Phänomene wie die momentane Krise.
Dies sind für mich die tieferen Ursachen der gegenwärtigen Krise. Wir haben gute Chancen sie zu bewältigen. Denn verletzt ist nicht die technologische Basis des Landes, auch nicht sein hohes Qualifikationsniveau in den akademischen und Facharbeiterberufen, zerstört sind auch nicht die Bande des kulturellen Kapitals. Viele Menschen sind allerdings verstört darüber, wohin wir und sie selbst geraten sind. Sie suchen nach Orientierung.
Wer das Land zu neuen Spitzenleistungen führen will, muss für eine neue Gemeinsamkeit sorgen. Hierzu gehört ein erneuerter Zusammenhalt der Menschen, aber auch eine neue, integrale Sichtweise auf Phänomene wie die momentane Krise. Die Schaffung und Bestärkung dieser Gemeinsamkeit ist das leitende Thema meiner Kandidatur. Sie in diesem Land zu verwirklichen würde ich auch als Bundespräsidentin als meine Aufgabe betrachten.
Mit freundlicher Genehmigung von Gesine Schwan

Finanzen

Über Schwan Gesine 2 Artikel
Prof. Dr. Gesine Schwan, geb. 1943, lehrte Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Von 1992 bis 1995 war sie Dekanin am Otto-Suhr-Institut. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind politische Theorien von Sozialismus und Marxismus sowie Philosophie. Gesine Schwan kandidiert 2009 erneut für das Amt der Bundespräsidentin.

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