Fee Katrin Kanzler. Ameisenschnee. Erzählungen. Ulm (danube books verlag)2025, 246 s. ISBN 978-3-946046-44-8. 24,70 EUR
Auf dem in einem Zitronen-Gelb gestallteten Buchumschlag mit dem weiß markierten Namen der Autorin und der Titelage Ameisenschnee sitzt sie: die Gemeine Rasenameise, die in den 26 Erzählungen des Erzählbandes dann und wann als imaginäre Figur auftritt. Welche Rolle sie in den ungewöhnlich gestalteten Erzählungen übernimmt, wird selbst aufmerksamen Leser /n/innen erst am Ende der Lektüre allmählich bewusst. Sind es etwa die „Krakenarme“, unmittelbar nach dem Inhaltsverzeichnis als Titel einer Erzählung benannt, die die düsteren Botschaften verkünden? In dem spanischsprachigen Zitat aus dem Werk der domenikanischen Schriftstellerin Rita Indiana Hernandiez zu Beginn der Erzählung „Kraknearme“ zeichnet sich eine erste Spur ab, in der sich eine Absicht der Erzählerin wahrnehmen könnte. Es sei ein Beruf, mehr noch, es sei eine Berufskrankheit von ihr, sich Menschen als Puppen vorzustellen. Und dieser Idee folgend entwirft sie ein Puppenhaus mit einem metaphorischem Alter Ego von ihr. Doch dieser Entwurf von einem „gläsernen Turm, wo du und ich und die anderen Anzugträger ihre Arbeitskraft einem internationalen Konzern zur Verfügung stellen (vgl. S. 7), erweist sich als ein Verfremdungseffekt, dem Leser/iinnen schwerlich folgen können. Es sind die folgenden Passagen mit der konkreten Beschreibung einer Villa mit installierten Puppen und den dort auftretenden männlichen Gestalten wie auch ein merkwürdiges U-Boot Modell mit „Leuchtdiolen für Farbwechsel und Tänzerinnen mit Nylonstrümpfen“ und „statt eines Rocks acht Krakenarme in Richtung Nord, Nordost, Ost, Südost und so weiter, wie auch männliche Figuren, die an Martini-Gläsern nuckeln,die die Neugier der weiblichen Erzählerin erregen. Sie schenkt auch den Tänzerinnen „mehr Aufmerksamkeit (soso) als den Krawattenträgern“. Die folgenden Ausführungen der Ich-Erzählerin enthalten Berichte über üppige Eß- und Trinkrituale, unterbrochen von Gesprächen, die sie mit „Puppen“ führt. Zwischendurch erfahren Leser/innen etwas über einen angeblich lebensverändernden Orgasmus „zwischen einem Mann und einer gewissen Barbara“. Solche raffinierten Verfremdungsefffekte könnten sicherlich routinierte Leser/innen verblüffen, wenn es sich nicht um die verächtliche Bewertung einer von reichen Männern inszenierten Orgien handelt. Diese von der Erzählerin ausgehenden Beobachtungen schließen auch verächtliche und bewundernde Blicke auf sich anbiedernde Tänzerinnen nicht aus. In dieser von Puppen wimmelnden Orgie verwandeln sich weibliche Körper in Sehmarionetten; stärkeren Eindruck hinterlässt die zweite Erzählung „Mächtige Männer warten lassen“. Hier geht es um Krishna, einen zu dünnen Säugling mit schwarzem Haarflaum“ (vgl. S. 20). Es ist, als ob “somebody else had written for me”. So lautet das die Erzählung einleitende Zitat, das von der us-amerikanischen Autorin Laurie Penny stammt. Sie hatte in ihrem 2017 publiziertem Buch „Bitch doktrin:gender macht doctrin“ radikal über fucked up girls geschrieben. Dort führt sie in eine Salon-Atmosphäre ein, die von lächerlichen Details geprägt ist. In diesen Erzählpassagen entwirft die Schriftstellerin eine Szenerie in einem Puppenhaus, in der die anwesenden Figuren für die Erzählerin nur noch als Puppenspieler/innen agieren. Am deutlichsten markiert sind sie in einer Seehundmarionette ,die aus mehreren Gliedern besteht, „die dich gegeneinander verschieben lassen“ In diesen Passagen zeichnet sich auch eine drastische Bewertung solcher orgiastischer Szenen ab.: „Auch mein herausgefauchtes Fick (…) hätte noch vor einem Jahr gute Chancen gehabt, dich zum Lachen zu bringen.“ (vgl. S. 17)
Die Beschreibung einer von orgiastischen Aktivitäten beherrschten Szenerie, die von superreichen Krösussen dominiert wird, ist auch das Thema von „Mächtige Männer warten lassen.“ (vgl. S. 20) Eingeleitet mit einem Zitat aus Laury Pennys („Sex Lügen und Revolution“), einer amerikanischen Schriftstellerin, ,die mit „Fleischmarkt,weibliche Körper im Kapitalismus“, über sexuelle Gewalt schonungslos geschrieben hat. In dieser Erzählung geht es um einen dünnen Säugling, der als heranwachsende junge Frau einen schönen körper hatte und deshalb für einen Fotografen Modell stand. Bereits mit siebzehn hatte sie soviel gespart,um sich eine eigene Wohnung zu mieten. Dann ging sie zu Modellcastings und als sie dann ein angemessene Honorare bekam, auch zu Pornodrehs, denn unterkühlter Sex langweilte sie, meint die auktoriale Erzählerin.
Bereits nach ihrem achtzehnten Casting wechselte sie die Wohnung, zog in ein anderes Stadtviertel, arbeitete als Messehostess. Und wie es in diesem Berufsfeld häufig vorkommt,lernte sie auch reiche und machtstrotzende Männer kennen und damit auch deren Umgangsformen. Bald beherrschte sie auch aus dem EFFeff ihre Allüren und Verhltensweisen, was sie veranlasste, sie an der langen Leine zu halten. Soweit so gut, solche Lebenslinien sind in x-beliebigen Sex-Magazinen nachzulesen. Mit einem wesentlichen Unterschied: Ihre frühe Karriere hatte einen Knick. Helgo Zättervall, ein vermögender Unternehmer, ging ihr insNetz. Er wollte Krishna heiraten, machte ihr einen leidenschaftlichen Hieratsantrag und kam (wohl kaum aus Kummer!) ums Leben, indem er sich auf die Schienen legte. Eine aufmerksame Lektüre dieser Passage kommt zu dem Ergebnis, dass die Autorin bewusst gängige Cliches bedient, wie z.B. derÜberlebenskampf zwischen der Witwe und der Geliebten des einstigen Krösus.
„Ameisenschnee“(vgl. S. 38) ist eine Erzählung, deren Titel in enger Verbindung mit der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie steht, aber nur eine vage thematische Beziehung zu Yoko, der Protagonistin in der Erzählung, entwickelt, die die Überschrift der vorliegenden Publikation trägt. Diese wird eingleitet mit dem Zitat: „Sei x eine Zahl“ Nach Ansicht der Schülerin Yoko ist es aber nur eine „mathematische Sprechweise“ , die erst in der folgenden Erzählung auftaucht, in der es um eine gewisse Bilge geht. Warum diese ihre Cousinen ärgert und einen Ethiklehrer fragt, wann der Mensch erwachsen wird, bleibt für den Leser ein Rätsel. Dann aber läuft eine für den Titel des Erzählbandes entscheidende Szene ab: Ein Schwarm lustiger Mädchen wird auf einer Wiese von Insekten attaktiert, aber erst in die folgende Erzählung „Yoko“ (vgl. S. 43) wird sie in den Erzählband mit einem Zitat aus der Feder der weltberühmten Tänzerin Josephine Baker wieder inden ERzählstrom eingebettet: „Art is an elastic sort of love“. Es ist ein passendes Motto, weil es die Idee von verschnörkelten Körpern mit der ewigen Sehnsucht nach Love verbindet. Es ist aber zugleich ein Sinnspruch, der den Titel dieses Buches aufgreift. Es sind missbrauchte weibliche Körper, gelenkt von Begierden und Machenschaften, von superreichen Krösussen gemietet, männlichen Begierden ausgeliefert. Diese verhängnisvollen Triebmechanismen sind auch in den folgenden Erzählungen thematisiert. Bereits IhreTitel bezeugen es: Dekadenzbestie, das Apokalyptofon, P, Nachtbaustellen, Pseudokrupp, Pauline.
Ein vorläufiges Fazit dieses einerseits weitläufig angelegten Erzählbandes, andererseits scharfsinnig argumentierenden Erzählband lautet: Seine thematisch zugeordneten, mit teils kamouflierten, teils verdeckten Argumentationsweisen ausgestatteten Texte hinterlassen aufgrund der offen dargelegten Problemfelder einen nachhaltigen Eindruck. Er ist getragen von den Szenen, in denen schonungslose Härte sich mit feinsinniger Ironie verbindet, harte,überzeugende Gesellschaftskritik am Spätkapitalismus offengelegt wird von einer illusionsloser Analyse,die die Beziehungen zwisch den Geschlechtern schonungslos offen legt. Dass auch kritische Stimmen aus dem afrikanischen Kontinent zitiert werden, verleiht dem Erzählband mit dem originellen Titel „Ameisenschnee“ eine Aussagekraft, die nicht zuletzt auch aufgrund seiner feinsinnigen Anspielungen entstanden ist. Glückwunsch an die Autorin für ihre mutige, wenn auch mit nicht immer überzeugenden, metaphorisch ausformulierten Argumente.