Zum Tode von Jorge Semprun (10. Dezember 1923 – 7. Juni 2011) – Ein Denker, wie ihn das 21. Jahrhundert so dringend bräuchte

Mit Jorge Semprun verliert Europa einen der größten Intellektuellen des Zwanzigsten Jahrhunderts, einen Schriftsteller und Denker, wie ihn das 21. Jahrhundert so dringend bräuchte. Größe bezeichnet hier nicht in erster Linie Erfolg, Zeitgeistkonformität, Berühmtheit, sondern bedeutet Klugheit im Sinne der Vermählung von Intelligenz und Moral und Wahrheit im Sinne von Wahrhaftigkeit. Intellektueller wird man nach Max Frisch nicht durch Gehabe oder auch nur überragende Intelligenz und Bildung (woran es Semprun nicht mangelte), sondern erst dadurch, daß man diese in den Dienst des Allgemeinwohls stellt.
Faschisten, Kommunisten und Nationalsozialisten mangelte es niemals an TUIs, wie Brecht die Mehrzahl der Angehörigen der Intelligenzija nannte, nützlichen Idioten, wie Lenin in dankenswertem Zynismus enthüllte, die bereit waren, die großen Führer zu verherrlichen, ihre Verbrechen zu rechtfertigen oder zu verharmlosen. Semprun, Sohn aus linksliberal-großbürgerlichem Hause, begann als idealistischer Kommunist. Und war doch kein „Salon-Bolschewik“. Der junge Spanier handelte nach bestem Wissen und Gewissen, schloss sich der französischen Résistance an, überlebte Verhaftung, Verhör und Folter und entstieg im Januar 1944 einem Viehwaggon – Endstation Buchenwald, das KZ auf dem Ettersberg bei Weimar. Seine Buchenwald-Romane Der Tote mit meinem Namen und Was für ein schöner Sonntag! muß lesen, wer das zwanzigste Jahrhundert nicht nur beschrieben, sondern auch verstanden wissen will. Denn Jorge Semprun gehörte nicht zur „Internationale der Einäugigen, die in einem Teil der Welt vehement beklagen, was sie im anderen rechtfertigen“ (Ralph Giordano). Er dachte nicht nur „antifaschistisch“, sondern antitotalitär. Er, der Buchenwald-Überlebende, solidarisierte sich mit Warlam Schalamow, dem Leidensgenossen von der Kolyma, er vergaß sie nicht – die sowjetischen Genossen, die bei der Befreiung Buchenwalds plötzlich selbst gemalte Stalinporträts hervorzogen, um kurz darauf in den Filtrationslagern der sowjetischen Geheimpolizei zu verschwinden.
Das wiedervereinigte Europa, bis heute geprägt von den Schreckensherrschaften Hitlers und Stalins, gekennzeichnet auch von geschichtspolitischen Gräben, braucht glaubwürdige Helfer beim schmerzhaften Prozeß des Zusammenwachsens. Jorge Semprun fehlt. Zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, am 11. April 2005 blickte er in die Zukunft:
„Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die Erzählungen aus Kolyma von Warlam Schalamow gerückt wurden. Das würde zum einen bedeuten, dass wir nicht länger halbseitig gelähmt wären, zum anderen aber, dass Russland einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in die Demokratisierung getan hätte.“
Es ist an uns, dieses Vermächtnis zu erfüllen und die halbseitige Lähmung endlich zu überwinden.

Siegfried Reiprich ist Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und war bis 2010 stellvertretender Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.

Lutz Rathenow ist Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen und Redakteur der Zeitschrift liberal. Bis zum 1. Mai 2011 war er freier Schriftsteller.

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