Flucht aus dem Alcatraz der DDR

Vor 55 Jahren gelang einem westdeutschen Insassen der einzig belegte Ausbruch aus dem berüchtigten Stasi-Gefängnis Bautzen II in Sachsen. Von Benedikt Vallendar.

 

Bautzen – Ganze neun Tage war Dieter Hötger in Freiheit. Bis ihn am Nikolaustag 1967 eine Polizeistreife nördlich von Bautzen aufgriff. Und die bis dahin wohl spektakulärste Flucht aus dem berüchtigten Gefängnis Bautzen II in Sachsen beendet war. Im Gefängnis Bautzen I sitzen bis heute gewöhnliche Kriminelle ein, während die Haftanstalt II in der Weigangstraße zu DDR-Zeiten den politischen Gefangenen vorbehalten war und heute eine Gedenkstätte ist. Mit einem Schraubenzieher hatte Hötger wochenlang am Mauerwerk seiner Arbeitszelle herum gekratzt und vorsichtig den Mörtel abgetragen, den er klammheimlich in der Toilette entsorgte. Vor der Wand stand ein Schrank, bei dem die Wärter zu träge gewesen waren, mal dahinter zu schauen. Hötger saß in Bautzen eine neunjährige Haftstrafe wegen „Menschenhandel“ und „Hetze“ ab. Beim Versuch, mehrere Personen nach West-Berlin zu schleusen, war er am 28. Juni 1962 aus der Waffe eines ostdeutschen Agenten schwer verwundet und vier Monate später vom Bezirksgericht Neubrandenburg verurteilt worden. Um den Anschein von Rechtstaatlichkeit zu wahren, hatten Sachbearbeiter der Staatssicherheit die Anklagepunkte vorformuliert und auch gleich den Bestrafungsrahmen festgelegt, was in der SED-Diktatur nichts Ungewöhnliches war. „Richter waren in der DDR nicht unabhängig, sondern meist willige Handlanger der Partei“, sagt die Potsdamer Historikerin Jenny Krämer.

Das Problem: Die Zellen in Hötgers Abteilung hatten die Wärter nur oberflächlich kontrolliert. Gleichwohl der kein Unbekannter war. Ein Fluchtversuch mit nachgemachten Schlüsseln drei Jahre zuvor scheiterte, weil Hötger von einem Mithäftling verraten worden war. Hötger galt als Draufgänger und Heißsporn, ein Mensch mit Zivilcourage und handwerklichem Geschick, der aus Liebe zu einer Frau alles auf eine Karte gesetzt hatte. Sein erster Fluchtversuch aus Bautzen II im Jahre 1964 endete mit Arrest und strenger Einzelhaft. Doch Hötger gab nicht auf. Auch weil er im tristen Gefängnisalltag zu versumpfen drohte. Noch heute ist in der heutigen Gedenkstätte die bedrückende Stimmung zu spüren, unter der die Häftlinge gelitten haben dürften. „Ich bekam eine Zellenarbeit zugewiesen und damit genug Zeit zum nachdenken und planen“, erinnert sich Hötger daran, wie seine Fluchtpläne nach und nach Gestalt annahmen. Eines Tages bemerkte er, dass die rechte Wand an seiner Zelle zugleich die Außenmauer des Gebäudes war, und dass er sich im Erdgeschoss befand. „Das Verletzungsrisiko beim Herausspringen war überschaubar“, sagt Hötger. Zum Aufbohren der Wand verwendete er Werkzeug, das sich bereits in seiner Arbeitszelle befand und das die Wärter ebenfalls nicht kontrollierten. Zupass kam ihm, dass der Mörtel in der Wand schon relativ weich und bröckelig war. „Zentimeterweise, immer damit rechnend, dass unerwartet jemand auftauchte, arbeitete ich mich vor“, beschreibt Hötger die Arbeit an dem Wandloch. Irgendwann hatte der gelernte Autoschlosser die Ziegelsteine in der Wand soweit freigelegt, dass er sie herausnehmen, hinter dem Schrank verstecken und mit einem Hammer die letzte Putzschicht von innen entfernen konnte. Dahinter lockte die Freiheit. Noch heute ist das originale und später von der Anstaltsleitung reparierte Loch, das „Tunnel-Dieter“ in die Außenwand von Bautzen II gebohrt hatte, als Zeitzeugnis hinter Plexiglas zu besichtigen.

Hötgers Flucht hatte etwas von einem Agententhriller: Am Morgen des 28. November 1967 wurde er gegen 4.30 Uhr wie immer in seiner Arbeitszelle eingeschlossen. Das Gute: Hötger kannte die Abläufe im Haus genau. „Da das Wachpersonal jetzt jeden Häftling, der in Einzelzelle saß, in seine Arbeitszelle bringen musste, wusste ich, dass mich jetzt aus Zeitgründen niemand beobachten würde. So klappte ich den Wandschrank hoch, befestigte daran eine Halteschnur und konnte so besser die letzten Arbeiten erledigen“. Hötger ließ sich aus fünf Metern Höhe in den Hof der Haftanstalt fallen und überquerte unbemerkt von Sicherheitsposten und Alarmanlage die Umwehrungsmauer des angrenzenden Polizeigeländes.

Allein in der Wildnis

Mit ein paar Fruchtbonbons in der Hosentasche und wenig Proviant lief der damals 29-Jährige im Schutz der Morgendämmerung davon. Im Schnellgang über Straßen und Wege, durch eine Gartenkolonie und rein in die Wälder. Doch die Probleme fingen nun erst richtig an. „Wo bin ich hier?“, fragte Hötger sich. Und wo ging es nach Westen? Orientierungslos und ohne Kompass streifte der Entflohene durch die herbstgraue Landschaft der Oberlausitz, während zugleich die bis dahin größte Fahndungsaktion der DDR anlief. Einheiten der Nationalen Volksarmee, Betriebskampfgruppen und hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit beteiligten sich daran, indem sie republikweit nach Hötger fahndeten. Mit Lautsprecherwagen, Handzetteln, Plakaten und Rundfunkdurchsagen wurde die Bevölkerung vor dem „gefährlichen Rechtsbrecher“ gewarnt. Eintausend Ost-Mark waren auf seine Ergreifung ausgesetzt. Die Bautzener erlebten Befragungen, Straßensperren und Hubschraubereinsätze. Plötzlich war das sonst so geheimnisumwobene Gefängnis im Bautzener Villenviertel in aller Munde. Doch Hötger blieb wie vom Erdboden verschluckt. Sein Problem: Er besaß keine Landkarte, und statt nach Westen lief er immer weiter nach Norden. Er war auf sich alleine gestellt. Ohne jede Hilfe wollte Hötger durch den Bezirk Cottbus zur Staatsgrenze nach West-Berlin gelangen und dort im Raum Teltow nach einer geeigneten Grenzdurchbruchsmöglichkeit suchen. „Tagsüber verbarg ich mich in Wäldern, nachts irrte ich umher. Unterwegs fand ich auf Feldern Mohrrüben, Kohl und Chausseeäpfel“, beschreibt Hötger die Tage seiner Flucht aus Bautzen II. Am sechsten Tag war er völlig erschöpft, durchnässt, durchgefroren und hungrig. Um neue Kräfte zu sammeln verbarg er sich zwei Tage lang auf dem Werksgelände eines volkseigenen Betriebes, wo sich Hötger mit Bouletten, Äpfeln und einem Laib Brot eindeckte. Eine hochbetagte Sorbin habe ihn mit Schnitten, warmer Kleidung und heißem Tee versorgt, erinnerte er sich später an die eher angenehmen Einzelheiten seiner Flucht, die kurz darauf zu Ende war. Unter hämischem Gelächter der Aufseher musste Hötger zurück in seine Zelle und bekam zur Strafe noch einmal acht Jahre extra aufgebrummt. Die Tatvorwürfe waren auch hier von der Staatssicherheit konstruiert worden, entsprechend wurde das Urteil nach der Wende aufgehoben. Unterdessen Dieter Hötger nach 1967 noch mehrere Jahre in Bautzen II einsitzen musste, davon einen Teil in Isolationshaft. Erst 1972 wurde er von der Bundesregierung freigekauft, arbeitete anschließend als kaufmännischer Angestellter und lebt heute mit seiner Familie in Berlin. Seine erste Frau, für die er alles riskiert hatte, sagte sich noch während der Haftzeit von ihm los. 1966 wurde die Ehe geschieden.

Hausrecht bei der Stasi

De facto stand das Gefängnis Bautzen II seit 1956 unter Kontrolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), gleichwohl die Wärter gewöhnliche Volkspolizisten waren und auf der Gehaltsliste des DDR-Innenministeriums standen. Doch das Sagen hatte in Bautzen II allein die Stasi, die über inoffizielle Mitarbeiter und so genannte „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE) in den Gefängnisalltag hineinregierte. In Personalunion war der Anstaltsleiter zumeist auch Mitarbeiter der Staatssicherheit, von wo er seine Direktiven bekam. Bis hin zu Besuchszeiten, Mahlzeiten und zu Fragen der Anstaltskleidung regelte die Stasi das Leben in der Bautzener Haftanstalt, die bis 1989 als Inbegriff kommunistischer Willkürherrschaft galt. Das Besondere: Bautzen II war ein Sondergefängnis voll mit Häftlingen, vor denen die SED mehr Angst hatte als vor gewöhnlichen Mördern, Dieben und Betrügern. Denn die, die dort einsaßen, sägten mit ihrem Tun an den Grundfesten der SED-Diktatur, indem sie laut dachten, schrieben und das System einfach nur satt hatten. Unter ihnen der Philosoph und spätere Mitbegründer der Grünen, Rudolf Bahro, der für sein staatskritisches Buch „Die Alternative“, das im Westen erschienen war, zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde, von denen er fast zwei in einem streng abgesonderten Gebäudebereich verbrachte, wo er sich vor allem mit religiösen und ökologischen Fragen beschäftigte. Auch Prominente wie Walter Janka, der Schriftsteller Erich Loest („Nikolaikirche“) und der ehemalige Außenminister Georg Dertinger (CDU) waren in Bautzen II inhaftiert. Dertinger konvertierte in Bautzen II zum römisch-katholischen Glauben und starb 1968 an den Folgen seiner Haftzeit.

Alcatraz der DDR

Die Flucht aus Bautzen II galt gemeinhin als aussichtslos. Dennoch kreisten die Gedanken vieler Häftlinge unablässig um diesen Punkt. „Irrwitzige Varianten von Fluchtplänen wurden gedanklich durchgespielt und wieder verworfen“, erinnert sich der spätere Deutschlandfunkredakteur Karl-Wilhelm Fricke, der insgesamt vier Jahre in Bautzen II inhaftiert war. Agenten der DDR-Staatssicherheit hatten ihn, den erklärten Antikommunisten und engagierten Publizisten, zuvor in den Osten entführt und seine Verlobte und heutige Ehefrau tagelang in Unwissenheit gelassen.
Von Hötgers Flucht im November 1967 waren Staatssicherheit und Gefängnisleitung völlig überrascht. Für sie bis dahin Unvorstellbares war Wirklichkeit geworden: Die nicht für möglich gehaltene Flucht aus dem Alcatraz der DDR. „Die Stasi-Hauptabteilung IX, zuständig für Ermittlungen, ordnete zusätzliche Sicherungsmaßnahmen an“, sagt der Erfurter Theologe Matthias Wanitschke, der sich in seiner Dissertation mit dem Menschenbild der DDR-Staatssicherheit beschäftigt hat. Schließlich war mit Dieter Hötger einem Insassen die Flucht aus dem Allerheiligsten der Stasi gelungen. Ein Fauxpas, der sich nicht wiederholen sollte. Künftig durften Außenzellen DDR-weit nicht mehr mit Häftlingen belegt werden; Außenwände wurden sichtfrei gehalten, Werkzeuge mit Nummern erfasst und das Wachpersonal einer intensiven Schulung unterzogen. „Offensichtlich waren die Sicherungsmaßnahmen erfolgreich“, sagt Wanitschke. Denn die Flucht Dieter Hötgers blieb ein Einzelfall; ebenso die DDR, die seit 1990 nur mehr eine Fußnote in der deutschen Geschichte ist.

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Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.