Aufstieg und Fall eines Karrieristen – Das Drama „Julien – Rot und Schwarz“ von Lukas Bärfuss

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Am 16. Januar 2020 wurde am Theater Basel das Schauspiel „Julien – Rot und Schwarz“ von Lukas Bärfuß uraufgeführt. Es handelt sich dabei um eine Adaption des berühmten Romans und Weltklassikers „Rot und Schwarz“ von Stendhal aus dem Jahre 1830. Warum wählte Lukas Bärfuss besonders diesen Roman für seine Überarbeitung zu einem Schauspiel? In einem Interview gab Lukas Bärfuss selbst die Antwort: „Die Figur des Julien hat sehr viel mit mir zu tun.“ Er habe diesen Roman mehrmals gelesen und sich mit der Hauptfigur des Julien identifiziert.

Lukas Bärfuss ist wie Julien ein Aufsteiger. In seiner Jugend hatte er die Schule abgebrochen, war lange Zeit Außenseiter und obdachlos. Er schlug sich jahrelang mit Gelegenheitsjobs durch. Mit seinem aufkommenden Interesse für Bücher und für das Schreiben kam es in seinem Leben zu einer erstaunlichen Wende. Er wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet und erhielt im Jahr 2019 den angesehensten deutschsprachigen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis.

Unter der Regie von Nora Schlocker entstand nun auf der Bühne ein Drama, das sowohl in der Handlung als auch im Bühnenbild und in den Dialogen sehr an der gesellschaftlichen Situation Frankreichs vor 190 Jahren verhaftet bleibt. Lukas Bärfuss hat bewusst darauf verzichtet, seine Adaption in die moderne Welt zu aktualisieren oder ins Heute zu transferieren.

 

Inhalt und Handlung

Julien ist der Sohn eines Sägewerkbesitzers, der von seinem Vater misshandelt, schikaniert und geschlagen wird. Julien verachtet die Welt des Vaters und entschließt sich mit 14 Jahren Priester zu werden, um dem Vater zu entfliehen. In der damaligen Zeit haben viele Bauernsöhne diesen Weg gewählt, um aus ärmlichen Verhältnissen in eine bessere Lebenssituation zu kommen. Julien lernt die Bibel auswendig und wird vom lokalen Priester unterrichtet, gefördert und schließlich als Hauslehrer in das Haus des Bürgermeisters vermittelt. Dort begann Julien bald eine Liebesaffäre mit der Ehefrau des Bürgermeisters, Madame de Renal. Als die Affäre aufflog, musste Julien das Haus verlassen und ging in ein Priesterseminar. Von dort wurde er nach Paris in das Haus des Diplomaten Marquis de la Mole vermittelt. Auch hier verstrickte sich Julien in eine Liebesaffäre mit der Tochter des Marquis, Mathilde. Als sie schwanger wurde, entschloss sie sich, dem Vater die Beziehung zu gestehen. Nach einem ersten Entsetzen heckte der Vater den Plan aus, Julien eine falsche Identität als adliger Offizier zu geben und dann einer Heirat zuzustimmen, die nicht den Ruf des Hauses gefährden würde. Zuvor wollte er sich jedoch über das Vorleben von Julien erkundigen. Im Antwortbrief von Madame de Renal, der Ehefrau des Bürgermeisters, wurde Julien sehr schlecht als Herzensbrecher und Ehebrecher dargestellt. Als Julien von diesem Brief erfuhr, sah er plötzlich den Erfolg seiner jahrelangen Bemühungen gefährdet. Mit großem Ehrgeiz hatte er seinen Aufstieg vorangetrieben und kurz vor Erreichen seines Zieles – der Aufnahme in die adlige Welt und gehobene Gesellschaft – sollte er nun zu Fall kommen. Julien war gekränkt, wütend und voller Rachegefühle. Er fuhr in den Ort des Bürgermeisters und schoss auf Madame de Renal. Diese überlebte zwar ihre Schussverletzung, Julien kam jedoch ins Gefängnis und wurde hingerichtet.

 

Lukas Bärfuss zu „Julien – Rot und Schwarz“

Für das Programmheft des Theaters Basel hat Lukas Bärfuss eine sehr lesenswerte Darstellung seines Schauspiels gegeben. Sie lautet wie folgt:

„Julien ist klug, zart, schön. Der Vater schickt ihn zu den Pfaffen, damit sie ihn glattbügeln und er ihn verkaufen kann. Als Hauslehrer an den reichsten Mann im Dorf, den Bürgermeister. Seine Frau ist dreissig, aber schon tot. Gestorben an ihrer Ehe. Das Einzige, was sie ihm geben kann, ist ihr Körper. Er braucht jetzt eine Leiter, er braucht Intrigen. Er lernt schnell die Techniken der Täuschung. Dabei begegnet er dem Menschen, seiner Hinterlist, seiner Schwäche. Die Leute staunen über Julien. Er kann die Bibel auswendig hersagen. Er denkt schwer. Man hat ihn verkauft. Er ist beleidigt, er ist stolz, und er will nach oben. Er muss aus dieser Provinz verduften. Weg von dieser Frau. Er verschwindet in die Lichter der Hauptstadt, in das Haus eines Königsmachers. Seine Tochter sucht sich ein Spielzeug. Sie würde ihn vorziehen diesen Schwammköpfen, die vor ihr die Runde drehen, die Abkömmlinge sterbender Geschlechter. Er wird sich seine Ambitionen nicht ruinieren. Er wird kalt und kälter, bis das Eis seiner Zeit sein Herz ganz gefroren hat. Und damit hat er Erfolg. Der Marquis glaubt, ein Mann mit kaltem Blut wird ihm nützlich sein. Julien bekommt die Hand seiner Tochter. Und er wird bald seinen Kopf verlieren. Denn die Leidenschaft, dieses Übel, das heisse Blut, der Samen, der gleichzeitig Kinder und Rachsucht zeugt – die alten Geschichten, die ehrlichen Wunden in einem falschen Herz, oder die falschen Wunden in einem ehrlichen Herz, sie werden ihn den Kopf kosten, schon bald. Was bringt ihn um? Rache? Seine rohe Wut über den Verrat? Die Unmöglichkeit der Liebe? Hat er es verdient? Sein Schicksal? Julien will die Verräterin durch einen Schuss ins Herz aus der Welt der Sterblichen entfernen. Die Richter hätten es Julien vielleicht nachgesehen, wenn sein Opfer nicht den Altar mit seinem roten Saft beschmiert hätte. Brennende Herzen, heisse Küsse, Schüsse in einer Kirche! Der Kopf, der solchen Unsinn wälzt, gehört abgeschlagen.“

 

Der unaufhaltsame Aufstieg – die Karriereleiter nach oben

Der rote Faden und die zentrale Dynamik dieses Dramas ist der absolute Aufstiegswille von Julien. Diesem Ziel ist alles andere untergeordnet. Die Verstrickungen, die Liebesaffären bedeuten ihm wenig. Er setzt vielmehr die Frauen als Mittel für seine Zwecke ein. Sie sollen ihm bei der Entwicklung seiner Karriere nützlich sein. Im Aufwärtsstreben ist er ein großer Opportunist und Egoist. Dabei bleibt er kühl und leer – er hat ein kaltes Herz – wie es auch Lukas Bärfuss selbst beschrieben hat. Gerade weil Julien seine gesamte Kindheit unter den ärmlichen Verhältnissen seines Vaters furchtbar gelitten hat, wollte er endlich bei denen „da oben“ dazugehören: in der Welt der Adligen und Reichen. Doch kurz bevor er sein ehrgeiziges Ziel erreicht hat, kommt es zum jähen Absturz. Als er vom Brief von Madame de Renal erfährt, sieht er sein ganzes Lebenswerk zerstört. Erstmals wird der sonst kühl berechnende und kaltherzige Julien von massiven Gefühlen und Affekten gejagt: Kränkung, Wut und starke Rachegefühle. Mit dem Mordversuch aus Rache an Madame de Renal besiegelt er schließlich sein Schicksal und wird hingerichtet.

Die Männer sind ganz in der Vertikalen aufgespannt – die Frauen in der Horizontalen

Über lange Zeit des Dramas imponieren die Frauen und ihre Liebesaffären. Die Männer sind dagegen blass und relativ hilflos. Die meiste Dynamik geht von dem emporstrebenden Ehrgeizling Julien aus. Der Bürgermeister ist ängstlich besorgt auf Machterhalt und Besitzstandwahrung aus. Der Marquis de la Mole hingegen hat noch mehr floride Angst und fühlt sich bedroht. Er hat massive Abstiegsängste und ahnt, dass die gute Zeit für Adlige bald vorbei sein wird. Gegen Ende des Dramas kommt er zu folgenden Erkenntnissen: „Ich kann nichts mehr werden … Ich bin der Endpunkt einer Entwicklung.“

Im Gegensatz zu den Männern sind die weiblichen Figuren des Dramas wendiger und vitaler. Die Ehefrau des Bürgermeisters, Madame de Renal, war durch ihre langweilige Ehe schon fast verwelkt. Julien ist es bald gelungen, neue Liebe in ihr zu erwecken, unter der sie aufblühte und auflebte. Sie merkte aber zu spät, dass ihre Liebe einseitig ist, dass Julien eigentlich zu liebevoller Hingabe und Erwiderung ihrer großen Gefühle gar nicht in der Lage ist. Er hat eben ein kaltes Herz. Einer ähnlichen Selbsttäuschung erliegt die Tochter Mathilde des Marquis de la Mole. Insofern drehen sich Frauenfiguren lebhaft im Kreis und bleiben in der horizontalen Lebensbewegung verhaftet.

 

Das kalte Herz und die „Leere in der Brust“

Julien ist in einer Welt ohne Liebe und Zärtlichkeit aufgewachsen. Die „Spiele der Erwachsenen“ – und damit auch das Spiel des Begehrens – hat er sich durch seine große Beobachtungsgabe und Intelligenz sekundär erschlossen. Er hat die Spiele des Begehrens nachgeahmt, so wie er es bei anderen gesehen hat. Und er war damit sehr erfolgreich. Für ihn waren und blieben aber die Frauen Mittel zum Zweck für seinen ehrgeizigen Aufstiegswillen. Julien hat gelernt, wie es gelingt, Liebe zu erwecken und Frauen zu verführen. Er kann aber selbst nicht lieben. Er ist zu liebender Hingabe nicht fähig. Dies wird ihm am Ende des Dramas selbst bewusst, wenn er selbstkritisch bekennt: „Leer ist es in der Brust, im Himmel, überall …“

 

Julien – ein Narzisst?

Die Leere des Herzens, das kalte Herz, die Unfähigkeit, empfangene Liebe zu erwidern und der Mangel an liebevoller Hingabe werden in der heutigen psychologischen Analyse von Liebesbeziehungen sehr schnell mit Narzissmus in Verbindung gebracht. Dies erschiene auch plausibel, ist aber weder bei Stendhal noch bei Lukas Bärfuss von größerer Bedeutung. Beide verstehen sich als Verfechter des literarischen Realismus und sie versuchen weitgehend, auf psychologische Deutungen zu verzichten. Der Sprachduktus von Lukas Bärfuss ist überwiegend nüchtern, rational, manchmal lakonisch, sarkastisch oder provozierend. Er drückt auf diese Weise seine Wahrnehmungen und Sichtweisen aus, ohne auf psychologische Deutungen zurückzugreifen.

Das Aufsteiger-Epos „Johann Holtrop“ des Büchner-Preisträgers Rainald Goetz

Der Büchner-Preisträger Rainald Goetz schrieb ebenfalls ein Aufsteiger-Epos. Vier Jahre vor Lukas Bärfuss hat der deutsche Schriftsteller Rainald Goetz den Georg-Büchner-Preis verliehen bekommen. Das Hauptwerk von Rainald Goetz ist ebenfalls ein Aufsteiger-Epos. Es heißt „Johann Holtrop“ und ist im Jahr 2012 erschienen. Darin beschreibt Rainald Goetz den Aufstieg und Fall von Thomas Middelhoff. Dieser galt lange Zeit als einer der erfolgreichsten Manager Europas, erhielt viele Auszeichnungen und landete schließlich im Jahr 2014 als Betrüger und Wirtschaftskrimineller im Gefängnis (vgl. Csef 2020). Im Gegensatz zu Lukas Bärfuss verfolgte Goetz einen psychologischen Realismus. Ihm geht es sehr um die Tiefenanalyse und psychologische Deutung dieses Charakters, der so grandios aufgestiegen und so grandios gescheitert ist. Dass Rainald Goetz psychologische Deutungen bevorzugt, ist biographisch verständlich: Er ist selbst Arzt, hat jahrelang in der Psychiatrie gearbeitet und hat sich intensiv mit Psychologie und Psychiatrie auseinandergesetzt.  Der Roman „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz und das Drama „Julien – Rot und Schwarz“ von Lukas Bärfuss ergänzen sich komplementär. Ein Vergleich macht deutlich, dass die Strategien des Aufstiegs und die Psychopathologie des Aufsteigers im 19. und im 21. Jahrhundert sehr ähnlich sind. Beide „Helden“ – Julien Sorel und Johann Holtrop – scheitern tragisch. Aufstieg und Fall sind ein dramatisches Ganzes. Sie gehören zusammen: Die Hybris des egoistischen rücksichtslosen „unmoralischen“ bis kriminellen Aufstiegs bereitet den jähen Absturz im Scheitern vor: Hochmut kommt vor dem Fall.

Literatur:

Bärfuss Lukas (2018) Krieg und Liebe. Essays. Wallstein, Göttingen

Bärfuss Lukas (2020) Porträt von Julien, Programmheft Theater Basel, Januar 2020

Csef Herbert (2019) „Jeder meiner Fäden führt zu einem Massengrab.“ Die Büchner-Preisrede von Lukas Bärfuss. Tabularasamagazin

Csef Herbert (2020) Thomas Middelhoff – Psychogramm eines gescheiterten Narzissten. Springer-Verlag, Wiesbaden

Goetz Rainald (2012) „Johann Holtrop“. Abriss der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt, Berlin

Schulte Bettina (2020) Lukas Bärfuss: Julien – Rot und Schwarz. Die Deutsche Bühne vom 16.1.2020

Spirgi Dominique (2020) Frenetischer Applaus für Lukas Bärfuss: „Julien – Rot und Schwarz“ feiern Premiere im Theater Basel. Bz vom 18.1.2020

Weidacher Laura (2020) Geliebtes Monster. Schauspiel. Journal 21 vom 19.1.2020

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef, Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Zentrum für Innere Medizin, Medizinische Klinik und Poliklinik II, Oberdürrbacherstr. 6, 97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

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Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.