Die demokratische Mitte überzieht sich gegenseitig mit schlimmsten Vorwürfen. Demonstriert wird an den Parteizentralen der CDU, nicht der AfD. Überall nur Empörung. Wem soll das bitte nützen? Okay, Alice im Wunderland, aber wer sonst hat davon etwas?
Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, die Parteien der demokratischen Mitte würden versuchen zu verstehen, was die andere Seite in diesem Streit so aufregt? Auch vor der eigenen Tür kehren könnte helfen.
Aus Sicht von Grünen und SPD hat die Union „das Tor zur Hölle“ geöffnet. Bei aller sprachlichen Übertreibung steckt dahinter eine Überzeugung, die ja auch Angela Merkel und Michel Friedman teilen: Niemals wieder sollen Parteien, die Faschisten und Nazis, gesichert Rechtsextreme und Verfassungsfeinde in ihren Reihen haben, an die Macht gelangen. „Wehret den Anfängen“ heißt daher: Auch keinen Zipfel der Macht für die AfD. Wenn nur die Stimmen der AfD einem Gesetz zur Mehrheit verhelfen, müssen die anderen Parteien solange miteinander verhandeln, bis sie eine Mehrheit ohne die AfD zusammen haben. Das ist ehrenwert. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Aus Sicht von Union und wohl auch FDP muss die Politik endlich die Probleme der Migration lösen. Nach Aschaffenburg sollten die Forderungen des Zustrombegrenzungsgesetzes einfach nur eine Selbstverständlichkeit sein. Mehr Kompetenzen für die Bundespolizei, das Wort „Begrenzung“ wieder ins Einwanderungsgesetz hineinschreiben und Familiennachzug stoppen. Nichts davon hat irgendetwas mit Nazis zu tun, das gab es alles schon mit der SPD vor kaum zehn Jahren.
Es geht dabei beiden ums Prinzip. Die einen wollen niemals einen Zipfel der Macht für eine Partei, die Zweifel an ihrer Verfassungstreue nicht ausräumen kann oder ausräumen will. Die anderen wollen Sicherheit und Ordnung und da auch keine Kompromisse mehr machen.
Fatal verheddert haben sich beide Seiten, weil sie nicht bereit waren, auf die anderen zuzugehen. SPD und Grüne sagen nun, die Union hätte ein Gesetz mit Hilfe der AfD beschließen lassen. Die Union sagt, wir haben lediglich für ein Gesetz gestimmt, das so zwingend notwendig ist, dass mindestens die SPD hätte zustimmen müssen. Und letztlich nutzen SPD und Grüne die AfD, um zu verhindern, dass ihre Minderheitenposition im Parlament überstimmt wird.
Der Grund für die Unversöhnlichkeit ist nur der Wahlkampf. Die Union und Friedrich Merz wollten beweisen, dass es Ihnen Ernst ist und sie nicht nur leere Versprechungen machen. SPD und Grüne wollen auf keinen Fall den Teil Ihrer Wähler vergrätzen, die als Minderheit in Deutschland Verschärfungen des Asylrechts immer noch vehement ablehnen.
Jeder kennt das. Nur wenn einer in einem fundamentalen Streit nachgibt, kann das Familienfest gerettet werden. Wenn keiner nachgibt, ist der Hausfrieden zerstört, das Fest fällt aus. Man giftet sich an und macht nur noch Schuldzuweisungen. Zum Streit gehören bekanntlich zwei.
Warum war es nicht möglich, dass Friedrich Merz zumindest die Abstimmung über das Gesetz abgeblasen hat und dazu einfach sagte: „Aus der Opposition heraus war es mir nicht möglich, diese dringend notwendige Reform durchzusetzen. Nach der Wahl wird es eine Mehrheit für weitreichendere Reformen geben und die setze ich ohne Kompromisse durch.“
Warum war es nicht möglich, dass Olaf Scholz sagte: „Aus staatspolitischer Verantwortung haben wir den Antrag der Union aufgegriffen und Verbesserungen für Sicherheit und Ordnung im Sinne aller beschlossen. Unser Land ist in so vielerlei Hinsicht in Gefahr. Wir müssen zusammenhalten und dazu gehört auch die Rücksicht auf jene übergroße Mehrheit, die an der Migrationspolitik über das Land zu verzweifeln droht.“
Beide Seiten hatten gute Optionen, den maximalen Schaden für die demokratische Mitte zu verhindern. Beide haben sie aus Rigorismus verpasst. Gesinnungsethik hat bei Merz wie bei Scholz über Verantwortungsethik gesiegt. Verloren hat die Republik.
Für Friedrich Merz kommt hinzu, dass seine Taktik nicht aufgegangen ist. Das ist bedenklich für den wahrscheinlich nächsten Kanzler. Man darf von einem Parteivorsitzenden erwarten, dass er die Ehrenvorsitzende so weit einbindet, dass sie keinen Dolchstoß gegen ihn führt. Man darf erwarten, dass er einen Gesetzentwurf im Bundestag nicht nur als Showantrag einbringt, sondern mit Aussicht auf Erfolg. Den gab es aber nicht mal im Bundesrat, weil sogar CDU-Ministerpräsidenten von der Fahne gingen. Das wirkt auf mich reichlich dilettantisch.
Nach vorne geschaut: Wir sollten anerkennen, dass der materielle Gehalt des Zustrombegrenzungsgesetzes wirklich nicht skandalös war. Und wir sollten anerkennen, dass jede Beteiligung der AfD an der Macht, die Gesellschaft und wohl auch die Union zerreißt. Vielleicht gibt es dann nach der Wahl mit kühlem Kopf doch eine Regierung, die endlich die notwendigen Reformen angeht. Wer „zusammen“ als Wahlplakat nutzt, muss auch mit der Union zusammen bleiben. Ach ja, die wichtigste Nachricht, dass wir wieder über drei Millionen Arbeitslose haben könnten, wenn die Wirtschaft nicht bald wieder anspringt, hat keinen interessiert. Oder?
Quelle: Facebook