Der spiegelnde Spiegel

Zum Problem des Absoluten in Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, zweiter Vortrag.

Das Frühjahr 1801 war in mehrfacher Hinsicht für Jena von Bedeutung. Nicht nur kam im Januar Schellings ehemaliger Studienkamerad Hegel nach Jena, sondern es erschien im Frühjahr 1801 auch Schellings erste identitätsphilosophische Druckschrift „Darstellung meines Systems“. Schon der Titel macht unmißverständlich klar, daß es hier nicht um Philosophie überhaupt geht, sondern um Schellings eigenen Entwurf eines Systems. Ganz folgerichtig nimmt dann auch die „Vorerinnerung“ des Systems von 1801 eine mögliche Abgrenzung von Fichtes philosophischem Standpunkt – für Schelling ist dies die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 – vor. Schelling schreibt hier: „Fichte z.B. könnte den Idealismus in völlig subjektiver, ich dagegen in objektiver Bedeutung gedacht haben; Fichte könnte sich mit dem Idealismus auf dem Standpunkt der Reflexion halten, ich dagegen hätte mich mit dem Princip des Idealismus auf den Standpunkt der Produktion gestellt“. (IV, 109)[1] Freilich formuliert Schelling vorsichtig, Fichte 'könnte' auf dem Standpunkt der Reflexion stehen. In dieser vorsichtigen und andeutenden Formulierung spricht sich die Hoffnung Schellings aus, durch den Standpunkt, wie er ihn mit der identitätsphilosophischen Schrift „Darstellung meines Systems“ bezogen hat, mit Fichte in Einklang zu gelangen. Jedoch täuschte sich Schelling mit seiner Hoffnung. Fichtes Antwort auf Schellings System von 1801 war vernichtend. Das Absolute, von dem Schelling in jener Darstellung spricht, ist in der Perspektive Fichtes „überhaupt gar kein möglicher Gedanke, sondern nur eine finstere Ausgeburt“ seiner „schwärmenden Phantasie“. (SW VIII, 363)[2]

Was Fichte an Schellings Ansatz kritisiert, ist die über sich selbst im unklaren verbleibende Reflexion, die vermeint, die Reflexion hinter sich gelassen zu haben. Der Reflexion ist nicht zu entrinnen, und daher kann Fichte als Haupteinwand gegen Schelling die Verobjektivierung der Vernunft erklären. Das Absolute ist nur im Gedanken zu vergegenwärtigen, da es selbst die Wahrheit des Denkens ist. Aber jeder Gedanke verobjektiviert das Absolute und verfehlt es damit. Wie ist mit diesem Dilemma umzugehen?

Über das Zutreffen von Fichtes Einwand ist hier nicht zu streiten. Was uns hier interessiert, ist die Frage, wie Fichte mit dem Problem des Absoluten umgeht. Seine Konzeption des Absoluten, wie sie in der Wissenschaftslehre von 1804 durchgeführt ist, bekommt ihre besondere Würze dadurch, daß sie als Gegenentwurf zu den philosophischen Entwürfen der Jenenser Fraktion von Schelling und Hegel zu lesen ist. Insofern haben wir es hier mit einer Reaktion auf das für Jena so bedeutungsvolle Frühjahr 1801 zu tun.

Mit Fichtes Systementwurf von 1804, der im Folgenden in seinem entscheidenden Gedankengang rekonstruiert werden soll, liegt eine Theoriegestalt vor, die als eine eigenständige Endgestalt des idealistischen Denkens betrachtet werden kann.

Über die Schwierigkeit der Wissenschaftslehre auf ihrem Weg zum Absoluten als Prinzip des Wissens bemerkte Fichte einmal:

„Dieser Einheitspunkt kann nun allerdings unmittelbar, und in demselben verschwebend und aufgehend realisirt werden, und was wir als W.=L. innerlich (ich sage innerlich, und uns selber verborgen) sind, ist diese Realisation; aber er kann in seiner Unmittelbarkeit nicht ausgesprochen oder nachconstruirt werden; denn alles Aussprechen oder Nachconstruieren = Begreifen, ist in sich mittelbar.“ (33 = SW X, 114f.)[3] In prägnanter Weise wird in dieser Passage aus dem wichtigen vierten Vortrag die Lagerung des Problems benannt. Worin besteht die Schwierigkeit? Sie besteht grob gesagt im Problem des Bewußtseins selbst. Ist es nämlich die Aufgabe der Wissenschaftslehre, die absolute Einheit aufzusuchen, so findet sie faktisch immer eine Differenz vor. Diese Differenz, die sich faktisch einstellt und welche erhellt werden soll, läßt sich beschreiben als eine Differenz von Vollzugsaktualität und Bestimmtheitsmoment. Für den Denkvollzug ist jene Differenz konstitutiv. Besteht die Eigentümlichkeit des Denkens gerade darin, daß es eine Aktualität im Vollzug ist, so ist es doch nur in der Bestimmung oder im Gedanken 'Denken' zu vergegenwärtigen. Aber eben in dem Gedanken 'Denken' ist es nicht mehr die Aktualität des Vollzuges, die mit Denken eigentlich gemeint ist. In einer näher auf Fichte zurückkommenden Terminologie kann man sagen, in der Vergegenwärtigung des Vollzuges des Begreifens im Begriff entzieht sich der Vollzug immer dem Begriff.Gleichwohl ist der Begriff Produkt des Begreifens, und zwar so, daß sich der Vollzug im Begriff manifestiert. Ohne den Gedanken Denken zu haben, wüßten wir nicht, daß wir denken. Wie ist mit dieser Differenz umzugehen, die sich zeigt, wenn wir das Denken analysieren? Scheinbar ist ihr nicht zu entrinnen, und doch muß sich eine Lösung finden lassen, wenn die Wissenschaftslehre ihre Aufgabe erfüllen soll, absolute Einheit als Grund des Wissens nachzuweisen. Um sich dem Niveau von Fichtes Lösungsvorschlag zu nähern, ist es sinnvoll, den Begriff noch etwas tiefer zu analysieren. Der Terminus Begriff steht in Fichtes Wissenschaftslehre für die Form des Bewußtseins oder die Form des Ich. Wesentliches Merkmal des Begriffs ist die Trennung, die Negation, da die Bestimmung von etwas immer ein Absondern ist. Seine Form läßt sich daher als Form der Differenz bezeichnen.Aber indem der Begriff sondert, verknüpft er auch gesonderte zu einer Einheit. Als Manifestation des Begreifens hatte sich der Begriff schon gezeigt, und Begreifen ist ja nichts anderes als der Vollzug einer Einheit, die sich dadurch konstituiert, daß eins durch das andere zusammengefügt wird. Entzieht sich zwar die Einheit des Denkvollzuges ihrer begrifflichen Vergegenwärtigung, so nimmt doch andererseits der Begriff die Einheit immer schon in Anspruch, wenn er gesonderte zu einer Einheit verknüpft. Es gilt also, zwei Aspekte aufzuklären, einmal die Einheit, die der Begriff faktisch in Anspruch nimmt, und zum anderen die Differenz, welche sich faktisch einstellt. Für den Begriff ist dies nicht zu leisten, da sich einer am Begriff orientierenden Selbsterhellung des Denkvollzuges dieser nur in der begrifflichen Vergegenwärtigung zeigt und damit in einem Objekt des Bewußtseins. Wichtig ist es jedoch zu sehen, daß es keinen anderen Weg zur Selbstvergewisserung des Denkvollzuges gibt, und so gesehen ist es gerade diese Iteration der Spannung von Vollzugsaktualität und begrifflicher Fixierung, die die Wissenschaftslehre vorantreibt. Stellt sich nämlich die Einsicht ein, daß das Absolute nur durch eine Analyse der Vollzugsaktualität des Bewußtseins zu begreifen ist, jedoch die Form des Begreifens oder die Form des Ich das Absolute immer verfehlt, weil es den Vollzug nur in der Form des Ich repräsentiert und damit tötet, so wird eine Lösung gerade durch diese Einsicht möglich. Wir müssen vom Bewußtsein absehen, um das Absolute zu sehen, oder pointierter: Wir müssen vom Sehen absehen, wenn wir sehen wollen. Diese Auskunft mag zunächst überraschen, sie scheint jedoch Fichtes Argumentation sehr nahe zu kommen. Dies mag ein Zitat belegen:“Es fand sich, daß das Ansich einleuchte, als ein absolutes Vernichten der Gültigkeit alles Sehens, in Beziehung auf sich: daß es in unmittelbarer Evidenz sich selber construire, und eben die unmittelbare Evidenz oder das Licht mit seiner Sichconstruction zugleich herauswerfe“ (156 = SW X, 209)Indem der Begriff versucht, das Absolute zu vergegenwärtigen, verfehlt er es, und dies macht deutlich, daß der Begriff eigentlich nicht von uns negiert wird, sondern daß er durch die Selbstkonstitution des Absoluten in unserer Einsicht negiert wird. Das Absolute konstituiert sich in unserem unmittelbaren Vollzug des Denkens als Negation des Begriffs. Faktisch bleibt zwar der Begriff oder das Bewußtsein als die Instanz, für die die Einsicht ist, jedoch als Prinzip wird der Begriff abgesetzt und in der Selbstkonstitution des Absoluten als Prinzipat gesetzt. Aus diesem Grunde haben wir das Absolute faktisch nur im Begriff, aussagbar ist es nur vermittels des verobjektivierenden Sagens. Aber sowie dieser Mechanismus des Bewußtseins eingesehen ist, so verschlägt es nichts, dies als Schein vom unmittelbaren Vollzug abzuziehen. Was bleibt, ist nur die unmittelbar zu vollziehende Faktizität des Vollzuges, der immer schon ist, wenn wir Bewußtsein sind. Dies bedeutet jedoch, daß das Absolute immer schon die Differenz geleistet haben muß, wenn Bewußtsein sein soll. Faktisch finden wir uns schon immer in der Einheit und Differenz des Bewußtseins. Die Unmittelbarkeit des zu realisierenden Denkvollzuges, die nicht zu vermitteln ist, wird zur Gewähr dafür, daß Absolutes und Begriff nicht zusammenfallen, obwohl das Bewußtsein die Urerscheinung des Absoluten ist. In dieser Pointe liegt eine der grundlegenden Einsichten der Wissenschaftslehre von 1804.Expliziert man die Struktur dieser Einsicht, so lassen sich Absolutes und Begriff gegenläufig als Spiegelbilder darstellen. Die unhintergehbare Faktizität des Denkvollzuges stellt, wenn man diese Struktur in einem Schema darstellen wollte, die Spiegelachse dar. Entscheidend ist für diese Struktur die Einsicht, daß der Begriff als Differenzform, die eine Einheit beansprucht, nur ist, sofern das Absolute als Einheit die Differenz leistet, und zwar die von Vollzug und Begriff, oder mit den Worten Fichtes, die Differenz von innerem und äußerem Licht. Das äußere Licht baut sich wiederum über eine Differenzform auf, und zwar derart, daß das äußere Licht das innere Licht voraussetzt. Dieser Sachverhalt wiederholt sich am Ort des Begriffs, für den die Differenzform konstitutiv ist. Erst die Vernichtung des Begriffs durch die Selbstkonstitution des Absoluten im unmittelbaren Denkvollzug läßt das Absolute als inneres Leben erscheinen. Da diese Einsicht jedoch eine Einsicht für ein Bewußtsein darstellt, so erliegt die Erscheinung des inneren Lebens der Verobjektivierung. Fichte gewinnt dieses Resultat durch die Orientierung an der Vollzugsaktualität des Denkens. Dies bedeutet, daß jegliche externe Relation ausgeschlossen ist, über den internen Vollzug kann nicht hinausgegangen werden. Die Abstraktion vom Sehen des Bewußtseins behält daher den in sich stehenden reinen Vollzug übrig, das Absolute als „von sich, in sich, durch sich“ (151 = SW X, 205), eine Einheit, „die nicht ausser sich sein kann, nicht herausgehen [kann] aus sich selber zur Zweiheit“ (152 = SW X, 206). Ersichtlich ist, daß diese Figur, die von entscheidender Bedeutung für die Wissenschaftslehre von 1804 ist, ihre Plausibilität allein durch ein duplizitäres Modell gewinnt. Eben weil die Urspaltung des Absoluten für die Rationalität uneinsichtig ist, können Begriff und Absolutes nicht zusammenfallen, oder m.a.W., eben weil die Rationalität sich nicht selbst inszenieren kann, verweist sie auf ein Absolutes, welches für sie selbst irrational ist.

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Über Danz Christian 21 Artikel
Prof. Dr. Christian Danz, geboren 1962 in Thüringen, hat seit 2002 eine Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien inne. Seit 2006 ist er Vorsitzender der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft.

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