Die Macht der Gefühle

Wenn Sie Freitagabend vor die Wahl gestellt werden, entweder Richard Wagners Lohengrin in einer Live Übertragung aus der Mailänder Scala unter Daniel Barenboim zu erleben oder Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium in der Allerheiligen Hofkirche der Münchner Residenz unter Mark Mast live zu erleben, wie hätten Sie persönlich entschieden? Eine zweite Qual der Wahl könnte man sich theoretisch am darauffolgenden Abend vorstellen: Genau dieses Ereignis wetteifert mit einer Live Übertragung von BR Klassik aus der Metropolitan Oper, New York mit Verdis „Maskenball“, Dirigent Fabio Luisi. Und alles ist dann schnell abzuwägen: Bezahlte Eintrittskarte oder lieber kostenlos? Holzstuhl gegen Couch, Blick auf das Orchesterteam mit Hörgenuss oder vielleicht lieber Wagner und Verdi als Berieselung, parallel die Zeitungen online zu lesen, Lebkuchen zu verzehren und das Bügeln von Hemden endlich zu erledigen? Musik aus der Dose von Weltstars oder die hautnahe Nähe unserer Meister vor Ort?
Die Antworten der Besucherinnen und Besucher der festlichen Veranstaltung zeigten ganz deutlich: Wer möchte nicht lieber in der Allerheiligen Hofkirche der Münchner Residenz dabei sein und dem Kammerchor und dem Kammerorchester lauschen und sich mit dem Solistenquartett Susanne Winter (Sopran), Susanne Elle Grobholz (Alt), Andrew Lepri Meyer (Tenor) und Timo Janzen (Bass) in eine besinnliche Welt tragen zu lassen?
„Kein Weihnachten ohne Bachs Weihnachtoratorium“, „Es passt in die Zeit“ „25 mal selbst gesungen, immer noch faszinierend“,“ich finds super“, „die Choräle super dirigiert“, „heute beginnt Weihnachten“. So waren die gestrigen Reaktionen von Jung und Alt, „jauchzend und frohlockend“. Auch wenn Mark Mast am Dirigentenpult ohne Noten erscheint und diese humorvoll herbeizaubert und mancher Ton für die Musikprofis, die die Akustik mit der Thomaskirche in Leipzig vergleichen, nicht so lebendig erscheinen mag, „alles ist so grossartig, dass es nur noch in einer Barockkirche zu toppen wäre“.
Gefangen im Ordnen von Belegen der Weihnachteinkäufe, überdrüssig der Weihnachtslieder, die schon seit Wochen auf allen Kanälen ertönen, im Taumel von glitzernden Kugeln den wahren Weg zu suchend, strahlt hier in der Allerheiligen Kirche für alle ein Licht auf (Jes. 9,1). Es zeigt uns einen Weg, der Wärme, Geborgenheit und wahre Liebe schenkt. Diese Musikstücke – ursprünglich weltliche Kantaten mit religiösen Texten unterlegt – haben die innere Kraft, Emotionen freizulegen und Ur-Sehnsüchte nach Werten zu stillen. Eine Ästhetik der Befreiung? Erlösung von all dem irdischen Treiben, den Sorgen und Ängsten? Spürbar wird: Die Musik wird zur verbindenden Sprache, die ein Gemeinschaftserlebnis von grosser Intensität und Tragweite schafft. „Wir stehn an Deiner Krippen hier…“ ( VI. Kantate). Künstler, Kulturmanager, Förderer haben mit dem Weihnachtoratorium in der Allerheiligen Hofkirche 2012 ein grossartiges Opus auf die Bühne gestellt, an der sich die Drahtzieher einer säkularisierten Wirtschafts- und Wachstumsideologie ein Beispiel nehmen sollten.

Über Angelika Weber 47 Artikel
Angelika Weber, M.A., studierte Bayerische Geschichte, Anglistik, Theaterwissenschaft, Philosophie und Geschichte der Medizin. Sie arbeitet mit nationalen und internationalen TV – Anstalten zusammen. 1997 erhielt sie für ihre Film- und Dreharbeiten das Bundesverdienstkreuz.

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