Eine Aufgabe für Generationen

Die Restaurierung der beschädigten Dokumente aus dem eingestürzten Historischen Archiv der Stadt Köln wird Jahre dauern

Die Szenerie erinnert an einen Operationssaal. An den Wänden sind zahlreiche Instrumente wie Pinsel, Pinzetten und Besen, Messer und Skalpelle, Holzlöffel und anderes Besteck angebracht. Im verkachelten Nebenraum mit dem Waschbecken und den verschiedenen Flaschen mit Chemikalien und Tinkturen werden Zeitungsreste in einer speziellen Lauge getränkt. In der Mitte des größten Raumes steht ein eckiger Tisch, der von den Neonröhren der großen Lampe mit dem kastenartigen Schirm in gleißendes Licht getaucht wird. Um den Tisch stehen die Restauratoren in weißen Kitteln wie Operateure und beraten über die Behandlung. Es handelt sich um eine zerknitterte Urkunde aus Pergament aus dem Jahre 1266. Sie gibt Auskunft darüber, dass verschiedene Klöster und Stifte des Erzbistums Köln sich darauf verständigt haben, dass … Ja, zu was eigentlich? Über den Inhalt der welligen und vielfach tief eingerissenen Archivalie kann derzeit nur spekuliert werden. Zu groß sind die Schäden an dem historischen Dokument, das zu den mittlerweile rund 75 Prozent derjenigen mittelalterlichen Handschriften gehört, die seit dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln Anfang März aus dem immer noch riesigen Berg aus Schutt, Gestein und Beton geborgen wurden. Um das Dokument zu restaurieren, wurden die Siegel der Urkunde zunächst einmal in besonderen Siegelsäckchen aus Polyestervlies eingetascht. Als nächstes werden die Restauratoren in der Abteilung Kunsttechnologie und Restaurierung des Wallraf-Richartz-Museums die vor ihnen aufgebahrte Urkunde klimatisiert und kontrolliert der Feuchtigkeit aussetzen, um das deformierte Pergament wieder zu glätten. „Die Schäden werden sich nicht vollständig beseitigen lassen“, sagt Ulrich Fischer, der stellvertretende Leiter des Kölner Stadtarchivs, und ergänzt: „Die beschädigten Archivalien werden trotz Restaurierung weiter die Narben des 3. März tragen.“ Das war der Tag, an dem das „Gedächtnis der Stadt“ mit knapp 30 Kilometern Akten und Archivalien, das als eines der bedeutendsten kommunalen Archive der Welt gilt, aufgrund eines Erdrutsches im Zusammenhang mit dem in 28 Metern Tiefe unterhalb des Gebäudes verlaufenden U-Bahnbaus einstürzte. Zwei Menschen fanden dabei den Tod. Die Aufräumungsarbeiten an dem riesigen Krater auf der Severinstraße in der Kölner Südstadt werden noch Wochen dauern. Rund 17 Kilometer aus dem Archivbestand mit Zeugnissen aus über 1000 Jahren kölnischer, rheinischer, deutscher und europäischer Geschichte sind inzwischen geborgen worden.
Wunder gibt es dabei auch manchmal. Dieser Tage wurde bei den Aufräumarbeiten ein intakter Archivkeller mit 1200 Metern hochwertigem Archivgut entdeckt. Der Zustand der aus dem Schutt geborgenen Dokumente ist ganz unterschiedlich. Manche Handschriften seien halbiert, oft fehlten Einbände und weiteres wiederum sei nahezu unbeschädigt, berichtet Fischer. Oftmals werden sehr individuelle Restaurierungskonzepte, Techniken und Verfahren notwenig sein, um ein Objekt wieder archivfähig zu machen. Nasse Funde werden gefriergetrocknet, Zerrissenes stabilisiert, fragile Reste geschützt, alles fein gesäubert. Aber wie weit kann eine Restaurierung gehen? „So viel wie möglich restaurieren, aber dabei so wenig wie möglich am Objekt verändern“, sagt Thomas Klinke über die grundsätzliche Schwierigkeit der Arbeiten eines Restaurators, denn: „Durch das Restaurieren können einem Objekt auch irreversible Schäden hinzugefügt werden.“ Nicht verschönern sei die Aufgabe, sondern die Erhaltung dessen, was vorgefunden wurde.
Wie lange die Restaurierungsarbeiten an den beschädigten Archivalien dauern werden, will niemand der Restauratoren genau prognostizieren. Fischer spricht von einer Aufgabe für zwei Generationen. „Geduld ist die Grundtugend des Restaurators“, stellt Thomas Klinke lapidar fest. Klinke ist öffentlich bestellter und vereidigte Sachverständige der Industrie- und Handleskammer Köln für die Schadensfeststellung und Restaurierung europäischer Handzeichnung, Druckgraphik und Bücher sowie die Feststellung technologischer Merkmale. Neben den schwierigen handwerklichen und technischen Herausforderungen weist der Experte auch auf das „enorme mentale Problem“ der Arbeit hin: „Es kann sich ein Außenstehender kaum vorstellen, was für eine Katastrophe das für unseren Berufsstand ist, nachdem man Jahre lang gelernt hat, so sorgfältig, sensibel und behutsam mit diesen Kulturgütern umzugehen.“ Ulrich Helbach, der Leiter des Archivs des Erzbistums Köln, kann das bestätigen: „Als ich das erste Mal an der Unglücksstelle war, habe ich fast einen Koller bekommen.“
Hilfe und Unterstützung bekommen die Verantwortlichen in Köln mittlerweile aus der gesamten Welt – selbst aus Australien haben Restauratoren ihre Dienste angeboten. „Überwältigend und traumhaft“, nennt Ulrich Fischer diese Unterstützung. Auch aus der Stadt selbst haben benachbarte oder ähnliche Einrichtungen sofort ihre Unterstützung angeboten und sind auch in die bergungs- und Sicherungsarbeiten eingebunden. Das Archiv des Erzbistums Köln beispielsweise hat wenige Tage nach dem Einsturz seine Magazine gesichtet und drei Regalkilometer nahezu unversehrter Akten aufgenommen. In vielen weiteren Magazinen werden gerettete Akten eingelagert, um die verteilten Bestände in spätestens fünf Jahren – dann soll die Stadt Köln über ein neues Archivgebäude verfügen – wieder zusammenzuführen.
Oftmals sind sehr individuelle Restaurierungskonzepte, Techniken und Verfahren notwenig, um ein Objekt wieder archivfähig zu machen. Aber wie weit kann eine Restaurierung gehen? „So viel wie möglich restaurieren, aber dabei so wenig wie möglich am Objekt verändern“, sagt Thomas Klinke über die Schwierigkeit der Arbeiten, denn: „Durch das Restaurieren können einem Objekt auch irreversible Schäden hinzugefügt werden.“ Nicht verschönern sei die Aufgabe, sondern die Erhaltung, dessen, was vorgefunden wurde. Ob indes von dem, was noch nicht in dem gigantischen Schuttberg aufgefunden worden ist, wesentliche Teile erhalten werden können, ist fraglich.

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Über Constantin Graf von Hoensbroech 74 Artikel
Constantin Graf von Hoensbroech absolvierte nach dem Studium ein Zeitungsvolontariat über das "Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses - ifp". Nach Stationen in kirchlichen Medien war er u. a. Chefredakteur von "20 Minuten Köln", Redaktionsleiter Rhein-Kreis-Neuss bei der "Westdeutschen Zeitung", Ressortleiter Online bei "Cicero" sowie stellvertretender Pressesprecher der Industrie- und Handelskammer zu Köln. Seit März 2011 ist er Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation der Rheinland Raffinerie der Shell Deutschland Oil GmbH.

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