Francesca Melandri. Alle, außer mir. Roman.

Flagge Italien und USA, Foto: Stefan Groß

Francesca Melandri. Alle, außer mir. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Berlin (Verlag Klaus Wagenbach) 2018, 604 S., 26.- EURO, ISBN 9- 783-803- 1329-63.

Der Eroberungskrieg der Mussolini-Diktatur gegen das Kaiserreich Abessinien gehört in der Kolonialgeschichte Italiens gehört zu jenen Kapiteln, deren Aufklärung bislang weitgehend verdrängt wurde. Mit dem vorliegenden Familienepos von Francesca Melandri, 1964 in Rom geboren, einer erfolgreichen Drehbuchautorin und Prosaikerin, zeichnet sich nunmehr eine radikale literarische und historische Aufarbeitung einer Tragödie ab, in die koloniale Akteure ebenso wie deren Opfer, Augenzeugen und Angehörige der betroffenen Familien verwickelt sind. Die auserwählten Personen der Handlung sind, mit Ausnahme zweier historisch verbürgter Akteure des Kolonialkrieges gegen Abessinien, Mitglieder eines weitverzweigten Netzes, das Attilio Profeti aufgrund seiner skrupellosen Handlungen gesponnen hat. 1915 in der Familie eines Eisenbahnangestellten geboren, seit Mitte der 1930er als glühender Anhänger der Mussolini-Diktatur in die Vorbereitung und Durchführung des kolonialen Eroberungskriegs gegen das Kaiserreich Abessinien verwickelt, ist er ein überzeugter Rassist, der als Vertreter der italienischen Kolonialregierung in Addis Abeba eine zwielichtige Rolle spielt. Dort unterhielt er unter anderem eine illegitime Beziehung zu einer gewissen Abeba aus Ligeta (einem Stadtteil von Addis Abeba), mit der Atilio Profeti einen Sohn gezeugt hatte. Dieser Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti taucht eines Tages in Rom auf, spricht Ilaria, die Tochter von Attilio Profeti, vor ihrer Wohnung in einem fast akzentfreiem Italienisch an, legitimiert sich mit einem Reisepass Ethiopia und behauptet, dieser Attilio Profeti sei sein Großvater. Die in Erstaunen versetzte Ilaria, Lehrerin an einer Schule in Rom, beginnt nun eine intensive Recherchearbeit, im Verlaufe derer die ihr unbekannte italienische Kolonialgeschichte, die militärische Operation des Mussolini-Regimes in den Jahren 1937 bis 1939 und deren Beteiligung ihres Vaters jäh vor Augen geführt wird.

Es spricht für den geschickten kompositionellen Aufbau der Romanhandlung, dass Melandri diese überraschende Episode als ein einleitendes narratives Element verwendet, das den Grundstein für die fiktionale Struktur des Erzählwerkes legt. Dieser Einleitung ist das einseitige Kapitel O, datiert mit der Jahreszahl 2012, vorgeschaltet, in dem der Leser erfährt, dass „Attilio Profetti gestorben ist“. Das abschließende, aus zehn Druckseiten bestehende Kapitel 0 beschreibt die Trauerfeier, bei der nicht nur Attilios Frauen, Marella und Anita – wie auch deren Kinder und weitläufige Verwandte – anwesend sind, sondern auch der greise „Kampfgefährte“ Carbone aus den abessinischen Kolonialzeiten auftaucht. Er bestätigt Ilaria, dass ihr Vater „sehr viel Glück im Leben hatte.“ Eine Aussage, die von der auktorialen Erzählerin, in der Person der Tochter des Verstorbenen, Ilaria, in eine ironische und verächtliche Metapher verwandelt wird. „Alle, außer mir“ – mit dieser bereits im Romantitel angedeuteten Lebenseinstellung charakterisiert sie zugleich die skrupellose Haltung des Verstorbenen, seine Mitschuld an dem Desaster der italienischen Kolonialherren. Denn für Ilaria, die nicht nur die rassistischen Pamphlete ihres Vaters gelesen hat, sondern auch viel über den Vernichtungskrieg der Mussolini-Faschisten vor allem gegen die Zivilisten in Abessinien erfahren hat, ist klar geworden. „Papa“ . so lautet ihr letzter Satz am Grab, „du hast den Wettkampf gar nicht gewonnen.“

Auf die deutsche Verdrängungsgeschichte der Nazi-Verbrechen nach 1945 übertragen, erhält die literarische Aufdeckung der italienischen Gräueltaten eine doppelte Erkenntnisdimension. Die Täter tarnen sich im Mantel der Unschuld, und die folgenden Generationen müssen sich oft mit der „Gnade der Vergeßlichkeit“ und der unerbittlichen Endlichkeit des Lebens „begnügen“. Was aber bleibt, sind die Dokumente der Verbrechen und die Wachsamkeit der folgenden Generationen, deren Köpfe aber leider immer wieder von rechtspopulistischen Parteigängern vernebelt werden. Umso wichtiger sind die historischen Zeugen in den Archiven, in denen die literarischen Zeugnisse immer wieder eine öffentliche Wirksamkeit gewinnen, vorausgesetzt, die vielen unglückseligen Familiengeschichten aus dem literarischen Fundus in beiden Ländern, nördlich und südlich der Alpen, finden ihre Leser_innen. Die hier vorliegende atemberaubende Lektüre italienischer und abessinischer Geschichte zwischen 1930 und 2012 lohnt und schockiert zugleich. Denn je länger dieses Familienepos dauert, desto deutlicher zeichnen dessen Folgen ab. Es ist die Flüchtlingsgeschichte derjenigen, die lange nach der Katastrophe die rettenden italienischen Ufer zu erreichen glauben und zurückgeschickt werden.

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