„Frei ist ein kurzes und ein schweres Wort.“ oder: „Wie hat sich das Jahrhundert nur so schnell aufgebraucht?“

„Seit dem Morgengrauen ist er wach, aber das Haus schläft noch. Es ist ein halbes Haus, in dem eine halbe Familie lebt. Die eine Hälfte ist da, die andere weg: gestorben, gefallen und vergessen.“ Das Haus steht an der Peripherie einer zwar nicht namentlich benannten, aber unschwer als Leipzig zu erkennenden Stadt. „Im Süden ist das Land aufgebrochen. Leere Dörfer stehen am Abgrund, in den Kratern tragen riesige Schaufelräder die Braunkohle ab. Nachts hört man ihr Ächzen und Kreischen. Es ist das Schlaflied des Jungen. (…) Die Vorstadt dämmert, während die eigentliche Stadt von damals träumt. Es ist eine stolze und alte Stadt mit hohen Kirchen und lichten Passagen und einem imposanten Bahnhof, da kann man besser ankommen als wegfahren. Die Stadt hat große Söhne und Töchter hervorgebracht und bedeutsame Menschen beherbergt, es wird ihm immer wieder gesagt…“ Das halbe Haus wird im Laufe der Erzählung noch eine lange Geschichte zu erzählen haben. Weniger vielleicht über die große Stadt, die ihren zuweilen recht schmutzigen Atem weit über das Land bläst, sondern mehr über seine Bewohner. Der Text wiederum wird den Bauplan des Hauses mit seiner knorrigen Treppe, seinen vielen Winkeln, Nischen und Zufluchten bestimmen. Am Ende wird das Haus leer sein, aber Gunnar Cynybulk hat die leeren Zimmer erneut zum Sprechen gebracht, sie mit unterschiedlichsten Emotionen gefüllt und ihnen ihre versteckten, kaum wahrnehmbaren Töne entlockt. Der aufmerksame Leser wird zuweilen ein Ächzen verspüren, ein böses Kichern oder ein verwirrtes Lachen. Er wird das Haus schluchzen hören, aber auch freudig erregt sehen, liebevoll singend, ängstlich verstummt oder schockiert den Atem anhaltend. Und: Er wird überall in dessen Ecken das Wort Heimat flüstern hören.

Zur „halben Familie“ gehören Jakob Friedrich, ein junger Bursche in der beginnenden Adoleszenz, sein Vater Frank und Großmutter Polina. Um diese drei Generationen dreht sich der Plot des Autors. Die letzten Vorwendejahre sind angebrochen. Die Wirtschaft der DDR befindet sich in rasanter Talfahrt, ebenso wie die mühsame Aufrechterhaltung sozialistischer Ideologien. Jacobs sportlicher Ehrgeiz allerdings schwingt sich in höhere Sphären. Als aufstrebender Leichtathlet steht er kurz vor der Aufnahme an die Kinder- und Jugendsportschule. Der Traum einer sportlichen Karriere rückt in greifbare Nähe. Doch die westaffinen Ambitionen seines Vaters korrelieren nicht mit dem Gesellschaftssystem. Frank will raus aus der halbseitigen Umgrenztheit: „Hier wie da sagen die Leute grüß Gott. Das hat die Grenze nicht zerschnitten. Das meiste hat sie zerschnitten. Es gibt deutsch-deutsche Bäume, Zweiländereichen. Es gibt Doppeldörfer, oder besser gesagt halbierte Dörfer. (…) Das ist das, was die Grenze den Leuten hier gebracht hat, die Halbierung.“ Er hält die Lügen seines Staates nicht mehr aus, „ein Turm zu Babel, ein Scheißhaufen, der mit Häkeldeckchen aus Worte zugedeckt“ ist. Dabei ist ihm jedes Mittel recht. Sei es, die reisefreie Rentnerin Polina im Zuge der Familienzusammenführung schon mal in den „goldenenWesten“ vorzuschicken oder aber mit lautstark artikulierten Worten und Aktionen das lauschende und denunzierende Ohr der allseits wachsamen Institution mit Namen Staatssicherheit auf Höchstalarmbereitschaft zu setzen. Ein derart gegen den Landesfrieden verstoßendes Individuum wurde zuweilen dann ganz schnell mundtot gemacht.
Zurück im halben Haus bleibt letztendlich nur noch ein unter „fürsorglicher“ Beobachtung stehender Jugendlicher mit abgestürzten Träumen. Doch wie soll der Heranwachsende jetzt auf sich allein gestellt mit all den Lügen fertigwerden? Mit all den ganzen Ausrufezeichen, die in der Schule gefordert werden, sich zu Hause jedoch immer in riesengroße Fragezeichen wandelten? Und wie mit den heranwachsenden, neuen, aufregenden Gefühlen für das andere Geschlecht? Mitunter kann das Glücksstreben des einen „ein anderes Glücksstreben zunichtemachen. Ein Freiheitswunsch einen anderen.“

Gunnar Cynybulk hat ein literarisch bemerkenswertes Buch geschrieben. Anhand seiner drei Protagonisten lässt er mit wechselnden Perspektiven, unterschiedlichen Erzählformen (Ich-, Du-, Er-Form) und -tönen sowie variierenden Zeitebenen ein ganzes „Familien“-Jahrhundert Revue passieren. Sein beobachtendes, emotionales Fabulieren, gepaart mit einem feinsinnigem, zum Teil parodistische Züge aufweisenden Humor, entwickelt eine ungeheuer leuchtende Farbigkeit und beinahe fühlbare Stofflichkeit, die im Kontrast zum ansonsten ziemlich grauen Umfeld steht. Ein Buch, durch dessen Seiten man atemlos fliegt, das treibt, pusht, aber auch nachdenklich-leise Töne anstimmt und zuweilen gar zu Tränen rührt. Ein unglaublich intensiver Roman, der vielfältigste Emotionen weckt. Zudem zeichnet Cynybulk grandiose Portraits seiner drei Hauptfiguren und des Landes, in dem sie leben. Nicht direkt, klar und linear, sondern verschlüsselt und meist zwischen den Zeilen, in einer wunderschönen, bildhaften und poetischen Sprache, wird nach und nach eine Familiengeschichte enthüllt, die nicht nur eine Leiche unter dem Lehmboden im Keller verscharrt hat.

Fazit: Gunnar Cynybulks „halbes Haus“ offenbart sich als äußerst beachtenswertes literarisches Debüt, das zu gleichen Teilen die ganz persönliche Lebensgeschichte des Autors wie auch eine politische Auseinandersetzung mit der scheinheiligen Moral und dem lügendurchwachsenen System der damaligen DDR verarbeitet und dokumentiert. Ein Plot, in dem auf Doping im Kinder-Leistungssport, Verrat und Bespitzelung durch Stasi und Konsorten genauso geblickt wird wie hinter das Gefühl, welches mit dem Wort Heimat verbunden ist. Ein Roman, der gefangennimmt und fasziniert und dessen Worte auch den Ausklang bilden sollen: „Er ist wach, aber das Haus schläft noch. Es ist ein halbes Haus, in dem mal eine halbe Familie gelebt hat und für kurze Zeit eine fast ganze. Die Großmutter schlief im Wohnzimmer auf dem ausgezogenen Sofa, der Vater schlief im ersten Stock, im Bett in der Bücherwand, für eine Weile schlief er da zusammen mit seiner Frau. Deren Tochter hatte ein eigenes Zimmer, darin stand auch ein großer Kleiderschrank. Und dann gab es noch einen Kater, der schlief manchmal zu seinen Füßen. (…) Das Fotoalbum würde er im Handgepäck mitnehmen, ebenso wie einen Zungenschlag und ein paar Worte: gaupeln, Bimmel, groggy, Nieselpriem, mausen, Fisimatentchen, Forsützschen, Ganker, nischeln. (…) Irgendwann einmal, dachte er und denkt es wieder, sollte ich alles ganz genau auflisten. Die Dinge, die Worte und die Gefühle. (…) Im Heft dieses Mannes – besser wäre gleich ein ganzes Buch – würde alles wie neu stehen, wie zum ersten Mal erlebt. (…) Ein Satz wäre ihm eine Räuberleiter, auf einem Strich würde sein Gedanke verweilen, hinter einem Komma würde er mit einem Wasserfall in die Triefe rauschen oder mit einem Zug durch die Nacht. Auf diese Art würde er es ihnen zeigen, denen, die alles vorsagen oder nachsagen oder falsch sagen oder gar nicht sagen.“ Genau dieses Buch hat Gunnar Cynybulk geschrieben. Ein Autor, dessen Namen man sich unbedingt merken sollte!

Gunnar Cynybulk
Das halbe Haus
DuMont Buchverlag (März 2014)
575 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3832197230
ISBN-13: 978-3832197230
Preis: 22,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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