„Die Nacht trägt heute drei Livreen: Was War, Was Ist, Was Wird Geschehen.“

„Der Fährmann hat einmal erzählt, es gebe im Dorf jemanden, der mehr Erinnerungen von anderen Leuten besitze als Erinnerungen, die seine eigenen sind.“, heißt es im frisch prämierten „Heimat“-Roman von Saša Stanišić. Erinnerungen als Zeitweiser. Denn was wir heute Heimat nennen, finden wir nicht in der Zukunft und auch nicht in der Gegenwart. Heimat kommt aus unserer Vergangenheit und entfaltet an der Schnittstelle zwischen Gestern und Morgen, dem Heute, seine Wirkung, um hernach aus unseren Erfahrungen und Erlebnissen wiederum die Zukunft zu prägen. Um jene zu gestalten, bedarf es jedoch dem Wissen um das „Alte“. Dazu legen wir Archive an, malen Bilder oder erzählen Geschichten: Zeitzeugen im Fluss der Erinnerung.
Der in Bosnien geborene Autor, der 1992 mit seiner Familie im deutschen Exil Zuflucht suchte, hat sich diesem Bewahren von Erinnerungen und dem Heimatgefühl angenommen. An einem einzigen Tag, genauer gesagt ist es eine Nacht, verbindet der Autor Gegenwart und Vergangenheit, vermischt Gestern mit Heute und formt daraus ein Morgen. Anhand eines fiktiven Dorfes in der Uckermark spult er auf 320 Seiten rund 500 Jahre Zeitgeschichte im Zeitraffer ab. Gegenständen wird Leben eingehaucht, das Leben mitunter vom Tod heimgesucht. Aus Altem wird Neues und Neues erscheint alt. Seinen fiktiven Handlungsort setzt er in die Uckermark: „Füstenfelde. Einwohnerzahl: ungerade. (…) Es gehen mehr Menschen tot, als geboren werden. Wir hören die Alten vereinsamen. Sehen den Jungen beim Schmieden zu von keinem Plan. Oder vom Plan, wegzugehen.“ Dort wird der Leser Zeuge von den Vorbereitungen zu einem alljährlich stattfindenden Fest. „Das Dorf putzt die Schaufenster. Das Dorf poliert die Felgen. Das Dorf duscht. Die Fischerei geht auf den Hecht, die Bäckerei geizt nicht mit der Marmeladenfüllung. Mancher Haushalt wird sich wappnen mit einer doppelten Dosis Insulin (…) Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.“

Stanišić changiert dabei zwischen der Rolle des kühlen Beobachters und der eines in Bildern versunkenen Kindes. Zusammen ergibt das einen abgründigen Realismus, Kunst als Fragment – auch da, wo erzählt wird. Denn sein Text setzt sich aus verschiedensten kurzen Erzählungen zusammen. Manchmal steht gar nur ein Satz auf einer Seite. Geschichten, die für sich zu stehen scheinen, aber dennoch ein dichtes Netz ergeben und fest miteinander verwoben sind. Hinzu gesellt sich ein Geflecht unterschiedlichster Personen und Dorfbewohner. Da begegnet uns Herr Schramm, „ehemaliger Oberstleutnant der NVA, dann Förster, jetzt Rentner und, weil es nicht reicht, schwarz bei 'Von Blankenburg Landmaschinen'“, der Glöcknerlehrling Johann und seine Mutter, die Leiterin der Heimatstube. Die Jugend in Gestalt von Lada, dem stummen Suzi und Meerrettich-Micha hat ebenso ihren Auftritt wie Dietmar Dietz, genannt Dietzsche, Briefträger vor der Wende, heute Rassehuhnzüchter, Frau Reiff mit ihrer Keramik-Werkstatt, die kranke Anna, Namensvetterin des zu feierndenFestes oder der Adidas-Mann, der leise, suspekte Fremde, wahrscheinlich Ausländer. Als verbindendes Glied fungiert Frau Kranz, die neunzigjährige Malerin, die als zentrale Figur vom Autor komponiert wurde und deren Bildsprache Stanišić in Worte umsetzt, in literarische Farbkompositionen. Ihr an die Seite wird der weise Fährmann gesetzt. Doch der ist tot, wie man bereits auf der ersten Seite erfährt. Dennoch spukt dessen Seele und die vieler anderer durch die Seiten. Geisterhafte Erzähler, die in der Uns-Form einen scheinbar unbeteiligten Blick auf das Geschehen des Dorfes werfen. „Lassen wir die Träumenden in Frieden. Vertreiben wir uns die Zeit mit den Ruhelosen: Mit unseren Seelen, sie schlafen ohnehin nie.“

Auf unglaublich intensive Art und Weise versteht es Saša Stanišić, mit zum Teil minimalistischen Reduzierungen, eine ausufernde und breite Vielfältigkeit zu erzeugen. Manches ist erschreckend wahr, anderes grotesk verzerrt. Sprachgewaltig und -vielfältig sowie in Ton und Duktus an die Eigenheiten seiner jeweiligen Protagonisten angepasst, bewegt sich der Autor souverän zwischen den Zeiten, schreibt sogar in altdeutscher Ausdrucksform. Manchmal wird fast stakkatoartig, dann wieder ausufernd opulent erzählt. Ein inhaltsschwerer, mehrdeutiger und sich selbst ständig hinterfragender Text, in den man vielleicht nicht gleich hineingleitet, der 30…40 Seiten benötigt, um sich zu entfalten. Doch spätestens dann umfängt er einen und zieht unweigerlich in seinen Bann. Trotzdem fordert er eine ständige ungeteilte Aufmerksamkeit. Man muss sich fallen lassen beim Lesen, eintauchen, um den Sound unterschiedlichster Töne und Variationen, diese Gedankenmäander, wahr- und aufzunehmen, sie zu verarbeiten. „Komm, wir nehmen dich mit. Zu deiner Namensvetterin, zu den Menschen, zum Tier. Zur Fähe, zu Schramm. In den Lebenshunger, in die Lebensmüdigkeit.“, rufen die unruhigen Seelen und eröffnen ein Kaleidoskop aus bunten Scherben, das geschüttelt, neue, noch faszinierendere Farbnuancen in anderer Anordnung offenbart. Ein Roman, der vergangene Aromen ausströmt und sie zu einer neuen Duftkombination zusammensetzt. Geschichten, die lange unter dem Deckel drängten und nun nach draußen gelassen werden. „Eine Haut aus Geschichten ist das, die uns wächst.“

Fazit: Saša Stanišić stapelt Geschichten übereinander, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit trotzdem als gemeinsames Ganzes erweisen. Genau wie eine Trockenmauer aus Feldsteinen, so erweist sich auch sein Roman als solide Umwährung einer kleinen Ortschaft, die trotzdem Bestandteil des großen Weltgeschehens ist. Der Autor erzählt in einer Nacht die Geschichte eines Ortes und seiner Einwohner, magisch, fast märchenhaft. Es geht um Tod, um Angst, um Nostalgie, Gegenwart, verlorene Träume, um Worte und Sätze. Es geht um den Begriff Heimat. Stanišić webt ein Sprachgespinst aus unterschiedlichsten Fäden, das durch seine Fülle und Farbigkeit fasziniert. „Es sind so Augenblicke…“ oder: „Ein Gemälde des Zeitvergehens (…) So eine Nacht ist das.“

Saša Stanišić
Vor dem Fest
Luchterhand Literaturerlag (März 2014)
320 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3630872433
ISBN-13: 978-3630872438
Preis: 19,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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