Friedrich Eberhard von Rochow-Pädagoge und aufklärerischer Sozialreformer

Die Aufklärung brachte dem Erziehungswesen völlig neue Impulse.[1] Sie forderte eine Hinwendung zu naturgemäßer Pädagogik, die von Vernunft und sittlicher Lebensweise gekennzeichnet war. Die Erziehung wurde auf alle Angehörigen der Bevölkerung ausgedehnt, vor allem auf die Bildung von Frauen sowie die Weiterbildung von Erwachsenen. Wissenschaftliche Verfahrensweisen wurden auch auf praktische Tätigkeiten (Realbildung, landwirtschaftliche und gewerbliche Erziehung) ausgedehnt.
Philanthropine oder „Werkstätten der Menschenfreundschaft“[2] standen am Beginn moderner Schulreform. Sie waren Ausdruck eines pädagogischen Protestes gegen die zurückgebliebene Schulrealität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Ihre programmatische Aufgabe bestand darin, neue und alternative schulpädagogische Impulse zur Reorganisation von Bildung und Erziehung zu entwickeln. Theoriegeschichtlich waren für die Genese des pädagogischen Programms des Philanthropismus die Schriften von John Locke (1632-1704)[3], Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769)[4], Johann Andreas Cramer (1723-1788)[5] und Martin Ehlers (1732-1800) verantwortlich.
Die Philanthropen wollten also eine „vernünftig-natürliche“ Erziehung. An der Bildung des Intellekts ist ihnen ebenso gelegen wie an Naturnähe und Einfachheit aller Lebensverhältnisse. Körperliche Ertüchtigung, Abhärtung und Landleben spielten eine große Rolle.
Zum weiteren Kreise der Philanthropen gehört, wenn auch nicht unmittelbar mit dem Dessauer Philanthropin verbunden, Friedrich Eberhard von Rochow (1734-1805), Gutsherr in Reckahn bei Brandenburg. Aus der unermüdlichen Sorge um seine Landleute heraus ist er ein Reformer des Landschulwesens geworden.[6] Er hat besonders durch seine Musterschule in Reckahn, durch seine Lehrbücher für Lehrer und Kinder und durch seine Forderungen für den Landlehrerstand gewirkt, war aber im Grunde darüber hinaus aufklärerischer Sozialreformer.
Er gehörte in die Bestrebungen für das Landvolk hinein, die die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts durchziehen und in denen auch Pestalozzi wurzelte. Sie erwuchsen aus dem durch den merkantilistischen Geist des Absolutismus (Anfänge der Industrie, Bevorzugung der Stadt) herbeigeführten katastrophalen Niedergang des flachen Landes auf wirtschaftlichem wie kulturellem Gebiet. Von Rochow forderte, um den Menschen aus diesem Elend herauszuhelfen, geregelte Armenfürsorge, Armenhäuser, Versicherungen, Abschaffungen der Gespanndienste und verwirklicht einen Teil dieser Gedanken auf seinen eigenen Gütern. Er forderte zum anderen – gerade auch um jenen Reformen den vollen Erfolg zu sichern – wirkliche Aufklärung und geistig-sittliche Erziehung für das Landvolk durch eine gute Schule. [7]
Für die Schule stellte er dabei vier Forderungen auf:
Die Schule sei reine Staatsschule und für alle Kinder da, auch für Bauernkinder,Alles Lebensnotwendige gehörte als Stoff in die Schule hinein, für das Landvolk auch Viehzucht, Okulieren, bäuerliche Berufskunde,Diese Stoffe waren in lebendiger Frage und Antwort (sokratisch-entwickelnde Methode) und mit Hilfe kindertümlicher Schulbücher zu verarbeiten,Auch das Land benötigte einen voll ausgebildeten, hauptamtlich tätigen, ausreichend bezahlten Lehrerstand und mustergültige Schulhäuser.
Die von von Rochow in seiner Gutsherrschaft im Dorf Reckahn bei der Stadt Brandenburg 1773 erbaute Landschule war die erste philanthropische Musterschule überhaupt.[8] Ihre bildungsgeschichtliche Bedeutung und Leistung liegt in der Übertragung des philanthropischen Bildungs- und Schulprogramms auf die ländlichen Verhältnisse. Wie der Philanthropismus insgesamt, so hat auch die Reckahner Schule die Sozialverfassung der ständischen Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Gleichwohl war das der Schulreform zugrunde liegende und durch von Rochow vertretene Menschenbild von einer positiven Sicht der unteren Klassen geprägt.
Vom Januar 1774 bis zu von Rochows Tod im Jahre 1805 vermerkte das Schülerverzeichnis in Reckahn 302 Einschulungen, 108 der eingeschulten Kinder waren Mädchen, 194 Jungen. Die 117 Eltern der Kinder arbeiteten zu 65% in der Land- und Forstwirtschaft, 10% waren Handwerker und 20% waren Bedienstete beim Gutsherrn oder der Kirche.
Zahlen und Besucherberichte belegten eindeutig die Vorbild- und Anregerfunktion der philantropischen Schule in Reckahn, die bis weit in das 19. Jahrhundert reichte.
Zunächst schuf von Rochow 1772 in dem „Versuch eines Schulbuchs für Kinder der Landleute oder zum Gebrauch in Dorfschulen“ ein Handbuch für Lehrer, das in kindertümlicher Form Gespräche und Lehrstücke über alles brachte, was der Lehrer in der Dorfschule behandeln sollte. Er ergänzte es dann durch ein spezielles Lesebuch für Kinder, den „Bauernfreund“. Es sollte die Lücke zwischen Fibel und Bibel ausfüllen und die Grundlage für den ganzen Schulunterricht sein. Es war schon zu seiner Zeit das bekannteste, meistgebrauchte Lesebuch (in ca. 100.000 Exemplaren verbreitet) und wurde noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts benutzt. Damit trug von Rochow vom Didaktisch-Schulischen her zur Schaffung der Kinder- und Jugendliteratur bei.[9]
In Rochows „Katechismus der gesunden Vernunft“ findet man eine Anleitung zum selbständigen Denken: „Frage: Was heißt lernen? Antwort: Sich Erkenntnis der Wahrheit verschaffen oder sich selbst zum Nützlichen tüchtig machen. Beispiel: (…) Bis an den Tod kann und soll der Mensch lernen, das ist zunehmen an nützlicher Erkenntnis, und immer tüchtiger werden oder zunehmen an Tugend und Geschicklichkeit zu guten Werken“. (…) Frage: Was heißt Vernunft? Antwort: Die (…) Fähigkeit, verständig werden zu können. Frage: Was heißt urteilen? Antwort: Darüber, ob etwas uns und anderen gut und böse, schädlich oder nützlich (…) vorkommen soll, entscheiden. Man kann nicht urteilen, ohne zu denken. (…) Wer schnell urteilt, ohne gehörig zu denken, der bemerkt oft zu seinem großen Schaden, daß er geirrt habe. Solche Urteile nennt man Vorurteile. (…) Durch richtige Erkenntnis lernt man recht urteilen. – Frage: Was heißt Verstand? Antwort: Die durch Lernen und Üben zum zweckmäßigen Gebrauch oder recht angewandte Vernunft. Wer viel Nützliches versteht, der hat Verstand. – Frage: Was heißt abergläubig sein? – Antwort: Wirkungen behaupten oder erwarten, dazu die Ursachen fehlen.“
Ferner gestaltete er mit Hilfe seines Mitarbeiter Bruns die Schule in Reckahn zu einer Musteranstalt. Zu ihr kamen lange Jahre hindurch viele Pädagogen, um ihren Geist kennen zu lernen und weiterzuverbreiten. Dank von Rochows Einfluss wurde 1778 auch das Lehrerseminar in Halberstadt gegründet.

Literatur – Basedow, J. B.: Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme und reiche, Leipzig 1774, in: Benner, D./Kemper, H.: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Weinheim 2000, S. 84-92
– Cramer, J.A.: Allgemeines Gesangbuch auf Königlichen Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinden des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, Altona 1780
– Dammer, K.-H.: Zur Integrationsfunktion von Erziehung und Bildung, Hamburg 2008
– Engbers, J.: Der „Moral Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland, Heidelberg 2001
– Freyer, M.: Rochows „Kinderfreund“, Hamburg 1989
– Hurrelmann B.: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit, Münster 1974
– Siegert, R.: Aufklärung und Volkslektüre, Berlin 1978
– Stille, O.: Die Pädagogik John Lockes in der Tradition der Gentlemen-Erziehung, Erlangen/Nürnberg 1970
– Von Rochow, F.E.: Geschichte meiner Schulen, Schleswig 1795
– Wohlers, H. (Hrsg.): John Locke: Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1990


[1] Dammer, K.-H.: Zur Integrationsfunktion von Erziehung und Bildung, Hamburg 2008, S. 8ff
[2] Basedow, J. B.: Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme und reiche, Leipzig 1774, in: Benner, D./Kemper, H.: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Weinheim 2000, S. 84-92, hier S. 84
[3] Vgl dazu Wohlers, H. (Hrsg.): John Locke: Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1990 oder Stille, O.: Die Pädagogik John Lockes in der Tradition der Gentlemen-Erziehung, Erlangen/Nürnberg 1970
[4] Engbers, J.: Der „Moral Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland, Heidelberg 2001
[5] Cramer, J.A.: Allgemeines Gesangbuch auf Königlichen Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinden des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, Altona 1780
[6] Freyer, M.: Rochows „Kinderfreund“, Hamburg 1989, S. 8
[7] Siegert, R.: Aufklärung und Volkslektüre, Berlin 1978, S. 152
[8] Vgl. dazu Von Rochow, F.E.: Geschichte meiner Schulen, Schleswig 1795
[9] Hurrelmann B.: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit, Münster 1974, S. 10

Finanzen

Über Michael Lausberg 545 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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