Friedrich Merz im Bundestag – Unser Land – braucht mutige, aber realistische Ziele

Emmanuel Macron hat uns Deutschen erneut die Hand sehr weit ausgestreckt

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Am Montag der letzten Woche hat der französische Staatspräsident Emmanuel Macron von dieser Stelle aus zu Ehren unseres verstorbenen Kollegen Wolfgang Schäuble eine – ich finde, das darf man auch heute noch einmal sagen – wirklich große Rede gehalten.

Emmanuel Macron hat uns Deutschen erneut die Hand sehr weit ausgestreckt. Er hat uns in seiner Rede geradezu aufgefordert, zusammen mit seinem Land, zusammen mit Frankreich, Führungsverantwortung in und für Europa zu übernehmen. Ein Blick auf die aktuelle Lage in der Welt, ein Blick auf die Krisen und die Kriege, mit denen wir nun auch in das Jahr 2024 hineingehen, zeigt uns: Deutschland sollte, ja, Deutschland muss diese aus- gestreckte Hand des französischen Staatspräsidenten jetzt ergreifen.

Deutschland muss gemeinsam mit Frankreich neue Initiativen erarbeiten, um die Handlungsfähigkeit Europas unter Beweis zu stellen. Liebe Kolleginnen und Kolle- gen, ich möchte uns daran erinnern, dass die letzte große deutsche Initiative für Europa aus dem Jahre 1989 stammt, also heute schon mehr als 35 Jahre alt ist. Im Zuge der Wiedervereinigung unseres Landes legte der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, abge- stimmt mit Frankreich, ein währungspolitisches Memo- randum vor, aus dem dann gut zehn Jahre später die Währungsunion wurde. Die letzte große industriepoliti- sche Initiative für Europa, die aus Deutschland kam, liegt mittlerweile fast 60 Jahre zurück. Es war im Jahr 1965 die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Airbus – so hieß sie damals – zwischen Deutschland und Frankreich, aus der dann, wie wir alle wissen, der größte europäische Luft- und Raumfahrtkonzern wurde.

Ich nenne diese Beispiele, weil sie zeigen: Die Zeit ist mehr als reif für Vorschläge in ähnlicher Dimension und mit vergleichbarer Tragweite – Vorschläge, die vor allem von Deutschland und Frankreich auf den Weg gebracht werden müssen.

Erlauben Sie mir, dass ich hinzufüge: Das wären auch Vorschläge, die uns Europäer vorbereiten auf einen mög- lichen Wechsel im Weißen Haus in Washington. Ich will zwei sehr konkrete Beispiele nennen:

Was früher die Währungspolitik war, muss heute im Interesse Europas die Außen- und die Sicherheitspolitik sein. Deutschland und Frankreich müssen enger zusam- menarbeiten und auf dem Weg hin zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik so früh wie möglich andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union mitein- (C) beziehen, nach dem Regierungswechsel in Polen vor allem die neue polnische Regierung. Diese gemeinsame Verteidigungspolitik, meine Damen und Herren, muss von Anfang an die Rüstungspolitik, die Beschaffung und die militärische Unterstützung der Ukraine beinhalten.

Was früher die Luft- und Raumfahrtindustrie war, müs- sen heute die Unternehmen der Digitalwirtschaft, der Telekommunikation und die Banken sein. Deutschland und Frankreich sollten so bald wie möglich Verabredun- gen darüber treffen, wie denn in diesen und anderen Sek- toren wirklich europäische, weltweit wettbewerbsfähige Unternehmen entstehen könnten. Dazu muss das europäische Kartellrecht geändert werden; denn der sogenannte relevante Markt für diese Unternehmen ist längst nicht mehr allein Europa oder schon gar nicht der einzelne Mitgliedstaat, sondern der globale Markt, auf dem europäische Unternehmen wettbewerbsfähig sein müssen.

Zu allen diesen strategischen Fragen, zu dieser strategischen Neuausrichtung Europas sollte das Format des Weimarer Dreiecks wiederbelebt werden, am besten mit einer sehr bald aus- gesprochenen Einladung der deutschen Bundesregierung nach Weimar, um von dort aus den Weg hin zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und auch hin zu einer gemeinsamen europäischen Industriepolitik zu beschreiten.

Deutschland sollte diese Aufgabe aus einer Position der Stärke und der Verantwortung zugleich übernehmen. Voraussetzung dafür ist, dass Deutschland seine Wachstumsschwäche überwindet. Diese Wachstumsschwäche, meine Damen und Herren, hat ganz überwiegend strukturelle Gründe und hängt zusammen mit Standortbedingungen, die in mehrfacher Hinsicht unzureichend sind. Ich will es auf einen ganz einfachen Nenner bringen: Die Arbeitskosten in Deutschland sind zu hoch. Die Bürokratielasten werden immer drückender. Die Energieversorgung ist zu einseitig auf Wind und Sonne ausgerichtet, und die Steuerlast der Unternehmen ist im internationalen Vergleich ebenfalls zu hoch.

Spielräume in den öffentlichen Haushalten lassen sich erzielen, wenn Sozialleistungen unseres Landes auf die konzentriert werden, die sie wirklich brauchen, wenn die Lohnzusatzkosten wieder bei 40 Prozent gedeckelt wer- den und wenn die gesamte Last der Transformation hin zur Klimaneutralität unserer Volkswirtschaft nicht allein über Subventionen aus den staatlichen Haushalten finanziert wird.

Lassen Sie mich das etwas konkreter machen. Wir sollten in Zukunft in der Sozialpolitik wieder stärker unterscheiden zwischen beitragsfinanzierten Lohnersatzleistungen und steuerfinanzierten Sozialleistungen. Lohnersatzleistungen, für die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Beiträge gezahlt haben, dienen der Überbrückung einer begrenzten Zeit der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Erhalt des Lebensstandards. Steuer- finanzierte Sozialleistungen dienen der Gewährung des Existenzminimums und eines Minimums an sozialer Teil- habe. Und nur, wenn zwischen Arbeitseinkommen und Sozialleistungen ein hinreichend großer Abstand besteht, wird die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch hinreichend belohnt. Deshalb ist das System „Bürgergeld“ das genaue Gegenteil von dem, was wir jetzt brauchen, um diese Leistungsbereitschaft unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder zu fördern. Dieser Befund wird durch empirische Erhebungen bestätigt.

So schreibt Renate Köcher in der letzten Woche in ihrer monatlichen Erhebung: „Wenn die Sozialpolitik … zu einer Annäherung von Unterstützungs- und Erwerbseinkommen führt, verliert sie an Vertrauen und Unterstützung, und zwar besonders in der Mittelschicht und in den schwächeren sozialen Schichten.“

Gerade Sie von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands waren einmal die Partei der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie sind zu einer Partei der subventionierten Arbeitslosigkeit geworden und sind heute nicht mehr eine Partei der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Wir sehen in unserem Land die gleichen Fehlsteuerungen in einer Energie- und Klimapolitik, die vor allem auf umfangreiche Förderprogramme und auf staatliche Subventionen setzt. Der Weg hin zu einer klimaneutralen Volkswirtschaft und zu der dafür benötigten Infrastruktur lässt sich nicht allein über öffentliche Haushalte beschreiten.

Dieses Land – unser Land – braucht mutige, aber realistische Ziele. Unser Land wird den Wettbewerb auf der Welt nur gewinnen, wenn wir aufhören, alle anderen zu belehren und immer wieder einen Sonderweg zu suchen.

Wir brauchen Wirkungsmechanismen über den Preis wie mit der Bepreisung des Schadstoffausstoßes, und wir brauchen in erheblichem Umfang privates Kapital für den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere des benötigten Leitungsnetzes.

Das alles, was ich hier gerade beschreibe, geht nicht ohne einen tieferen und einen breiteren europäischen Kapitalmarkt. Und auch dazu wird Frankreich zusammen mit uns und anderen ohne Zweifel bereit sein.

Nun werden Sie spätestens an dieser Stelle fragen, was diese Themen denn mit Ihrer Koalition und Ihrem heute hier zur Abstimmung gestellten Bundeshaushalt zu tun haben. Ich will Ihnen die Antwort geben: Gar nichts. Sie haben gar nichts damit zu tun.

Wir sind nämlich, meine Damen und Herren, in allen wesentlichen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Arbeitsmarktpolitik, der Innen- und Rechtspolitik und nicht zuletzt der Asyl- und Einwanderungspolitik vollkommen anderer Meinung als Sie, und zwar nicht im Detail, sondern im Grundsatz, im Grundsätzlichen. Und das ist ganz einfach der Grund dafür, dass wir darauf verzichtet haben, in den Haushaltsberatungen irgendwelche Änderungsanträge zu stellen.

Wir wissen doch, wie das geht: Wir stellen die Anträge, Sie lehnen alle Anträge ab.

Sie addieren die Summen unserer Anträge und halten uns dann hier im Deutschen Bundestag im Plenum vor, wir hätten noch höhere Ausgaben vorgeschlagen.  Das ist doch genau der Wirkungsmechanismus, den wir von Ihnen immer wieder hören. Wenn Sie es so nicht verstehen – nein –, dann will ich es Ihnen etwas salopper sagen: Wenn Sie, meine Damen und Herren, die Jacke unten falsch einknöpfen, dann diskutieren wir nicht mit Ihnen, wie groß denn der Knopf oben im letzten Loch sein sollte. Diese Diskussion führen wir mit Ihnen nicht, ganz einfach.

Im Übrigen: Wir haben in den letzten zwei Jahren immer wieder und so gut wie in jeder Sitzungswoche unsere Vorstellungen und unsere Änderungsanträge hier im Deutschen Bundestag eingebracht. Sie haben bis zum heutigen Tag ausnahmslos alle abgelehnt.

Damit hier kein Missverständnis entsteht: Das ist Ihr gutes Recht. Sie haben hier zurzeit die Mehrheit. Aber bitte ersparen Sie sich und uns doch in Zukunft Ihre Aufrufe zur Zusammenarbeit. Diese Aufrufe sind nichts anderes als reine politische Rhetorik. Sparen Sie sich und uns die Zeit!

Und wenn Sie es noch etwas genauer haben wollen: Da, wo wir Sie bitten – wie in der vorletzten Woche geschehen –, doch einmal innezuhalten und die Tragweite Ihrer Entscheidungen noch einmal zu überdenken, machen Sie von Ihrer Mehrheit hier im Haus kaltschnäuzig und rücksichtslos Gebrauch, wie zum Beispiel beim Staatsbürgerschaftsrecht oder, wie wieder in dieser Woche, beim Wahlrecht.

Und den Deutschlandpakt Migration haben wir nicht gekündigt, den haben Sie aufgekündigt. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre zeigen, dass Sie an einer wirklichen Zusammenarbeit mit uns nicht wirklich und ernsthaft interessiert sind. Im Gegenteil: Da, wo wir Ihnen, wie beim „Sondervermögen Bundeswehr“, zugestimmt haben, halten Sie sich anschließend nicht an die mit Ihnen verabredeten Vereinbarungen.

Und deshalb, meine Damen und Herren, sind wir auch sehr zurückhaltend, wenn es um weitere Änderungen des Grundgesetzes geht. Ich stelle Ihnen eine Zustimmung dazu heute grundsätzlich nicht in Aussicht. Und ich schließe eine Zustimmung meiner Fraktion zu einer Aufweichung der Schuldenbremse des Grundgesetzes heute, von dieser Stelle aus, erneut aus. Damit können Sie nicht rechnen. Wir sagen stattdessen unserer Bevölkerung: Die Aufgaben, vor denen wir stehen, lassen sich lösen, auch ohne zusätzliche Abgaben und ohne neue Schulden.

Denn die Wählerinnen und Wähler der AfD sind nicht alle rechtsradikal.

Machen wir ein kurzes Gedankenspiel: Stellen wir uns doch einmal einen kurzen Augenblick vor, wir hätten in Deutschland eine Regierung, die wenigstens – die Ansprüche sind gar nicht so hoch – mittelmäßig gut regieren würde und die im langjährigen Mittel in unserer Bevölkerung halbwegs angesehen und respektiert wäre. Kann sich irgendjemand hier im Haus vorstellen, dass die AfD unter solchen Umständen innerhalb von zwei Jahren von 10 auf 20 Prozent in Deutschland angewachsen wäre?

Die Lösung des Problems besteht also offensichtlich darin, dass Sie die Probleme unseres Landes lösen. Dafür sind Sie gewählt, und dafür sitzen Sie in der Regierung. Aber von einer Lösung der Probleme in Deutschland sind Sie zu Beginn des Jahres 2024 noch weiter entfernt als zum Ende des Jahres 2023. Vor allem: Sie bekommen die Flüchtlingskrise nicht in den Griff.

Die Umsetzung der Beschlüsse mit den Ministerpräsidenten verläuft zäh und träge. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: die Einführung der Bezahlkarte, die vor allem an dem systematischen Widerstand von SPD und Grünen in Deutschland scheitert. Dazu müssen allerdings die Prioritäten der Staatsaus- gaben neu geordnet werden.

Noch vor der Sicherung unseres Wohlstands muss die Bewahrung unserer Freiheit gegen alle Angriffe von innen und von außen die absolute Priorität haben. Nur in Freiheit lässt sich der Friede sichern, nur in Freiheit wird die Ukraine überleben, und nur in Freiheit kommt auch der Staat Israel hoffentlich eines Tages wieder zur Ruhe.

Freiheit und vor allem Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit sind auch die Voraussetzungen für den inneren Frieden in unserem Land. Dafür gehen die Menschen in diesen Wochen in vielen Hundert Städten in Deutschland zu Tausenden auf die Straße, vor allem, um gegen Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus zu demonstrieren.

Wir begrüßen das ausdrücklich. Denn das Treffen der AfD und anderer Rechtsextremisten in der Villa Adlon in Potsdam hat offenbar doch einer größeren Zahl von Bürgerinnen und Bürgern über den wahren Charakter dieser Partei und ihrer Funktionäre die Augen geöffnet.

Das Erstarken und das Anwachsen des Rechtsradikalismus in Deutschland besorgen uns wie viele andere hier im Haus und im Land insgesamt wirklich sehr. Aber wir sollten weniger Zeit mit Abscheu und Empörung verbringen, als vielmehr nach den tieferen Gründen suchen, warum wir in dieser Lage sind.

Da, wo sie eingeführt wurde, nämlich in einigen Landkreisen auf Initiative der dortigen Landräte, sinkt die Zahl der Asylbewerber über Nacht, weil einer der wesentlichen Aufenthaltsgründe, nämlich der Bezug von Bargeld, plötzlich nicht mehr gegeben ist. So könnte es in ganz Deutschland gehen, wenn Sie sich an die Verabredungen halten würden, die Sie mit den Ministerpräsidenten des ganzen Landes, mit allen 16 Ministerpräsidenten, geschlossen haben.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aber zur Klarstellung für unsere Bundestagsfraktion und auch für die beiden sie tragenden Parteien hier noch einmal Folgendes sehr unmissverständlich sagen: Mit uns gibt es keine Rückkehr zum Nationalismus in Europa. Die Europäische Union hat ihre Stärken und ihre Schwächen; aber sie ist vor allem die Grundlage für Freiheit, Frieden und Wohlstand auf unserem Kontinent, gerade in Deutsch- land. Wir werden nicht zulassen, dass diese Grundlage zerstört wird.

Und: Wir stehen zur transatlantischen Partnerschaft. Putins Russland ist kein Partner für uns, sondern der Feind auch unserer Freiheit. Keiner politischen Gruppierung, die diese fundamentalen Überzeugungen infrage stellt, werden wir unsere Hand reichen. An diesen Überzeugungen endet jeder Kompromiss.

Ein letztes Wort zu Ihnen, von der sogenannten Alternative für Deutschland: Sie haben in den letzten Tagen und Wochen Ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie machen gezielt und seit langer Zeit geplant gemeinsame Sache mit Rechtsextremisten jedweder Herkunft. Ihre Netzwerke umfassen identitäre Bewegungen genauso wie sogenannte Reichsbürger. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus gehen bei Ihnen Hand in Hand, ebenso wie enge Beziehungen zu Russland und ein tiefsitzender antiamerikanischer Komplex. Unsere Botschaft an Sie, die Sie da drüben ganz rechts sitzen, ist klar und eindeutig: Genug ist genug!

Sie sind nicht die Alternative für Deutschland. Sie wären der endgültige Abstieg für Deutschland, und zwar gar nicht mal nur wirtschaftlich, sondern vor allem moralisch. Und diesem Abstieg werden wir uns mit aller Kraft, die uns zur Verfügung steht, entgegenstellen.

Das Spiel bei Ihnen geht jetzt zu Ende.

Quelle: https://dserver.bundestag.de/btp/20/20150.pdf

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