Gregor Gatscher-Riedl: Von Habsburg zu Herzl

Von Habsburg zu Herzl“: Gregor Gatscher-Riedl legt mit diesem Buch ein studentengeschichtliches Desiderat sondergleichen vor. Die wichtige und heilsame Erinnerung an die jüdischen Verbindungen ist dabei das eine, der höchst aktuelle Blick auf Israel das andere – wurde diese Nation doch von der Idee des Zonismus bis zur Staatsgründung durch Korporierte maßgeblich gestaltet.

Natürlich ist bekannt, daß es jüdische Korporationen gab. Natürlich gibt es dazu immer Forschungen und knappe, hier und da sich wiederholende Erklärstücke, die auch aktuell immer wieder erscheinen – der Rezensent nimmt sich selbst dabei nicht aus. Anders dieser Band. Hier fallen Faktenfülle und Themendichte schon beim Studium des Inhaltsverzeichnisses auf. Verblüffend ist der thematische Rahmen. Sowohl der Ausgangspunkt, also das Habsburgerreich, als auch der Zeitrahmen – also exakt das Jahrhundert bis zur Staatsgründung Israels – sind gekonnt gesetzt.

Schon die Gesteltung des Titelbildes verspricht viel, und Gregor Gatscher-Riedl enttäuscht seine Leser nicht. Im Bild ein Aktiver der Barissia Prag bei der Vorbereitung zu einer Säbelmensur, 1933.

Den opulent gestalteten, fest eingebundenen und mit einer Fadenheftung versehenen Band adelt der Doyen der Forschung zu den Quellen der jüdischen Verbindungen, Harald Seewann, mit einem Vorwort. Zudem ist ein Prolog vorangestellt, der einiges von einer Rezension vorwegnimmt: Der EU-Parlamentarier Lukas Mandl, ÖVP, bezeichnet darin die Spreche, die Gatscher-Riedl anschlägt, als „knackig“ – der Rezensent schließt sich schmunzelnd an. Nochmals Mandl, überaus treffend: „¸Von Habsburg zu Herzl’: Allein diese vier Worte schärfen innere Bilder zu geschichtlichem Wissen (…).“ Denn der farbentragende Student mit Band und Mütze, der im deutschsprachigen Raum bis in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts als idealtypische Verkörperung des akademischen Lebens galt – er war eben auch jüdisch. In Wien, Prag und Brünn war das selbstverständlich, in Czernowitz sollte das jüdische Korporationswesen sogar eindeutig prägend werden, und auch im Deutschen Kaiserreich waren jüdische Verbindungen binnen weniger Jahre selbstverständlich. Der wirklich bmerkenswert gute Prolog zum Buch ist unten, im Anschluß an diese Rezension, im vollen Wortlaut wiedergegeben.

Die Grundlage für das Verständnis der „jüdischen Frage“ legt Gatscher-Riedl mit einem Kapitel über die Nationwerdung Israels, das für sich genommen bereits konzentriertes Wissen darstellt, in diesem Buch aber einen Altan darstellt, unter dem sich die Geschichte des jüdischen Korporationswesens abspielt. Eine Dynamik wird sichtbar. Der Kral-Verlag, in dem das Buch erschien, formuliert: „War beim Engagement jüdischer Studierender zunächst das Unsichtbarwerden im habsburgischen Vielvölkerstaats das Ziel, so formte sich innerhalb der nationalen Bewegungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Selbstwahrnehmung als ethnische Gruppe heraus.“ Ein Kapitel über die jüdischen „Lese- und Redehallen“ und eines zur überregionalen Netzwerkbildung jüdischer Interessenvertreter ergänzen diesen hinführenden Teil, bevor es dann, und der Studentenhistoriker hat natürlich schon darauf gewartet, um die Geschichte der jüdischen Studentenverbindungen geht.

Couleurkarte mit den Wappenschilden aller Prager Verbindungen, um 1895, rund vier Jahrzente vor der unwiederbringlichen Zerstörung dieser Kultur

Zuerst war die Begeisterung für das Couleur, dann aber war es auch ein national-jüdisches Selbstbewusstsein, aufgrund dessen sich die jüdischen Studenten in studentischen Verbindungen organisierten. Dieses Selbstbewusstsein wurde geradezu herausgefodert, denn in Österreich-Ungarn grassierte in der zweiten hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend der Antisemitismus, der zunächst gesellschaftlich ausgrenzend, dann aber immer stärker rassistisch geprägt war. Wortführer der Judenfeinde war der niederösterreichische Politiker Georg von Schönerer. Die jüdischen Studenten reagierten – zuerst wurde die J. A. V. Kadimah gegründet, mehrere hundert weitere jüdische Verbindungen sollten folgen. Was für eine Geschichte – spannend und bestens nachvollziehbar wird sie hier erzählt!

Prag war bis zur Abenddämmerung des kulturellen Europa und dem Aufstieg des schwarzen Sterns des Antisemitismus ein ganz besonderes Pflaster. Hier kreuzten sich jüdische Kultur und Deutschtum auf eine besondere Weise. Von deutschen Nationalismus kann hier nicht gesprochen werden – unstrittig ist Prag der geistige und administrative Mittelpunkt Böhmen, der heutigen Tschechei. Aus der sorgfältigen und detailreichen Schilderung Gatscher-Riedls läßt sich vielmehr ablesen, daß es hier um eine Liebe zur deutschen Kultur an sich ging. Und gerade hier wird besonders deutlich, wie entsetzlich der Verlust ist, den die beiden schlimmsten Ausprägungen des Sozialismus, der Kommunismus und der Nationalsozialismus, der europäischen Kultur zugefügt haben. Denn das Deutschtum in Prag – es war Europäertum im besten Sinne. Leser dieser Rezension, die diese Zeilen für übertrieben halten, sind angehalten, sich von Gregor Gatscher-Riedl eines besseren belehren zu lassen.

Zwei Kapitel zu den jüdischen Korporierten in Brünn, der alten mährischen Hauptstadt, die fast ganz aus unserem Blick entschwand, und dem jüdischen Leben im alten, zur k.u.k.-Monarchie gehörigen Ungarn schließen sich an. Die lobenden Worte, die für das Prag-Kapitel stehen, könnten hier wiederholt werden, doch dessen bedarf es wahrlich nicht, denn die Qualität dieses Buches spricht für sich. Stattdessen sei auf eine gesamteuropäische Erkenntnis hingewiesen: Ein kulturelles Band zwischen den Staaten Mittel- und Osteuropas bildete das Judentum, und es ist zerrissen. Wie wirkmächtig und über allen Nationalismus erhaben dieses Band war, läßt sich an Gatscher-Riedls Fundstücken aus der alten polnischen Königsstadt Krakau und der Perle Galiziens, Lemberg, ablesen.

Jüdisch, korporiert, stolz: Emunah Czernowitz, 1922

Bliebe noch Czernowitz, das „Jerusalem am Pruth“. Dieses Kapitel ist eine knapp gefaßte Version des Czernowitz-Buches, das der Autor vor kurzem vorlegte. Es wurde auf dieser Webseite bereits ausführlich besprochen und kann hier nur nochmals wärmestens allen Lesern ans Herz gelegt werden.

Dieser reich bebilderte Band bietet enorm viele Fakten. Für Leser, denen die heutigen ebenso wie die vergangenen studentischen Farbenwelten fremd sind, werden knappe, aber absolut ausreichende Hinweise im Text gegeben.. Auf 323 Seiten finden jedoch die Kenner des jüdischen Korporationswesens immer neue Hinweise – hier wird ein kohärentes Bild eines Verbindungswesens gezeichnet, das über nationale Grenzen hinweg vernetzt war. Auch kommt in verschiedenen Kapiteln zur Sprache, daß bei aller Gemeinsamkeit durch den Glauben die jüdischen Korporation untereinander sehr distanziert waren und sich teils sogar feindlich gegenüberstanden – speziell die zionistische und die nationale Richtung standen in ständigem Konflikt.

Gregor Gatscher-Riedl hat sehr gründlich gearbeitet. Er begrenzt sich nicht auf die großen Universitätsstädte mit vielen jüdischen Verbindungen, sondern blickt auch in Provinz, wo in Ferialverbindungen ebenfalls das jüdische Korporationsleben blühte – wobei das Phänomen dieser jeweils in den Semesterferien belebten Verbindungen, auch das erwähnt der Autor, keinesfalls auf jüdische Studenten beschränkt war. Insbesondere die in Schlesien und Mähren besonders häufigen Ferialverbindungen würdigt Gatscher-Riedl – hier begegnet uns das regionale Milieu, dem zum Beispiel auch ein Fritz Löhner-Beda entstammt. Den Schlusspunkt bildet ein erstaunlich „farbenfrohes“ Kapitel über jüdische Schülerverbindungen, die Gatscher-Riedl zurecht als „vergessene Facette der österreichischen Studentengeschichte“ tituliert.  

Die jüdischen Verbindungen machten sich den von Theodor Herzl vorgedachten Weg zur staatlichen Selbständigkeit mit praktischer Tatkraft zu eigen, und sie wurden die wahrscheinlich wirkmächtigste Gruppe des europäischen Zionismus, der ein Wiedererstehen des jüdischen Staates nach rund 1.800 Jahren ermöglichte. Dies ist eine äußerst wichtige Komponente der europäischen Geschichte des langen 19. Jahrhunderts. Dieses Buch ist schon deswegen höchst wichtig – umso erfreulicher, daß es rundum hervorragend gelungen ist.

Kobinian Bärwald

Gatscher-Riedl, Gregor, Von Habsburg zu Herzl – Jüdische studentische Kultur |in Mitteleuropa 1848 – 1948, Berndorf (Österreich) 2021, 324 Seiten,  geb. mit Lesefaden, zahlreiche Abbildungen, 978-3-99024-954-3.

Prolog

Dieses Buch hat gefehlt. Es ergänzt unser Wissen darüber, was durch das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte – die Schoa – für immer verloren gegangen ist, um wesentliche, farbenfrohe, Facetten. Die Sprache, in der das geschieht, die der Autor zugunsten der Lesefreude mit Leichtigkeit beherrscht, kann ich nur als „knackig“ bezeichnen.

Das beginnt schon beim Titel und setzt sich fort bei den Überschriften der Kapitel. „Zwischen Habsburg und Herzl“: Allein diese vier Worte schärfen innere Bilder zu geschichtlichem Wissen, zu Vorstellungen darüber, wie es gewesen sein mag, zur Dreyfus-Affäre, die zu Herzls Ent-Täuschung entscheidend beigetragen hat Die Dreyfus-Affäre muss wie ein Mahnmal darüber, wie jenseitig und böse Antisemitismus ist und sich durch Gesellschaften frisst, im historischen Bewusstsein stehen und wirken. Die Dreyfus-Affäre war in Frankreich. Aber nirgendwo hat der Antisemitismus eine so bestialische Form angenommen wie in Österreich und Deutschland.

Ein Unterschied zwischen den titelgebenden Namen könnte größer nicht sein: Das Habsburger-Reich ist Geschichte. Der von Herzl vorgedachte Staat hat Zukunft und ist Zukunft – übrigens nicht nur für Bürgerinnen und Bürger Israels, sondern für den Nahen Osten, für Europa und letztlich für die ganze Welt.

Diese Zukunft baut Israel unter anderem durch eine Sicherheitsarchitektur, die auch uns täglich schützt, sowie eine wirtschaftliche Entwicklung, die auch uns täglich nützt; das alles auf der Basis jener Werte, auf denen wir die liberalen Demokratien errichtet und entwickelt wissen wollen: jenen der Menschenwürde und der Freiheitsrechte.

Wem das nicht in den Kram passt – und das sind innerhalb und auch außerhalb Europas nicht zu unterschätzende Kräfte – bedient sich einer besonders perfiden Form des Antisemitismus, nämlich jener der Antizionismus, der Infragestellung des Existenzrechts des Staates Israel oder der Anwendung doppelter Standards für den Staat Israel. Dagegen gilt es anzukämpfen.

Nicht nur deshalb gilt: Wie jedes gute historische Werk könnte das vorliegende Buch aktueller nicht sein. Man soll nicht so tun, als wäre das wiederbringlich, was durch die Holocaust-Verbrecher, die ja in weit überwiegender Zahl „Leute von nebenan“ waren, an Leben – im physischen und auch im kulturellen Sinn – zerstört wurde. Das ist es nicht. Aber das Wissen aus diesem Buch ist nicht nur kurzweilig, sondern es gehört vor allem zum „Niemals vergessen“ und daher zum „Niemals wieder“, zum lebenslangen Suchen und Lernen, und ist eine entscheidende Lehre für uns und kommende Generationen.

Mag. Lukas Mandl

Mitglied des Europäischen Parlaments (lukasmandl.eu)