Städtische Galerie Rosenheim: Berge, Seen, Wolkentürme

August Seidel: Alm bei Mondschein, 1849 in Öl auf Leinwand gemalt, auch abgebildet im Begleitbuch (Seite XIX) Foto: Hans Gärtner

Schönheit und Erhabenheit der gemalten süddeutschen Landschaft des 19. Jahrhunderts – zu bewundern in der Städtischen Galerie Rosenheim.

Raus aus der Stadt, rein in die Natur! Das sagten sich vor 200 Jahren die Münchner Maler nicht nur, sondern sie zogen, wann immer es ging, in die freie Landschaft, die vor ihren Toren lag. Franz Seidel, einer von ihnen, der zwischen 1818 und 1903 lebte und in München zuhause war, benannte seine Atelier-Ausflüge heilbringende Naturkuren für Körper und Seele. Nicht anders dachte sein zwei Jahre jüngerer Bruder August, der Franz um zwei Jahre überlebte. Ihm und etlichen seiner Berufskollegen samt Brüderlein ist eine großartige Gemälde-Schau in der Städtischen Galerie Rosenheim gewidmet: „Sehnsuchtsblaue Ferne!“ heißt sie mit überschwänglicher Romantik-Geste.

Man betritt die Räume und ist sogleich in der Natur rund um Rosenheim mit ihren baumbestandenen, von Gipfeln gekrönten und Seen, Sümpfen und Flüssen durchfeuchteten Landschaften. Sie werden von schweren Rahmen eingefasst. Manche sind so ausufernd in ihrem Sujet, dass sie gar mit einem Blick nicht zu erfassen sind. Spaziergänge gewähren sie dem zum Innehalten bereiten Auge, zum Verweilen und Sich-Hingeben und -Hineinversetzen in die Stille des von der Natur ergriffenen Menschen des vorindustriellen 19. Jahrhunderts. Man zehrt von dieser vorgefundenen Anhäufung von Schönheit und Erhabenheit, die „Mutter Natur“ ihren Kindern vor Zeiten noch anbot, ohne Technik, ohne Beton, ohne Regulierungen.

Wer hier in den Genuss unberührter, teils beruhigender, aber auch bedrohlicher Naturkraft kommen will, braucht Zeit. Schon deshalb, weil er über 100 Werke vor sich hat, die ihn eher trunken machen als zum Durchatmen kommen lassen. Die meisten Bilder: Trümmer. Große Ausmaße. Darunter auch ergötzliche Kleinformate. August Seidel war malender Alpinist. Zog nie ohne Farbkasten und Skizzenblock in die „sehnsuchtsblaue Ferne“. Daheim malte er in Öl und auf riesige Leinwände, was er seinen Notizen entnahm.

Die Seidels und deren genauso verfahrende Zeitgenossen – von Achenbach über Spitzweg, Ludwig Sckell und Friedrich Voltz bis Albert Zimmermann – verzichteten bewusst auf das Aufzeigen der harten Wirklichkeit der Bauersleute und Wilderer bewusst. Man sollte als Betrachter seine Fern-Sehnsüchte frei von Angstschweiß und drückenden Sorgen erleben dürfen, im Anblick wuchernden Grüns und blühender Wiesen, glitzernden Gipfelschnees und friedlicher Gewässer.

Frank Messner, Chef der „Forschungsstelle August Seidel“, gibt eine kurze Antwort auf die Frage, wie „dem Betrachter von zweidimensionalen Landschaftsgemälden eine so komplexe Empfindung wie Sehnsucht fühlbar gemacht werden“ könne: durch eine Kombination von Ruhe und Fernsicht“. Das gedämpfte Licht, das eine tiefstehende Sonne über Hügel und Felder schickt, verstärkt das Wohlgefühl, das den Betrachter durchströmt, der sich von August Seidels düster-geheimnisvoller „Alm bei Mondschein“ von derselben Stimmung ergreifen lässt, die ihm von Caspar David Friedrichs menschenleeren Szenerien und archaischen Fels-Kulissen bekannt sind. Im Idealfall, so Meißner, könne in dieser Ausstellung „das Bedürfnis, das die Landschaftsmaler mit ihren Werken bedienten“, nacherlebt werden.

Das im Verlag Anton Konrad erschienene Ausstellungs-Begleitbuch mit 146 Seiten und fast 180 farbigen Gemälde-Wiedergaben im Format 28 x 28 cm (24,80 Euro) empfiehlt sich zu Einführung und Nacharbeit. Die Rosenheimer Galerie zeigt die Schau bis 12. Mai täglich außer Montag von 13 bis 17 Uhr.

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.