Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellt die Bundesregierung vor große Probleme

urteil richter richterhammer auktionshammer auktion, Quelle: TPHeinz, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig
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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellt die Bundesregierung fraglos vor große Probleme, denn viele der bereits beschlossenen Maßnahmen stehen nun auf der Kippe, weil ein veritables Loch von 60 Milliarden Euro im Haushalt deren Finanzierung in Frage stellt. Das Urteil ist in der Sache wohlbegründet. Die Feststellung einer Notlage und die daraus begründete Freigabe zusätzlicher, über die Schuldenbremse hinausgehender, Mittel muss selbstverständlich in einer sachlogischen Beziehung zu der Verwendung dieser Mittel stehen. Alles andere hätte die Glaubwürdigkeit der Politik beschädigt. Dass die Regierung als Exekutive nicht alles darf, was sie will, auch wenn sie die parlamentarische Mehrheit hat, ist eine sehr bedeutsame Beschränkung der Regierungsmacht in Demokratien. Sie nennt sich Gewaltenteilung. Und auch eine Schuldenbremse im Grundgesetz kann helfen, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Wünsche der Politik grundsätzlich grenzenlos sind. Politik glaubt immer, mehr über die Zukunft zu wissen, als sie es tut. Dies führt gewöhnlich dazu, dass eigentlich jede Regierung meint, Investitionen in die Zukunft seien gerade jetzt besonders sinnvoll. Finanzierungsspielräume werden in die Gegenwart vorgezogen, das Risiko von Fehlinvestitionen auf die Zukunft überwälzt. Gerade bei Klimainvestitionen ist nicht sicher, welche Rendite diesen in Zukunft wirklich gegenübersteht, stehen sie doch unter dem Vorbehalt, dass der Klimaschutz global erfolgreich sein wird. Dass die Schuldenbremse in der jetzigen Form gleichwohl reformbedürftig ist, steht auf einem anderen Blatt. Doch auch bei einer Reform gilt, dass fiskalische Spielräume nicht die Knappheit realer Ressourcen und damit ökonomische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen können. Falsche Investitionen sind teuer und zu viele wirken inflationär.

Transformation neu denken

Und doch ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kein Grund zur Häme, sondern Anlass, über den bisherigen Ansatz der Politik nachzudenken, denn richtig erfolgreich war sie auch mit viel Geld nicht. Wenn das Land heute nicht auf die Zukunft vorbereitet ist – und es ist tatsächlich weit davon entfernt –, dann ist das nicht die Folge der letzten zwei, sondern der letzten zwanzig Jahre: massive Defizite in der Bildung, mangelnde Verteidigungsfähigkeit, die Energiewende hinkt weit zurück, sowohl die digitale als auch die ökologische Transformation stecken im unnachgiebigen Griff der Bürokratie fest. Und doch ist es in erster Linie nicht das nun plötzlich fehlende Geld, das schuld an der Misere des Landes ist. Denn teuer wird es zumeist erst dadurch, dass man schon lange vorher den Pfad nachhaltiger Finanz- und Wirtschaftspolitik verlassen hat. Und tatsächlich wurde spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2008 im Wesentlichen kurzfristige Krisenpolitik mit viel nachfragewirksamem Geld und wenig angebotspolitischen Reformen gemacht. Das geht vielleicht für ein paar Jahre gut, nicht aber über zwei Jahrzehnte. Und nun sollten die großen Transformationen, vor allem die Klimapolitik, im Wesentlichen mit viel Geld vorangetrieben werden. Industriepolitik bezeichnet den gezielten Eingriff in Märkte. Bestimmte Geschäftsmodelle oder Industrien sollen dadurch im Strukturwandel „gegen den Markt“ geschützt oder entwickelt werden. So verstanden aber ist Klimapolitik kein industriepolitisches, sondern ein ordnungspolitisches Anliegen: Es geht um die dauerhafte und prinzipielle Durchsetzung von Klimaschutz „im Markt“, gewissermaßen als ein Ordnungsprinzip des Wettbewerbs. Die Folge wäre ein stärkeres crowding-in privater Investitionen, als es bislang der Fall gewesen ist.

Transformation wurde dagegen politisch verstanden als eine Mischung aus starker Risikoübernahme durch den Staat, hohen Subventionen, ordnungsrechtlichen Ge- und Verboten (nicht zu verwechseln mit Ordnungspolitik!) und sehr bürokratischer Regulierung. Hinzu kommt, dass Maßnahmen in der falschen Reihenfolge beschlossen worden sind: Man ist aus fast allen Energiequellen ausgestiegen, bevor die Energiewende überhaupt in der Lage war, Versorgungssicherheit für ein Industrieland zu gewährleisten. Der Schock des Urteils nimmt im Grunde die Ernüchterung über diese Form der Transformationspolitik vorweg. Gute Transformationspolitik gibt ein klares Zielbild vor und erlaubt auf dem Pfad dorthin größtmögliche Innovations- und Anpassungsspielräume. Doch das genaue Gegenteil ist derzeit der Fall: Es fehlt das große handlungsleitende Bild, während die kleinteiligen, teils ideologischen Eingriffe neue Lösungen unterminieren. Legt man alle derzeitigen Regulierungen übereinander, bildet sich eine Schnittmenge, in der kaum ein bestehendes Geschäftsmodell überlebensfähig ist. Kein Wunder, dass man gleichzeitig von Resilienz und der Notwendigkeit von Subventionen spricht.

Polykrise und zerfallende Ordnungen

Die eigentliche Herausforderung der Politik aber ist noch weitaus größer. Von Polykrise ist die Rede, einer umfassenden, systemischen Krise, und von Zeitenwende, einem historischen, epochalen Umbruch. Die Welt erlebt eine Phase der akuten Instabilität. Eine hohe strukturelle Neigung zu Krisen und Konflikten besteht, weil keine Redundanzen und Reserven „im System“ mehr vorhanden sind. Latente Krisen brechen aus und schwelende Konflikte eskalieren. Die Vielzahl der Krisen ist dabei Ausdruck und Folge zerfallender Ordnungen. Ordnungen sind Konstruktionen der Wirklichkeit, die helfen, in einer prinzipiell komplexen und unsicheren Welt eine stabile und verlässliche Umgebung zu schaffen. Diese Ordnungen sind normalerweise strukturell stabil, das heißt, sie funktionieren auch unter sehr unterschiedlichen Umweltbedingungen. Die weitreichende Gültigkeit von Ordnungen liegt in ihrer Axiomatik und Normativität begründet. Durch ihre Grundannahmen und Werturteile machen Ordnungen sich von zufälligen Einflüssen und Ereignissen weitgehend unabhängig.

Die historische Zeit bringt jedoch fortwährend Veränderungen mit sich, vor allem durch technologische Umbrüche und geopolitische Machtverschiebungen, die, wenn sie besonders grundlegend sind, Ordnungen in Frage stellen können. Und so müssen Ordnungen immer wieder in der Lage sein, ihre jeweils historische Zeit zu kontextualisieren. Gelingt ihnen das nicht, werden sie fragil und die sie repräsentierenden Institutionen verlieren jenes Vertrauen, das die Ordnungen eigentlich bilden und schützen sollen. Der schon seit längerer Zeit zu beobachtende Vertrauensverlust ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Politik nicht in der erforderlichen Grundsätzlichkeit auf die Krisen und Konflikte reagiert, sondern zunehmend von regelbasierten zu diskretionären Maßnahmen übergeht. Die Krisenpolitik wirkt unsystematisch und aktionistisch, bleibt Stückwerk, auf Schadensbegrenzung beschränkt. Dabei geht es um Erneuerung, nicht um Protektion. Eine übergeordnete Idee, welche neuen Ordnungen wieder Stabilität und Zukunftsfähigkeit bringen könnten, sucht man vergeblich. Die Regulatorik ist dagegen von der irrigen Annahme getrieben, man müsse nur detailliert genug regulieren, damit jenes Ergebnis dabei herauskomme, welches man sich wünscht. Die Ursachen der Krisen liegen jedoch tiefer, nämlich auf der Ordnungsebene, und somit tiefer, als das oberflächliche politische Krisenmanagement reicht. Die Aufgabe der Politik ist somit größer und weitreichender: Es geht um neue Ordnungsideen für eine geopolitisch und technologisch völlig veränderte Welt.

„DeepPolicy“ – Europa auf der Suche nach neuen Ordnungen

Verschiedene Ebenen von Ordnungen bilden einen Ordnungszusammenhang: die geopolitische Ordnung mit ihrer Handels- und Sicherheitsordnung, die Wirtschaftsordnung mit ihrer Markt- und Wettbewerbsordnung und die Gesellschaftsordnung mit ihrer Freiheits- und Grundrechteordnung. Liberale Demokratie und Soziale Marktwirtschaft waren bislang harmonisch in eine friedliche europäische Integration und einen regelbasierten globalen Multilateralismus eingebettet. Die Sicherheitsordnung war zudem „westlich“ bestimmt, stand also in vollständiger Kongruenz mit den eigenen Werten. Dieser historisch einmalige Ordnungszusammenhang war über Jahre und Jahrzehnte die Grundlage für Wohlstand und Frieden in Deutschland und Europa gewesen. Diese Zeit geht nun unwiderruflich zu Ende. Die zerfallende geopolitische Ordnung hat ökonomische Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten Europas offengelegt, die Sicherheitsordnung des Kontinents ist durch Putins Krieg existentiell bedroht, der Klimawandel bringt die globale Verteilungsfrage nach Europa und die digitale Revolution erfordert eine technologische Souveränität, die Europa längst verloren hat.

Angesichts einer solchen komplexen Bedrohungslage müssen konzeptionell neue Formen und Qualitäten von Sicherheit und Resilienz entwickelt werden. Die strategische Souveränität muss gezielt gestärkt werden, um eigene Werte und Interesse durchsetzen, die neue globale Ordnung des internationalen Handels, des Klimawandels und der neuen Technologien mitbestimmen zu können. Dafür sind Infrastrukturen, Institutionen, Innovationen, Kompetenzen und Mentalitäten zu entwickeln. Ordnungspolitik ist in diesem Sinne nicht nur eine Politik, die innerhalb von Ordnungen agiert, sondern eine, die die Voraussetzungen für wieder stabile und zukunftsfähige Ordnungen schafft. Alles dies erfordert ein tieferes Nachdenken und einen stärker konzeptionellen Ansatz von Politik, als es derzeit in Deutschland und in der EU zu beobachten ist. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mag hierfür einen wichtigen Anstoß gegeben haben.

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