Ist Boris Johnson ein moderner Richard III.?

Was würde Shakespeare zum Brexit sagen?

brexit europa vereinigtes königreich england eu, daniel_diaz_bardillo, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Michael Roth, der Staatsminister für Europa twitterte im November 2018: »#Brexit – eine Tragödie. Das wäre noch nicht mal #Shakespeare in den Sinn gekommen… Echt deprimierend.« Der Autor Andreas T. Sturm zeigt, dass auch Staatsminister irren können und beleuchtet die Brexit-Krise mit fünf Thesen aus Shakespeares Perspektive.

These 1:

Eine politische Vereinnahmung Shakespeares wird von Shakespeare selbst ad absurdum geführt, weil er in seinen Dramen immer verschiedene Perspektiven darstellt – eine Fähigkeit, die Politikern und Medienvertretern im Brexit-Drama fremd ist.

Brexit-Befürworter und Brexit-Gegner versuchen den Dramatiker für ihre Zwecke zu benutzen, indem sie ihre Argumentation mit Zitaten aus Shakespeares Werken untermauern. Das ist leicht möglich, schließlich hat Shakespeare in seinen Dramen immer mehrere Perspektiven dargestellt. Gerade wegen der Multiperspektivität sind seine Stücke so attraktiv. Bei Julius Cäsar lässt er Gegner und Unterstützer Cäsars zu Wort kommen, bei Romeo und Julia zeigt er sowohl die Sicht des jungen Liebespaares als auch die der Elterngeneration, vorherige Autoren stellten das Liebespaar durchweg negativ dar.

Perspektivenwechsel, Multiperspektivität und die Berücksichtigung von Graustufen gehören wahrlich leider allzu oft nicht zu dem Repertoire von Journalisten.

Es ist daher kein Wunder, dass dadurch in der Öffentlichkeit eine starke Polarisierung entsteht. Mehr shakespearesche Differenziertheit würde der Debatte guttun.

These 2:

Shakespeare ist wahrer Brexit-Experte, er hat die Auswirkungen des »ersten Brexit« miterlebt, als Henry VIII. mit der katholischen Kirche brach und die Anglikanische Kirche gründete (1534). Die Härte der öffentlichen Auseinandersetzung erinnert an die Rosenkriege (1455-1485), deren Chronist Shakespeare war.

Shakespeare hat auch nach 50 Jahren die Auswirkungen des ersten Brexits von 1534, als Henry VIII. mit der Katholischen Kirche brach und die Anglikanische Kirche gründete, miterlebt. Isolation in Europa und Invasionsversuche waren die Folge, auch wenn Invasionen heute selbstverständlich keine Rolle mehr spielen, so fürchten Brexit-Gegner eine Ausgrenzung Englands in Europa.

Die erbitterte Brexit-Diskussion, erinnert stark an den englischen Rosen-Krieg, »The War of the Roses«, von 1455-1485. Damals kämpfte das Haus von Lancaster (rote Rose) gegen das Haus von York (weiße Rose). Die Bipolarität und die verhärteten Fronten der Rosenkriege des 15. Jahrhunderts lassen sich heute beobachten: Es kommt zum Zusammenbruch von Grundwerten, wie Ordnung und Anstand – ein Blick auf Facebook, Twitter oder die Belagerung vor dem Parlament zeigt das.

Aber: Es heißt schließlich: »History repeats itself, Geschichte wiederholt sich.« Die Geschichte wiederholt sich aber nie genauso, sondern in ähnlicher Gestalt.

Bei beiden Konflikten waren Kompromisse der Schlüssel zum Erfolg. Die religiösen Unruhen, ausgelöst durch Henry VIII., konnten nur gelöst werden, indem Elizabeth I. protestantische Theologie und katholischen Ritus miteinander verband. Die Rosenkriege wurden beendet, indem Henry VII. aus dem Hause Lancaster eine Tochter des Hauses York heiratete und das Haus von Tudor begründete.

Das ist die große historische Erkenntnis: Wenn sich zwei gleichstarke Parteien gegenüberstehen wird es nie Frieden geben, der knapp Unterlegene wird immer weiterkämpfen. Es muss ein tragfähiger Kompromiss gefunden werden.

Ein einfacher Rückzug vom Brexit würde genauso wenig die Probleme lösen. Die nächste These lässt zweifeln, ob die jetzigen britischen Spitzenpolitiker in der Lage sind, das Land zu einen, Heinrich VII., mit der Vereinigung der verfeindeten Häuser, ist auf jeden Fall ein großes Vorbild.

These 3:

Shakespeares Bühnenfiguren zeigen in ihren Charaktergrundzügen erstaunliche Parallelen zu aktuellen Politikern auf. Insbesondere ist Shakespeare ein Schlüssel zum Charakter von Boris Johnson.

Shakespeare hilft uns dabei, Grundstrukturen des menschlichen Charakters zu erkennen, indem wir durch die Auswertung von Parallelen und Unterschieden die aktuelle Lage aus einer anderen Perspektive sehen können.

Die mangelnde Entschlossenheit, das zögerliche Ausführen einer Aufgabe hinter der man nicht steht und die fehlende Mentalität Theresa Mays erinnern an Hamlet.

Mangelnde Entschlossenheit kann man Boris Johnson nicht vorwerfen, einige Medien haben ihn sogar mit Richard III. aus Shakespeares gleichnamigem Historiendrama verglichen. Anhand einer Beschreibung Richards aus Stephen Greenblatts »Der Tyrann: Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert« (2018) lassen sich spannende Parallelen und Unterschiede zwischen Johnson und Richard feststellen. Sicherlich setzt Boris Johnson kein Mord und Gewalt ein, um an die Macht zu kommen, allerdings hat ein abgehörtes Telefonat aus dem Jahr 1990 sein Ansehen schwer beschädigt, da er die Adresse des Journalisten Stuart Collier veröffentlichen wollte, um ihn verprügeln zu lassen. Die Zwangspause des Parlaments kann durchaus als Gesetzesbruch gesehen werden, zumindest zeigt die harte Reaktion des Obersten Gerichtshof, dass Johnson hier eine Grenze überschritten hat. Der Anspruch auf absolute Loyalität zeigt sich bei dem Rauswurf der 21 Abgeordneten aus der Tory-Fraktion ebenso wie Johnsons Einteilung der Welt in Schwarz und Weiß. Für die Lügen Johnsons gibt es hinreichend Beweise, sei es zu seiner Zeit als Journalist, als er von einer EU-Bananen-Polizei oder EU-Einheitssärgen berichtete. Seine offensichtlichen Lügen während des Brexit-Referendums, beispielsweise zu den 350 Millionen, die wöchentlich an Brüssel fließen, sind hinreichend bekannt.

Doch es gibt auch Unterschiede zwischen Boris Johnson und Richard III.

1. Boris Johnson mordet nicht. Er geht nur über Leichen:  Siehe den Rauswurf der 21 Abgeordneten aus der Fraktion.

2. Im heutigen Großbritannien gibt es ein System von Checks-und-Balances, welches Boris Johnson ausbremst. Im Parlament hat er noch keine wichtige Abstimmung gewonnen und der Oberste Gerichtshof hat die Zwangspause des Parlaments einkassiert

3. Richard betrachtete sich als ein König von Gottesgnaden, Boris Johnson sieht sich selbst als Gott. Wenn auch nicht ernsthaft, so kokettiert er damit. Beispielsweise behauptet Johnson, er wollte Politiker werden, weil er als Schüler bei einer Aufführung der Arche Noah Gott gespielt hatte und er an der Rolle Gottes so starken Gefallen fand, dass er auch danach einen Job wollte, bei dem er Macht ausüben kann.

Im September verglich sich Johnson mit der antiken griechischen Göttergestalt Prometheus, der von Zeus dafür bestraft wurde, dass er der Menschheit Feuer brachte, indem ihm ein Rabe seine immer wieder nachwachsende Leber auspickte. Johnson sieht sich in der gleichen Rolle Prometheus, der den Menschen den Brexit bringen will, während die EU der Rabe sei.

Die Medien nehmen gerne Boris Johnsons Extravaganz auf und kreieren ein entsprechendes Bild von ihm.

Positiv betrachtet haben Richard III. und Boris Johnson zwei herausragende Fähigkeiten. Dies erklärt, weshalb Johnson gewählt wurde und in den Umfragen führt, obwohl ihm so wenige Menschen vertrauen und der offensichtlich mehrmals der Lüge überführt wurde.

1. Die überragende rhetorische Fähigkeit zu überzeugen

2. Die Fähigkeit, mit Entschlossenheit gegen alle Widerstände anzukämpfen. Die Brexit-Befürworter sehen in Johnson jemanden, der den Brexit durchsetzen kann, zur Not auch einen harten.

These 4:

Die »Ordnung« wird am Ende jedes Shakespeare-Dramas wiederhergestellt, sie gehört zu seinen wichtigsten Prinzipien. Ein Politiker, der mit tyrannischen Methoden an die Macht kommt, wird die notwenige Ordnung langfristig nicht aufrechterhalten können, die zum Regieren notwendig ist. 

Die Wiederherstellung der Ordnung am Ende eines jeden Dramas basiert auf dem elisabethanischen Weltbild, »The Great Chain of Being«, in dem alle Lebewesen ihre festgelegte Ordnung haben. Egal wie schlimm eine Tragödie auch ist, das Böse wird vom Guten überwältigt oder zerstört sich selbst. Obwohl Shakespeare dem Zuschauer keine Meinung aufzwängt, lässt sich aus seinen Werken, und insbesondere aus seinen Historiendramen, eine Furcht vor Chaos oder chaotischen Machtverhältnissen lesen.

Shakespeare hatte als Bühnenautor, Teilinhaber des Globe-Theaters, Landbesitzer mit gelegentlichen Geldverleihgeschäften, kein Interesse an gesellschaftlicher Instabilität, die seinen Profit schmälern würde.

In Shakespeares Dramen ist ein solcher Ordnungsgedanke stark ausgeprägt. Herrscher, die zweifelhaft an die Macht gekommen sind und bei ihrem Kampf um die Herrschaft mit Gesetzesbrüchen gegen die natürliche Ordnung verstoßen haben, können sich nicht lange unbeschadet an der Spitze halten.

Politiker, die intrigieren, verleumden, Straftaten begehen, mögen zwar die Fähigkeit haben, die Macht zu erlangen, ihnen fehlen aber die charakterliche Eignung und das Vertrauen, um das Land zu einen und zu regieren.

So heißt es bei Julius Cäsar: »Der Größte Mißbrauch ist, wenn von der Macht / Sie das Gewissen trennt.«

Wir beobachten das bei Richard III. und Macbeth: Die beiden ziehen alle Register, um an die Macht zu kommen, sobald sie an der Herrschaft sind, scheinen sie nur noch am Machterhalt interessiert zu sein. Sie sind erstaunlich unfähig, konstruktiv im Amt zu wirken.

Die Frage ist, weshalb charakterlich zweifelhafte Politiker überhaupt gewählt werden? Es passiert immer wieder, dass Wähler ein Singularinteresse haben. Das heißt, sie suchen nicht denjenigen aus, der die Geschicke des Landes am besten lenkt, sondern denjenigen, der ein ganz bestimmtes Problem löst. Donald Trump wurde gewählt, um das Establishment zu durchbrechen, Boris Johnson, um den Brexit durchzusetzen.

Die Charakterzüge mit denen Politiker ausgestattet sind, um mit besonderer Härte und zweifelhaften Mitteln Entscheidungen durchsetzen, hindern oftmals dabei ein Land ordentlich zu regieren. Boris Johnson wird wegen seiner zweifelhaften Aktionen, wie der der Zwangspause für das Parlament, dem Rauswurf 21 verdienter Abgeordneter, wiederholten Falschaussagen, kaum in der Lage sein das Land verlässlich zu führen.

Seine Aktionen kosten ihm Vertrauen in der Fraktion, in der Wählerschaft und kosteten ihm die Mehrheit im Parlament. Boris Johnson mag tough genug sein, den Brexit durchzusetzen, für eine geordnete und koordinierte Regierungsarbeit hat er nicht die richtigen Eigenschaften.

Glaubwürdiges Handeln und die Einhaltung moralischer Grundsätze sind wichtig, denn kurzfristig Macht zu erlangen ist ohne moralische Grundsätze möglich, für den langfristigen Erhalt einer Führungsposition ist ein festes Wertefundament notwendig. Eine unredliche Regierungsarbeit funktioniert eben nicht auf Dauer.

In Shakespeares Tragödien scheitern edle Charaktere, wegen einer Charakterschwäche. Es ist die Unentschlossenheit Hamlets, Macbeths übertriebener Ehrgeiz, Othellos rasende Eifersucht und König Lears Altersstarsinn, die den Handlungsträgern zum Verhängnis werden.

Andere Charaktere, die bösartig und verdorben sind, wie Richard III. oder Jago, demonstrieren anschaulich: Das Böse hat selbstzerstörerische Kräfte.

So heißt es in Troilus und Cressida: »Denn Ehre wandelt in so engem Hohlweg, /

Daß einer Platz nur hat: drum bleib’ im Gleise!«

Von daher ist es zweifelhaft, dass das jetzige Spitzenpersonal in Großbritannien die Integrität und die Fähigkeit hat, einen geordneten Brexit durchzusetzen.

These 5:

Anstatt die Veröffentlichung seines Buches Shakespeare: The Riddle of Genius mehrfach zu verschieben (nun 22. März 2020), hätte es Boris Johnson besser fertig geschrieben und auf Shakespeare als Ratgeber gehört.

Zum Glück gibt es Shakespeares reichen Erfahrungsschatz im Buchformat, beispielsweise in Shakespeares ruhelose Welt von Neil MacGregor, Stephen Greenblatts Der Tyrann: Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert oder passend zur Brexit-Krise: Das Shakespeare-Prinzip: 13 Wege zum Erfolg.

Finanzen