Letztendlich sind wir alle nur Fetzenfische

Unsere Existenz und die aller anderen Organismen haben wir ihm zu verdanken. Wasser ist Leben und gibt Leben. Es ist Lebensgrundlage und Vergnügen. Meere, Flüsse und Seen faszinieren uns schon beim Ansehen. Von den vier „Essenzen“ ist es das wandelbarste. Ob als Schneeflocken im Winter, Eis und Hagelkörner, die wir von den Autoscheiben kratzen, als warmer Sommerregen oder gefülltes Schwimmbecken, in das wir eintauchen. Wer einmal die Leichtigkeit beim eigenständigen Hindurchgleiten erlebt oder Wassersport betrieben hat, kann sich dem besonderen Reiz kaum entziehen. Es hat eine beruhigende und schöpferische Wirkung, birgt aber gleichzeitig auch eine bedrohliche Kraft und Gefahr. Denn Wasser offenbart mitunter auch eine zerstörerische Naturgewalt von unbändiger Kraft und unberechenbarer Heimtücke. Wasser kann auch Leben nehmen. Wir Menschen haben daher ein etwas zwiespältiges Verhältnis zu ihm. Kein Wunder also, dass ihm schon die großen Philosophen eine enorme Bedeutung beimaßen.
Auch John von Düffel verinnerlicht – völlig losgelöst von seinem gleichfalls erlangten Philosophieabschluss – eine nicht geleugnete Affinität zu diesem Element. Und – ohne ihm zu nahe zu treten – als großen Philosophen würde sich der Schriftsteller und Dramaturg wohl sicher auch nicht bezeichnen. Doch wenn man in sein literarisches Werk „eintaucht“, findet man in so manchen Texten eine stete Beschäftigung und immense Leidenschaft mit bzw. für das Wasser im Allgemeinen und das Schwimmen im Besonderen. Vor allem letztere, die er sogar als Sucht bezeichnet, hat ihn geprägt, sowohl beruflich als auch privat. Beim langen Schwimmen, so Düffel, hält er eine Art Zwiesprache mit dem Wasser. Dann gibt es gute und harte Zeiten für ihn. Manchmal müsse er kämpfen und dann komme er auch wieder ins Gleiten, verrät er in einem Interview. Nach dem Schwimmen jedenfalls, seien alle bösen Geister vertrieben.
Seine „Wassererzählungen“, ein Band mit elf kurzen, aber auch über eine größere Anzahl von Seiten reichenden Geschichten, offenbaren wiederum eine intensive Beschäftigung mit diesem Element. Auch wenn dies mitunter nur marginal und diffus zu erahnen ist und nicht wie im „Opener“, in dem ein Mann in der eisig-winterlichen Ostsee täglich seine Bahnen zieht, begleitet von einem rätselhaften Strandgänger. Düffels Texte handeln von einer jungen Frau, die in einem verglasten Swimmingpool, einer Art „Bergaquarium“, ästhetische Schwimmbewegungen ausführen soll, heimlich beobachtet vom Eigentümer, einem japanischen Stararchitekten oder aber von schwimmenden Traumwelten und dem „heiligen Grundsatz der Generationentrennung“ auf einem Kreuzfahrtschiff. Der Autor schreibt einer Protagonistin die Entdeckung der versenkten familiären Vergangenheit im leergepumpten Schwimmteich zu, beschäftigt sich mit dem Loslassen eines Vaters von seiner langsam erwachsen werdenden, gleichfalls wasserbesessenen Tochter oder dem äußerst dramatischen einer jungen Frau und ihres nie geboren werdenden Kindes.
Was alle Texte verbindet ist ihre Nähe zu konflikt- und spannungsgeladenen, brisanten, mitunter gar hochexplosiven Situationen. Fast immer haben sie eine Bezug zur Verbindung von Eltern und Kindern oder umkreisen gar einen Verlust. Es geht um Vergessenes, Verschwundenes, aber auch um Zukünftiges und Geplantes, um Entwicklung oder Introspektive, um „das permanente Wanken und Schwanken von eigentlich allem“, um Menschen und Tiere, die in ungeahnte Strudel geraten.
Stilistisch zeichnen sich John von Düffels Erzählungen durch eine ungeheure Variantenvielfalt aus. Immer wieder überrascht der Autor mit unterschiedlichem Aufbau und divergentem Duktus: Sei es nun ein beobachtendes Beschreiben oder aber eine reiner Dialog. Einige Texte sind in auktorialer Erzählweise verfasst, andere in der Ich-Form oder gar in der ungewöhnlichen zweiten Person. Sogar ein ausschließlicher Monolog – ein Telefongespräch, ohne die Antworten des angerufenen Gegenübers – ist zu finden. Und noch etwas ist ihnen Eigen: Sie strahlen eine unglaublich große Intensität aus. Egal ob der unverkennbare „Düffelsche“ Wortwitz zwischen den Zeilen hervorblitzt oder eine tiefe Ernsthaftigkeit in die Sätze gebrannt zu sein scheint, ob eine große Verlassenheit wie ein Schleier über dem Text liegt oder eine lichtdurchflutete euphorische Emotionalität, immer bietet John von Düffels Prosa grandiose Momentaufnahmen, wundervolle Situationsbeschreibungen und eine tiefe Innerlichkeit, die den Leser mitunter den Atem anhalten lässt und noch lange nachhallt.
Am Ende bleibt die Erkenntnis zurück: Laufenlernen ist „die beschwerlichere Form der Bewegung in einer Welt voller Ecken und Kanten, Schwellen und Stolperfallen. Im Wasser gab es keine Hindernisse mehr.“

John von Düffel
Wassererzählungen
Dumont Buchverlag (Februar 2014)
255 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3832197443
ISBN-13: 978-3832197445
Preis: 19,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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