Literaturkritiker aus Schlesien – Günter Gerstmann in Jena verstorben

grab friedhof rip tombstone d tod ruhe in frieden, Quelle: RobVanDerMeijden, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

In Jena starb am 6. November im Alter von 87 Jahren der Germanist und Literaturkritiker Günter Gerstmann, geboren am 19. Juli 1933 in Weißstein bei Waldenburg in Niederschlesien. Wir lernten uns im Juni 1962 im Zuchthaus Torgau an der Elbe kennen. Er war wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden, ich als Mainzer Student zu „nur“ dreieinhalb. Später wurde sein Prozess noch einmal aufgerollt und die Strafe auf zweieinhalb Jahre herabgesetzt. Wir waren damals dem „Techniker-Kommando“ zugeteilt worden und arbeiteten in einer Sondereinheit von 60 Häftlingen bei der Transformatorenberechnung für den VEB Carl Zeiss in Jena. Günter Gerstmann nannte mich in Torgau immer „Jörg, der Katenjunge“ (1957) nach dem Roman von Klaus Herrmann.

Allerdings arbeitete ich bei den Technikern nur zehn Tage. Dann ging ich mit einer Gruppe von Häftlingen, die alle nur noch weniger als drei Jahre Reststrafe hatten, nach Altenburg in die Braunkohle, von dort nach Leipzig und für die letzten beiden Jahre nach Waldheim. Nach der Entlassung suchte ich nach Günter Gerstmann. In der Zeitung „Neue Zeit“ der Ost-CDU standen gelegentlich Rezensionen von ihm, aber nach Jena schreiben wollte ich nicht. Es wäre für ihn zu gefährlich gewesen. Also musste ich warten, bis am 9. November 1989 die Mauer in Berlin gefallen war. Dann kam ein Brief von ihm nach Bonn, und er besuchte mich bei der „Stiftung Ostdeutscher Kulturrat“ in der Kaiserstraße, wo ich fast 18 Jahre als Chefredakteur arbeitete.

Günter Gerstmann kam nach der Vertreibung mit seinen Eltern nach Apolda in Thüringen und zog 1968 nach Jena. Er hat Germanistik und Geschichte studiert, auch in Greifswald bei Hans-Jürgen Geerdts. Seine Fachgebiete waren die Literatur Schlesiens und die Thüringens. Er hat seit 1990 in Bonn an der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ mitgearbeitet, deren Chefredakteur ich war, und seit 1993 an den „Ostdeutschen Gedenktagen“ der „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen“. Er hat zwei Bücher über den aus Mähren stammenden Dichter Hanns Cibulka (1920-2004) veröffentlicht: „Jedes Wort ein Flügelschlag“ (2005) und „Ich habe nichts als das Wort“ (2010), eins über Gerhart Hauptmann „Entrückt ins Paradies“ (2012) zum 150. Geburtstag, und eins über den aus Schweidnitz in Schlesien stammenden Lyriker und Erzähler Armin Müller (1928-2005) „Abschied und Ankunft. Armin Müller zum 70. Geburtstag“ (2000). Außerdem hat er das Buch Gerhart Pohls über Gerhart Hauptmann „Bin ich noch in meinem Haus?“ (2006) noch einmal herausgegeben. Alle diese Bücher hätten vor dem Mauerfall 1989 nicht erscheinen können. Die Trauerfeier für Günter Gerstmann fand in Jena am 19. November statt.

Über Jörg Bernhard Bilke 257 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.