Moskau: Stalins Enkel zieht vor Gericht – Stalinisten und Historiker um die Deutung der Vergangenheit

Der 8. Oktober 2009 war der zweite Prozesstag im Fall „Stalins Enkel Dschukaschwili gegen die Nowaja Gazjeta“. Die Zeitung wurde angeklagt, Lügen über Stalin verbreitet und seinen guten Ruf in den Dreck gezogen zu haben. Insbesondere ging es um einen Artikel von A. J. Jablokov, der unter der Rubrik „Die Wahrheit über den GULag“ erschien. Diese Rubrik wird in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Memorial herausgegeben. Der Kläger forderte die Zurücknahme von bestimmten im Artikel gemachten Äußerungen, die Stalin als den Verantwortlichen für Verbrechen, wie das Massaker von Katyn und den Großen Terror der 30er Jahre, bezeichneten.
Um 14:00 Uhr sollte die Verhandlung beginnen. Bereits 13:30 Uhr war der Gehsteig vor dem Basmanny Bezirksgericht gefüllt mit Menschen und Kameras. Interviews, Gespräche hinter vorgehaltener Hand und meinungsstarke Zuhörer waren zu beobachten. Leise wurde gefragt, wer hier wer ist, von wo und auf welcher Seite dieser oder jener stünde. Ein wichtiger, großer, breiter Mann in Schwarz und mit Sonnenbrille, Juri I. Muchin, erklärte den Journalisten seine Position, die er für Stalin ergriff. Er vertrat im Gericht die Seite von Stalins Enkel. Die Journalisten wirkten mit ihren Fragen so, als müsse ihnen von Grund auf die Person Stalin und seine Heldentaten für das Land erläutert werden. Muchin erfreute sich der großen Aufmerksamkeit und gab seine Meinung preis, dass es keine Beweise für die Verbrechen Stalins gäbe. Dokumente, wie z.B. im Fall des Massakers von Katyn, seien vom ersten bis zum letzten Blatt gefälscht.
Außer den Journalisten waren fast nur ältere Herrschaften vor Ort, vor allem Frauen. Erst im Gericht wurden ihre Bilder und Plakate sichtbar. Sie zeigten Stalin, Aufschriften aus vergangenen Zeiten. Einige hatten Bücher mit Stalins Porträt in der Hand, andere ein Kalenderblatt mit dem schnauzbärtigen Mann. Der Gerichtsaal war kleiner als ein Klassenzimmer. Hinein durften nur die Teilnehmer, die Angeklagten, Anwälte, Richter usw. und einige, denen der Zutritt irgendwie gelang. Die Tür konnte kaum geöffnet werden, so dringlich versuchte jeder sich Eintritt zu verschaffen. Aber die Milizionäre schienen die Lage völlig im Griff zu haben. Sie wirkten nicht besonders besorgt über die vielen hoch geladenen Menschen. Vergleichsweise waren es nicht sehr viele Menschen, vielleicht 50. Auch die Kameras versuchten einen Blick ins Innere des Prozessklassenzimmers zu werfen. Unbeteiligte Zuschauer, diejenigen die auf anderen Stühlen vor anderen Gerichtsälen saßen, beobachten das Spektakel und überlegten, um was es hier wohl gehen mag. Die Szenerie ließ auf etwas Wichtiges schließen. Die Anzahl und der Altersdurchschnitt der Anwesenden spiegelte jedoch nicht das Interesse an aktuellen Fragen der Gesellschaft, oder doch? Es war der erste Prozess in Russland, bei dem es darum ging, ob Stalin als Verbrecher bezeichnet werden darf oder nicht.
Eine älter Dame mit feuerrot gefärbten Haaren sprach mich von der Seite an: „Er war einfach genial. Er hat dieses Land nach vorne gebracht, hat unser Vaterland im Krieg verteidigt.“ Im weiteren Gesprächsverlauf stellte sich heraus, dass ihre Mutter und noch anderen Verwandte in stalinistischen Lagern saßen. Trotzdem stünde sie noch heute hinter dem großen Führer. Er hätte nicht anders handeln können. Wäre sie an seiner Stelle gewesen, sie hätte es genau so gemacht. Dann sagte sie etwas von einer jüdischen Weltverschwörung. Die Juden hätten auch Hitler an die Macht gebracht, um schlussendlich ihr eigenes Land zu erzwingen. Eine andere Frau trat hinzu und sprach mich an: „Sie kommen aus Deutschland? Das ist ja klar. Ihnen brauchen wir nichts zu erzählen. Sie haben ja ihre Kanzlerin Merkel selbst gewählt.“ Ich antwortete mit einem fragenden Blick. „Sie ist Jüdin. Wussten sie das nicht?“, gab sie mir zu verstehen. „Nein das wusste ich nicht. Nach meinem Wissen, stimmt das auch nicht. Und mir ist es auch, ehrlich gesagt, egal“, versuchte ich so gelassen und neutral wie möglich zu antworten. Sie nickte mit dem Kopf, zog den linken Mundwinkel nach oben und fügte zufrieden hinzu: „Sehen sie! Nun wissen sie es.“ Im weiteren Verlaufe des Gespräches fühlte ich eine Ohnmacht in mir aufsteigen. Ich konnte auf die Äußerungen nicht antworten. Ich hörte mir an, dass Juden keine Menschen seien, sondern Tiere in Menschengestalt. Sie würden am achten Tag nach der Geburt beschnitten, wodurch ihnen das Wurzel-Chakra entfernt würde. Sie fühlten nicht wie „wir“ normale Menschen. Hier und da hörte man die Frauen Interviews geben. Es spielte schon keine Rolle mehr, was im Gerichtssaal passierte. Vor der Tür ließen sich alte Frauen, selbstbezeichnete, überzeugte „Stalinistinnen“, mit Stalinporträts fotografieren und filmen. Die niederländische Journalistin fragte ihre russische Dolmetscherin, ob man nun jemanden interviewen könnte, der für die andere Seite ist. Die Dolmetscherin antwortet: „Es gibt niemanden.“ Ich ging aus dem Gebäude.
Woran liegt es, dass im heutigen Russland, eine der schrecklichsten Epochen der Geschichte eine solche Popularität genießt? Sicherlich ist es nicht die Mehrheit der Gesellschaft, die sich aufmacht, um vor einem Bezirksgericht für ihren Helden zu demonstrieren. Aber diese aktive Gruppe ist getragen von einer größeren passiven, die vielleicht den Kopf schüttelt, wenn sie in der Metro-Station „Kurskaja“ von den im Sommer restaurierten Worten: „Stalin hat uns zur Vaterlandstreue und zur Arbeit erzogen und zu Heldentaten inspiriert“ begrüßt wird. Doch großer Protest gegen solchen Zynismus bleibt aus.
Am 13. Oktober 2009 lehnte das Basmanny Bezirksgericht die Klage von E. J. Dschukaschwili ab. Für die Zeitung „Nowaja Gazjeta“ ist es eine Erleichterung, für die Menschenrechtsorganisation Memorial ein großer Erfolg und für die Aufarbeitung der gesellschaftlichen Vergangenheit in Russland ein wichtiger Schritt. Bis jetzt war es nur das Bezirksgericht, das die historischen Fakten als Grundlage für eine solche Entscheidung anerkannte, die umfassende juristische Bestätigung der Verbrechen des Kommunismus steht noch aus.
Die westliche Sichtweise ist erschrocken über die immer noch zahlreichen Anhänger Stalins, den Putin´schen Kurs und die Passivität der russischen Bevölkerung. Vor allem wenn die Verherrlichung eines Diktator gemischt mit Antisemitismus und Verschwörungstheorien auf ein deutsches Ohr treffen, dann scheint es nur noch Böses in dieser Welt zu geben. Welche Erklärungsansätze gibt es für eine solche Weltsicht? Sind es die schönen Erinnerungen an einstige Jugendlichkeit? Ist es der Versuch einer menschenverachtenden Zeit irgendeinen Sinn zu geben oder vielleicht sogar die Angst vor der Gewissheit, Opfer, nicht von einer abstrakten jüdischen Weltverschwörung, sondern der eigenen, sehr fassbaren politischen Führung geworden zu sein?
Der Westler beobachtet sehr genau und interessiert sich für das Geschehen in Russland. Fast ist er ein wenig neidisch, dass neue Umdeutungen, Bewegungen und vielleicht sogar gesellschaftliche Veränderungen, wie man sie aus dem Deutschland der 60er Jahre kennt, nun im großen Russland beginnen könnten.

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Über Tammer Teresa 16 Artikel
Teresa Tammer, geboren 1985 in Dresden, studiert Geschichte und Philosophie in Berlin. Seit 2007 ist sie Besucherreferentin in der Gedenkstätte Bautzen. Von 2005 bis 2006 machte sie einen Freiwilligendienst bei Memorial in St. Petersburg.

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