Restaurierungspaten für Albert den Großen

Auch ein Jahr nach dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln sind noch nicht alle Archivalien geborgen worden

Die Einsturzstelle klafft weiterhin wie eine ausgetrocknete tiefe Wunde im Herzen der Stadt. Doch noch bevor sich der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen sowie umfangreiches wertvolles Archivgut unwiederbringlich zerstört oder erheblich beschädigt worden ist, am 3. März zum ersten Mal jährt, gibt es eine positive Nachricht: Die ersten Archivalien konnten restauriert werden. Dabei handelt es sich um zwei Bücher, die mit zu den wertvollsten Stücken des Archivs überhaupt zählen. Gemeint sind Schriften des heiligen Albertus Magnus, nämlich sein Kommentar zum Matthäus-Evangelium (Postilla in Matthaeum) sowie sein bekanntes naturwissenschaftliches Werk über die Tierwelt (de animalibus).

Die beiden eigenhändig geschriebenen Autographen von einem der bedeutendsten Theologen und Wissenschaftler des Mittelalters (um 1200 bis 1280) waren bei der Einsturzkatastrophe schwer beschädigt worden. Nun finden die restaurierten Codices aus den Jahren 1258 sowie 1260 bis zur Fertigstellung eines neuen Archivs im Historischen Archiv des Erzbistums Köln ein sicheres Asyl.

Dass die Bücher des ehemaligen Dominikanerpaters und doctor coloniensis so rasch wiederhergestellt werden konnten, ist vor allem dem Einsatz von Restaurierungspaten zu verdanken. Inzwischen gibt es rund 30 Personen und Institutionen, die Beträge zur Wiederherstellung von beschädigtem Archivgut bereitgestellt haben. Bürgerschaftliches Engagement wird zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben in der Domstadt für die fachgerechte Wiederherstellung des beschädigten Archivguts noch viele Jahre lang dringend gebraucht. Rund 350 bis 500 Millionen Euro veranschlagt die Stadt Köln inzwischen für die Restaurierungsarbeiten in den kommenden Jahrzehnten. „Das ist eine Aufgabe für mehrere Generationen“, stellt der Sachverständige Thomas Klinke nüchtern fest. Der in Köln entstandene kulturhistorische Schaden stellt selbst den spektakulären Brand sowie die Wiederherstellung der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar im Jahr 2004 in den Schatten.

Das bisher geborgene Archivgut weist zu 35 Prozent schwerste, zu 50 Prozent mittlere sowie zu 15 Prozent leichte Schäden auf. Dabei sind ein Jahr nach der Katastrophe an der Kölner Severinstraße, die das von den Kölnern liebevoll „Vringsveedel“ genannte urkölsche Stadtviertel wie eine Lebensader durchzieht, noch nicht alle Bestände aus dem Krater, der sich durch den Einsturz aufgetan hat, geborgen worden. Rund 15 Prozent des Archivguts liegen noch im Trichter. Bei fünf Prozent rechnen die Experten mit einem Totalverlust. Zehn Prozent, so die Hoffnung, sind vermutlich in ähnlich gutem Zustand wie die bereits aus dem Grundwasser geborgenen Stücke. Der gute Erhaltungszustand ist damit zu erklären, dass beim Einsturz die Trümmerteile und Archivalien starkem Druck ausgesetzt wurden, so dass die Dokumente fast luftdicht abgeschlossen sind und es mangels Sauerstoffzufuhr nicht zu Zersetzungsprozessen kommen kann. Das noch vermisste Archivgut konnte bislang nicht geborgen werden, da die Ränder des Trichters beim Ausbaggern unterhalb des Grundwasserspiegels nachzurutschen drohten.

Das Historische Archiv der Stadt Köln mit seinem Bestand aus fast 30 laufenden Regalkilometern zählt zu einem der bedeutendsten kommunalen Archive in Europa. Originaldokumente aus fast 1000 Jahren kölnischer, rheinischer, deutscher und europäischer Geschichte lagerten im „Gedächtnis der Stadt“. Forscher und Wissenschaftler aus der ganzen Welt nutzten die Bestände dieses riesigen Erinnerungsspeichers. Dessen Leistungsfähigkeit soll auch vom 5. März bis zum 11. April in einer Ausstellung im Gropius-Bau in Berlin gezeigt werden. Rund 100 Leihgaben vermitteln Einblicke in den wertvollen Bestand des Archivs, die Rettungs- und Restaurierungsversuche.

Was vom Archivgut erhalten ist oder noch wiederhergestellt werden kann, ist auf viele Archive verteilt worden. Eine der Herausforderungen wird es daher auch sein, die Bestände wieder zu erfassen und am Ende in einem neuen Archiv zusammenzuführen. Das wird noch einige Jahre dauern. Der Rat der Stadt hat im September 2009 einen Neubau mit einem Kostenrahmen von rund 100 Millionen Euro beschlossen. Diese Zahl wurde von einer Unternehmensberatung als betriebswirtschaftliche Berechnung auf Grundlage von betriebswirtschaftlichen Standardzahlenwerken ermittelt und hat daher nichts mit der realen Baurplanung zu tun. Die Stadt bereitet derzeit eine Ausschreibung vor, um ein Fachbüro mit der Durchführung eines europaweiten Planungswettbewerbs zu beauftragen. Es soll laut Archivleiterin Bettina Schmidt-Czaia „das sicherste und modernste Archiv Europas“ werden.

Die nationale Bedeutung des Kölner Archiveinsturzes scheint indes wohl noch nicht überall erkannt worden zu sein. Wie sonst ist es zu verstehen, dass der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) dieser Tage im Hauptausschuss der Stadt knapp ein Jahr nach der Katastrophe erneut betonen musste, dass es von entscheidender Bedeutung sei, den Menschen zu verdeutlichen, mit dem Einsturz habe es „ganz entscheidend eine Zeitenwende“ gegeben? Oder zielte er dabei auf die schwarz-gelbe Landesregierung von Nordrhein-Westfalen? Schließlich war geplant, im Umfeld der Berliner Ausstellungseröffnung auch eine Stiftung „Stadtgedächtnis“ zu begründen, deren Stiftungskapital sich aus einem Teil der Versicherungssumme für das Archiv in Höhe von 61,5 Millionen Euro speisen sollte. Doch die Stiftungsgründung ist vorerst verschoben. Die Stadt erklärt dazu auf Anfrage: „Zur Frage einer Stiftungsgründung wartet Köln noch auf die verbindliche Zusage des Landes NRW, sich finanziell daran zu beteiligen. Ohne diese Zusage steht auch die angekündigte Beteiligung des Bundes infrage. Und so zieht sich die Gründung weiter hinaus.“

Im Laufe des Jahres wird das jetzige Stadtarchiv mitsamt digitalem Lesesaal provisorische Räume beziehen. Darüber hinaus soll ein umfangreiches Restaurierungs- und Digitalisierungszentrum mit Magazinflächen für Bestände sowie neu eingegangenes Archivgut realisiert werden. Im Internet werden beschädigte Objekte und die Konditionen für eine entsprechende Restaurierungspatenschaft angezeigt. Schmidt-Czaia, vormals stellvertretende Leiterin des niedersächsischen Staatsarchivs Osnabrück, hofft darauf, dass das Interesse, mit dem die Öffentlichkeit dem Archiveinsturz begegnete, auch bei der Bewältigung der Folgen anhält. Wenn es aus der Katastrophe ein Gutes gebe, dann sei es die gewachsene Wahrnehmung von Archiven, deren Bedeutung und Arbeit, so die Historikerin.

Indessen ist weiterhin ist völlig unklar, warum das Historische Archiv der Stadt Köln und zwei benachbarte Gebäude am Dienstag, dem 3. März 2009, kurz vor 14 Uhr plötzlich zusammenkrachten und seitdem in der lebensfrohen Rheinmetropole nichts mehr so ist, wie es war. Sicher scheint nur, dass es einen Zusammenhang mit dem umstrittenen U-Bahnbau gibt, der unter anderen direkt unter dem Stadtarchiv durchgeführt wird. Möglicherweise ist die Decke eines sogenannten Gleiswechselbauwerks in 28 Metern Tiefe eingestürzt, so dass Erdmassen in den sich öffnenden Hohlraum einfallen konnten und so dem Stadtarchiv im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen entzogen. Auch von einer fehlerhaften Schlitzwand, die das Eindringen von Grundwasser begünstigte, ist die Rede. Mittlerweile sind im Zusammenhang mit der Dokumentation von Bauabschnitten beim U-Bahnbau annähernd 30 Protokolle mit gefälschten Messdaten aufgetaucht. Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt seit Monaten gegen ausführende Baufirmen. Zum Stand der Ermittlungen gibt es keinen Kommentar. „Die Gutachter sind weiter auf Ursachensuche, das wird noch dauern“, so der Sprecher der Anklagebehörde.

Möglicherweise wird die Arbeit der Staatsanwälte im Laufe des Jahres durch ein Bergungs- und Besichtigungsbauwerk befördert. Dieses Bauwerk soll vor allem der weiteren Nassbergung von bis zu 35 Metern unter NN liegendem Archivgut dienen. Die von der Katastrophe unmittelbar betroffenen Personen sind von der Stadt in insgesamt 47 neuen Wohnungen untergebracht worden. Die Schüler des dem einstigen Archiv gegenüber liegenden Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums müssen aber noch eineinhalb Jahre auf die Rückkehr in ihre traditionsreiche Schule warten und werden seit der Katastrophe in einem Provisorium unterrichtet. Und das dramatische Schicksal der beiden Toten, ein Student sowie ein Bäckerlehrling, wird stets im Gedächtnis der Stadt sowie der Erinnerung an jenes traumatische Datum der Stadtgeschichte verankert bleiben.

www.historischesarchivkoeln.de

Über Constantin Graf von Hoensbroech 74 Artikel
Constantin Graf von Hoensbroech absolvierte nach dem Studium ein Zeitungsvolontariat über das "Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses - ifp". Nach Stationen in kirchlichen Medien war er u. a. Chefredakteur von "20 Minuten Köln", Redaktionsleiter Rhein-Kreis-Neuss bei der "Westdeutschen Zeitung", Ressortleiter Online bei "Cicero" sowie stellvertretender Pressesprecher der Industrie- und Handelskammer zu Köln. Seit März 2011 ist er Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation der Rheinland Raffinerie der Shell Deutschland Oil GmbH.

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