Schwermut und Leichtigkeit – John Neumeier-Ballett „Die Kameliendame“ am Münchner Nationaltheater

Acht Tage lang: Erlesenes Programm und Kunsttanz vom Feinsten: die Ballettfestwoche des Bayerischen Staatsballetts, Foto: Hans Gärtner

Das Programmheft zur Aufführung des seit vielen Jahren am Münchner Nationaltheater etablierten, in unterschiedlichen Besetzungen stets gefeierten, nun im Rahmen der diesjährigen Ballettfestwoche (bis 18. April) wieder ausgekramten John Neumeier-Balletts „Die Kameliendame“ ist willkommen und fragwürdig zugleich. Das Willkommene zuerst, das Fragwürdige zum Schluss dieser Besprechung.

Der nicht weiter bedeutende Marquis de Custine schrieb dem polnischen Tonsetzer Frédéric Chopin: „… die Schwermut Ihrer Kompositionen dringt mehr denn je in alle Herzen; man ist … allein mit Ihnen: das hier ist kein Klavier mehr, sondern eine Seele …“ Wie passend, diesen Brief in dem Programmheft zur „Kameliendame“ zitiert zu finden. Denn die Schwermut ist es, die das von keinem geringeren als dem begnadeten, derzeit ohne Abstriche weltweit berühmtesten lebenden Choreografen geschaffene Sujet glaubhaft grundiert. Die auf dem Roman Alexandre Dumas` d. J. basierende Geschichte von dem jungen Mann aus bestem Hause, der einer lungenkranken Pariser Kurtisane mit Haut und Herz verfiel, auf sie aber am Ende schicksalhaft verzichten muss, ist so tieftraurig, dass allein das Melancholische den tragfähigen Part einer Inszenierung bestimmen kann. Wer auch immer auf die Idee kam, ihr Klavierkompositionen Chopins unterzulegen: der Stoff einer unglücklichen jungen Liebe könnte musikalisch nicht bewegender durchwirkt werden. Wie dankbar darf das Bayerische Staatsballett – und das Münchner Publikum – einem Ausstatter wie Jürgen Rose sein, der durch seine stille, pastose, jedoch keineswegs düstere Szenerie den schwermütigen Tenor traf – bis hinein in die Wahl der brillanten Kostüme.

Das Schwärzliche und Niederdrückende des Zentralgeschehens – unterbrochen durch die Auktion der letzten Habseligkeiten der schon längst Verstorbenen – wird freilich durch die Spiegelung der todgeweihten Lovestory zwischen Armand Duval und Marguerite Gautier in der Geschichte der Manon Lescaut aufgelockert. So kommt es immer wieder zu großen Crew-Tableaus, die allesamt zur größeren Ehre des Bayerischen Staatsballetts mit seinen kompetenten Ersten Solisten (Kristina Lind, Emilio Pavan; Séverine Ferrolier) und Mitgliedern des Corps de Ballet (Antonia McAuley, Yonah Acosta) gereichen. Im Mittelpunkt: das „nur“ im wahren Leben, nicht aber auf der Bühne zur festen Beziehung gefundene Paar Anna Laudere (Marguerite) und Edvin Revazov (Armand). Die beiden Gäste, deren unerfüllbarer heftiger Zuneigung der Zuschauer mit wachsender Wehmut Zeuge wird, geben dem schwermütigen Stück eine tänzerische Leichtigkeit und kontemplative Tiefe, was ihnen einen noch viel zu wenig lang anhaltenden Applaus einbrachte.

Der mit einem Handlungsballett traditionelle Abend, der für diese Spielzeit erst einmal eingefroren wird, stand – mit seinem modernen, auf George Balanchine zurückgehenden Gegenstück „Jewels“ – am Beginn der weltweit beachteten Festwoche des Bayerischen Staatsballetts. Wer John Neumeier, der im Februar in Hamburg mit einer Groß-Gala seinen 80. Geburtstag beging, zur „Kameliendame“ in München persönlich erwartete, hatte Pech. War auch gut: So ersparte sich der Maestro, sein falsches Geburtsdatum im ansonsten hoch zu lobenden Programmheft entdecken zu müssen: 24. Februar 1942. Träfe es zu, hätte er noch drei Jahre Zeit, 80 zu werden.

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.