Vor 40 Jahren: In Deutschland beginnt die Moderne

Abstract Die Erinnerung an 1968 ist, in Deutschland wenigstens, lebendiger denn je: Es wird munter gestritten. Die Aufregung um Stasi-Verstrickungen bundesrepublikanischer ‚Eliten’ – zwischen rechts und links, polizeilichem Tagesgeschäft und parlamentarischer Arbeit – ist die jüngste, gewiss nicht die letzte, Etappe eines west-, längst auch ostdeutschen Ringens um Identität. Es kann angebracht scheinen – und sei es mit ‚gespielter Naivität’ –, die Tatsachen des Jahres 1968 und seiner Wirkungsgeschichte zu rekapitulieren, um sich gewissermaßen des Gesamtbilds zu vergewissern und die Gefahr einer Überbewertung einzelner Züge zu bannen. Fragliche Tatsachen dürften bekannt sein, allzu bekannt – und eben dadurch von Vergessenheit bedroht.
Nach der Wiedervereinigung konnte man hören, die „Bonner Republik“ sei passé, etwas Neues habe begonnen. „Berliner Republik“ sollte es heißen, deren Eliten: „89er“. Was damit gemeint sei – abgesehen vom Kollaps der Staatsfinanzen und resultierendem Sozialstaatsabbau –, ist zu keinem Zeitpunkt hinreichend deutlich geworden. (So wenig wie die Bedeutung von Neubeginnsfloskeln à la ‚Generation X’, ‚Generation Golf’.) Mehr noch: Es hat sich erweisen, dass viele Erfahrungen der 60er, 70er Jahre bis in die Gegenwart wirken. Das betrifft zum einen den Linksterrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). Die Heftigkeit der Diskussionen (2007), ob Ex-Terroristen begnadigt und aus der Haft entlassen werden sollen, hat manchen überrascht. Hätte 1989 etwas ganz Neues begonnen, es wäre kaum erklärlich, weswegen 2007 so leidenschaftlich – und kontrovers – gestritten wurde. Zum andern ist das Jahr 1968 zu nennen: Hat die Studentenbewegung (West-) Deutschland befreit, von der stickigen Enge der Nachkriegsrestauration, von alten, durch nationalsozialistisches Engage­ment kompromittierten Eliten? Oder hat die Studentenbewegung, was gut war in Deutschland, zerstört: die Universität (die 1933 zerstört worden war), die guten Sitten (will sagen: Bigotterie spießiger Doppel­moral), das klare Bekenntnis gegen kommunistischen Regimes? Mancher geht weiter: Götz Aly, der Übertreibungskünstler unter Deutschlands Historikern, zögert nicht, die Studenten des Jahres 1968 mit Hitlerjugend, SS und SA in Verbindung zu bringen. Es sei der gleiche Geist am Werk gewesen: Intransigenz, Radikalismus, gescheitertes Künstlertum wie beim „Führer“, nicht zuletzt: Antisemitismus im Gewande antizionistischer Parteinahme für die Sache der Palästinenser (vgl. Götz Aly: Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück.). Man sieht: Nach 40 Jahren hat Deutschland nicht abgeschlossen mit der Studentenbewegung.
Das muss nicht verwundern: Wer heute sechzig ist oder siebzig, war damals zwanzig bis dreißig, der Studentenbewegung unweigerlich verbunden – in Feindschaft, Sympathie oder durch tätiges Engagement. In der Regierung Schröder/Fischer waren Aktivisten des Jahres 1968 zahlreich vertreten: Fischer als Hausbesetzer und Meister des Straßenkampfs, Schröder als Anwalt solcher Linksaktivisten, die sich der militanten Szene zugehörig fühlten. (Darunter Horst Mahler, RAF-Sympathisant seines Zeichens, heute mastermind des Neonazismus.) Dass Scheitern (?) der Regierung Schröder/Fischer wurde gelegentlich, von Konservativen nach Roland Kochs Art, als Scheitern der Generation von 1968 dargestellt, Nachweis des Dilettantismus, der Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit: Die Studentenbewegung lebt nach in der ‚kollektiven Erinnerung’, bis heute … Was hat es auf sich mit 1968, in Deutschland, im europäischen Zusammenhang?
Gemessen an dem, was in Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten geschah, stellen sich die deutschen Vorgänge beinahe harmlos dar. Zu keinem Zeitpunkt war – wie in Frankreich – zu fürchten, das Militär würde intervenieren. Zu keinem Zeitpunkt schien es wahrscheinlich, eine linke „Volksfront“ – wie Rechte sagen würden – könne entstehen, als ein Bündnis von Studenten und Arbeiterschaft, wie es in Frankreich 1968 immerhin möglich schien. Der Linksterrorismus der RAF – das finstere Nachspiel zur deutschen Studentenrevolte – scheint harmlos, gemessen an italienischen Zuständen der 70er Jahre: am Konglomerat des Terrors aus linksradikalen Roten Brigaden, Geheimbünden, Rechtsextremisten, NATO-Agenten und Militärs. Was 1968 als Lifestyle-Experiment anbelangt, übertrifft die Generation von Berkeley und Woodstock die europäischen Kommunarden bei weiten – trotz Uschi Obermaier, deren freundlichstem Gesicht. Dennoch: In einer, in zeitlicher Hinsicht haben Deutschlands Studenten Priorität: Sie waren unter den Ersten und dienten Frankreichs Studenten als Ansporn und Vorbild.
1967: Der Schah von Persien besucht Deutschland. Er wird hofiert, als treuer Partner des Westens in einer umkämpften Region. Kein Zweifel: Reza Pahlevi ist ein Befreier der Frauen und Anwalt des Fortschritts ‚von oben’, heiligmäßiger Wohltäter Irans – gemessen an dem, was 1979 folgt. (Nicht wenige Linke, darunter Foucault, werden Chomeini, dem Schlächter reinen Gewissens, begeistert akklamieren.) Gleichwohl, in seinen Folterkammern kommen nicht wenige Dissidenten zu Tode. So protestieren die Studenten Berlins, weitgehend friedlich. Der Schah wiederum hat Schlägertrupps und Agenten im Schlepptau. Sie prügeln die Studenten nieder. Berlins Polizei lässt die „Prügelperser“ gewähren. Ein Student kommt ums Leben: Benno Ohnesorg wird, in Notwehr, so heißt es, erschossen – von einem deutschen Polizisten und Stasi-Mitglied, von rechts und links zugleich. Man fürchtet, studentischerseits, Deutschland drifte nach rechts, einem autoritären Staatswesen entgegen. Ein ehemaliges NSDAP-Mitglied, Kurt Georg Kiesinger, ist Bundeskanzler der ‚Großen Koalition’, die mehr als zwei Drittel der Abgeordneten im Bundestag stellt. Opposition findet, innerparlamentarisch, nicht statt. Die Kiesinger-Regierung nutzt ihre Mehrheit für Verfassungsänderungen, zumal die Notstandsgesetzgebung, die es dem Staat gestattet, in Krisen Bürgerrechte einzuschränken. Es entsteht ein Gefühl der Bedrohung. Nicht wenige glauben, eine außerparlamentarische Opposition (APO) müsse der Großen Koalition entgegentreten – mit allen Mitteln. Eine paradoxe Situation: An der Großen Koalition ist die SPD unter Führung des ehemaligen Emigranten und linken Visionärs Willy Brandt beteiligt: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik tritt die Sozialdemokratie in die Exekutive ein. In der Großen Koalition, die realpolitisch – besonders ökonomisch – durchaus erfolgreich agiert, findet sie Zugang zur Macht. Als sich das offizielle Deutschland nach links bewegt, fürchtet die APO, es falle der Rechten anheim.
Das Geschehen um den Schahbesuch ist ein Fanal studentischen Protests. Das Jahr 1968 sein Kulminationspunkt. In Deutschland spitzt sich die Lage deutlich weniger dramatisch zu als im Pariser Mai. Weil ein dramatischer Schlusspunkt fehlt, wird nicht klar, wann die Studentenbewegung, deutscherseits, ihr Ende findet und ob sie erfolgreich war. Als die Proteste verebben, beginnt für zahlreiche Aktivisten der „Marsch durch die Institutionen“: Sie treten in den Staatsdienst ein, um die Gesellschaft von innen her zu verändern: Reformen statt Revolution. (Brandts/Schmidts sozial-liberale Koalition bietet die besten Voraussetzungen für solcherlei Ambitionen.) Aus dem linken politischen Milieu heraus werden Ende der 70er Jahre DIE GRÜNEN entstehen. (Im nachhinein möchte man sagen: Selige Zeiten, als Politik möglich schien. Als niemand versucht war, den Vorrang der Politik gegenüber der Ökonomie in Zweifel zu ziehen.) Andere APO-Mitglieder versinken in lebensreformerischen Kommunen bzw. in Drogen. Eine dritte Gruppe verschmäht Kompromisse: Die Unentwegten und Fanatiker gehen in den Untergrund. Der Linksterrorismus der Revolutionären Zellen und Roten Armee Fraktion nimmt hier seinen Anfang. Bis in die 90er Jahre werden Repräsentanten des „Systems“ – das Wort ist dem Sprachschatz der Nazis entlehnt – entführt oder ermordet. Nicht selten arbeiten ehemalige Lebenskünstler und schwäbische Pastorentöchter mit palästinensischen Terroristen („Freiheitskämpfern“) zu­sammen. Im Antizionismus (Antisemitismus?) ist man einander herzlich zugetan.
Die RAF als finsterer Schatten der Studentenbewegung – sie verdunkelt jede Erinnerung an die Erfolge jener Revolte: Deutschland wird entnazifiziert. Die alten Parteigenossen nehmen den Hut. Dass ehemalige Aktivisten des Nationalsozialismus wie noch zu Adenauers Zeiten in Ministerrang aufsteigen – nach 1968 ist es undenkbar. Ob die sozial-liberale Koalition unter Brandt und Helmut Schmidt ihr eindrucksvolles Reformwerk ohne 1968 im selben Umfang hätte durchführen können? Deutschland wird linker und, dies vor allem, liberaler. Nun kann jeder wählen, wie er leben mag – befreit von Tradition und religiös verbrämter Bedrückung.
(West-) Deutschland kommt in der Moderne an – früher als mancher der Nachbarn. Vor allem ist den Studenten zugute zu halten, dass sie – erfolgreich – gegen den Ungeist des Konsenses aufgetreten sind. Seit damals ist es selbstverständlich, dass Öffentlichkeit nicht dem Konsens verpflichtet ist, sondern dem Streit, und Vielfalt der Lebensentwürfe und politischen Programme kein Nachteil ist, sondern das Beste der Demokratie.
Nachtrag: Für Deutschland hat die Studentenbewegung – trotz antizionistischer, antiamerikanischer Regungen, trotz terroristischer Spät­folgen – Großes geleistet. Darüber hinaus hat sie den Pariser Mai 68 wesent­lich mitgeprägt. Wie steht es um Deutschlands östliche Nachbarn? Wie verhielten sich Deutschlands verhinderte Revolutionäre zum real exis­tierenden Sozialismus des sowjetischen Einflussgebietes in Mitteleuropa, zu den Versuchen – im Prager Frühling –, diesen abzuschütteln? Das ist ein heikles Kapitel. Ihre Blindheit gegenüber kommunistischen Regimes gereicht den Studenten durchaus nicht zur Ehre. (So wenig wie Bürger­lichen die Neigung zu Pinochet, Salazar, Franco.) Auf wessen Seite sie stehen, im Sommer 1968, als das Prager reformkommunistische Experi­ment zerschlagen wird, ist keineswegs klar. Nicht wenige meinen, wer die Sowjetunion schwäche, sei des Hochverrats an der gemeinsamen Sache, dem Sozialismus, schuldig. Auch die klügsten Agitatoren – Enzensberger, Rühmkorf seien genannt – lassen moralische Skrupel ‚im Detail’ um der großen Perspektive der Weltrevolution fahren. In diesem Sinne ist Jürgen Habermas’ Wort vom „Linksfaschismus“ der Studenten durchaus am Platze.
Freilich – wer wäre ohne Fehl, ‚den ersten Stein zu werfen’? Im Ganzen muss die Dankbarkeit überwiegen. Gleich, ob es beabsichtigt war – oder ‚List der Vernunft’ – durch die Studentenbewegung ist Europa, ist Deutschland freier geworden. Nicht so sehr linker, vielmehr liberaler – und dies ist viel wert.

Über Krause Daniel 24 Artikel
Dr. Daniel Krause, geboren 1976 in Bamberg, hat in Wien, Tübingen und München studiert. Seine Dissertation ist 2007 bei Peter Lang, Frankfurt, erschienen: 'Postmoderne' - Über die Untauglichkeit eines Begriffs der Philosophie, Architekturtheorie und Literaturtheorie. Weitere Veröffentlichungen finden sich u. a. bei 'Aufklärung und Kritik', klassik.com, literaturkritik.de und in der 'Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft'. Seit 2007 unterrichtet Daniel Krause deutsche Literatur an der Jagiellonen-Universität Krakau.

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