Wege zur Auflösung des Landtags und vorzeitigen Neuwahlen in Thüringen

Neue Entwicklungen zu einem wiederkehrenden Thema

Bildquelle: Karl-Eckhard Hahn

Am 27. Januar beginnt die Unterschriftensammlung für ein Volksbegehren, das auf eine Änderung der Verfassung des Freistaats Thüringen (ThürVerf) zielt: Die Bürger sollen ein Recht erhalten, einen Volksentscheid zur Auflösung des Thüringer Landtags herbeizuführen. Damit erhält ein Thema wieder Aufmerksamkeit, das den aktuellen, 2019 gewählten 7. Thüringer Landtag wie keinen zuvor beschäftigt. Zugleich hat eine verfassungsrechtliche Debatte über die Folgen einer gescheiterten Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten begonnen, die ebenfalls in Neuwahlen münden kann. Die politisch brisante These der Juristen Julia Dietze und Ralf Schleicher: Um eine Parlamentsauflösung in diesem Fall abzuwenden, müsste ein neuer Ministerpräsident in nur einem Wahlgang von der Mehrheit der Mitglieder des Landtags gewählt werden.

Um die politische Bedeutung dieser Interpretation zu verstehen, ist zunächst ein Blick auf die Auseinandersetzungen um das Procedere bei der Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten in der Landesverfassung erforderlich. Nach Art. 70 Abs. 3 ThürVerf muss für die Wahl eines Ministerpräsidenten in den ersten beiden Wahlgängen die Mehrheit aller Landtagsmitglieder zustimmen, im dritten Wahlgang ist gewählt, wer „die meisten Stimmen erhält“. Zu diesem Meiststimmenprinzip gibt es zwei Lesarten, die vor allem relevant sind, wenn es nur einen Bewerber gibt. Lesart eins: Gewählt ist nur, wer mehr Ja- als Nein-Stimmen erhält. Lesart zwei: Es zählen aus einem am Ende entscheidenden Grund allein die Ja-Stimmen: Der durch die Bürger in der Wahl neu legitimierte Landtag soll die vom vorherigen Parlamente gewählte, mit seinem Zusammentritt nur noch geschäftsführende Regierung durch die Wahl einer neuen ablösen. Diese Kontroverse hat nach den Landtagswahlen 2009, 2014 und 2019 eine Rolle gespielt.

Von absehbarer Relevanz war sie Anfang 2020, da Bodo Ramelow am 5. Februar als Kandidat einer Minderheitsregierung und demzufolge ohne eigene parlamentarische Mehrheit zur Wahl des Ministerpräsidenten antrat. Beigelegt wurde der Streit der Verfassungsinterpreten trotz der wiederkehrenden Unsicherheit bisher nicht. Zuletzt scheiterte ein Versuch, im Vorfeld jener Wahl im Justizausschuss des Thüringer Landtags über den Umweg einer Geschäftsordnungsdebatte eine verbindliche Interpretation herbeizuführen (vgl. LtDrs. 7/155 und 7/233). Auch der Verfassungsausschuss des Thüringer Landtags hat sich bisher noch nicht darauf verständigen können, dem Landtag eine Klarstellung in Art. 70 Abs. 3 ThürVerf zu empfehlen und damit Verfahrenssicherheit zu schaffen. Ein Vorschlag als Diskussionsgrundlage liegt vor (LtDrs. 7/1628, Art. 1 Nr. 2). Die Unklarheit an dieser Stelle wirkt sich unter anderem auf den politischen Gebrauchswert der Vertrauensfragen (Art. 74 ThürVerf) aus. Verweigert der Landtag dem Ministerpräsidenten das Vertrauen, kann das Parlament Neuwahlen nur noch abwenden, wenn es innerhalb von drei Wochen einen neuen Ministerpräsidenten wählt (Art. 50 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ThürVerf).

Die interessante Frage ist: Gelten die skizzierten Regeln auch für die Wahl eines Ministerpräsidenten nach einer gescheiterten Vertrauensfrage? Nein, gelten sie nicht, schreiben jetzt Dietze und Schleicher in einer Abhandlung in den Thüringer Verwaltungsblättern (ThürVbl. 12/2022, 277-284). Die Wahl könne nur mit absoluter Mehrheit in einem Wahlgang erfolgen. Die Verfasser unterscheiden zwischen dem „verfassungsrechtlichen Normalfall der Wahl eines Ministerpräsidenten zu Beginn der neuen Wahlperiode“ und krisenhaften Ausnahmesituationen. Während nach der Landtagswahl, vereinfacht gesagt, eine Minderheitsregierung als „Ultima Ratio“ hinzunehmen sei, um eine noch vom alten Landtag gewählte Übergangsregierung abzulösen, widerspreche dies dem Regelungszweck einer Ministerpräsidentenwahl nach einem erfolglosen Vertrauensantrag. Sinn der Norm kann danach nicht sein, einen Ministerpräsidenten ohne Mehrheit durch einen anderen ohne Mehrheit abzulösen und damit in instabilen Verhältnissen zu verharren. Auch beim konstruktiven Misstrauensvotum (Art. 73 ThürVerf) könne der Landtag den amtierenden Ministerpräsidenten schließlich nur ablösen, in dem er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen wählt. Zudem laufe der „vorgesehene Auflösungsmechanismus ins Leere, womit auch die disziplinierende Funktion des Vertrauensantrags entfiele“.

Vermutlich werden solch weitreichende Interpretationen nicht unwidersprochen bleiben. Um verfassungsrechtlich ganz auf die sichere Seite zu gelangen, empfehlen Dietze und Schleicher vorsorglich eine Klarstellung in der Verfassung, der zufolge die Wahl eines Ministerpräsidenten nach einer gescheiterten Vertrauensfrage mit der Mehrheit der Mitglieder des Landtags zu erfolgen habe. Setzt die Auslegung sich durch, hätte dies gerade angesichts der Mehrheitsverhältnisse im aktuellen Thüringer Landtag weitreichende Konsequenzen. Die Vertrauensfrage galt angesichts der rechtlichen und politischen Unwägbarkeiten im dritten Wahlgang nach dem Meiststimmenprinzip als vergleichsweise stumpfes Schwert, das eher ins Chaos als zu Neuwahlen führt. Mit dieser Interpretation wäre es als Weg zur Auflösung des Landtags und damit als Disziplinierungsmittel des Ministerpräsidenten neu geschärft. Die Vertrauensfrage kann mit einem inhaltlichen Antrag, etwa der Zustimmung zum Haushalt, verknüpft werden. Auf die weitere fachwissenschaftliche und politische Debatte darf man daher gespannt sein.

Ähnliche Bedeutung wird das Volksbegehren nur erlangen, wenn es den Initiatoren bis Ende Mai 2023 gelingt, genügend Unterstützung zu mobilisieren. Entscheidend wird unter anderem sein, wie sehr das seinerzeit verbreitete Unverständnis über die gescheiterte Selbstauflösung des Landtags im Juli 2020 noch nachhallt und das Interesse an einer direktdemokratischen Interventionsmöglichkeit fortbesteht. Die Regeln für eine Selbstauflösung sind einfach, sie stellen richtigerweise jedoch zugleich eine hohe Hürde dar, denn das Selbstauflösungsrecht ist rechtlich umstritten. Vor allem soll vermieden werden, dass eine einfache Mehrheit in einer für sie politisch vorteilhaften Situation einfach das Parlament auflösen kann. Auf Antrag eines Drittels der Mitglieder des Landtags können daher nur zwei Drittel die Auflösung beschließen (Art. 50 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ThürVerf).

Die regierungstragenden rot-rot-grünen Fraktionen und die CDU-Fraktion hatten sich nach der umstrittenen Wahl Thomas L. Kemmerichs zum Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 und seinem Rücktritt auf Neuwahlen verständigt. Nach einer coroanbedingten Verschiebung sollten sie schließlich am 26. September 2020 gemeinsam mit der Bundestagswahl stattfinden. Der bereits eingereichte Antrag auf Auflösung des Landtags (LtDrs. 7/3660) konnte nicht aufrechterhalten werden (LtDrs. 7/3770), weil ein Teil der Unterstützer es als nicht hinnehmbares Risiko betrachte, den Landtag unter Umständen nur mit Stimmen aus den Reihen der Fraktion der AfD auflösen zu können. Kaum debattiert wurde in diesem Zusammenhang, dass politische Macht nicht wie bei einer Ministerpräsidentenwahl legitimiert wird, sondern das Parlament sie bei seiner Selbstauflösung gleichsam wieder an das Volk zurückgibt.

Die Initiatoren des Volksbegehrens begründen ihre Initiative auf ihrer Kampagnenseite und dem Unterschriftsbogen ausdrücklich mit dem aus ihrer Sicht nicht eingelösten Versprechen, das Parlaments aufzulösen. Sie begehren, Art. 50 Abs. 2 ThürVerf, der sich mit vorzeitig durchzuführenden Neuwahlen befasst, um eine dritte Möglichkeit zu ergänzen: Der Landtag soll durch einen Volksentscheid aufgelöst werden können, dem die „Mehrheit der Abstimmenden“ zustimmen muss, „diese Mehrheit muss mindestens 40 von Hundert der Stimmberechtigten betragen“. Dieses Zustimmungsquorum entspricht dem für Verfassungsänderungen im Wege der Volksgesetzgebung (Art. 83 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf). Der Volksentscheid kann nur durch ein Volksbegehren herbeigeführt werden, für das die Initiatoren sich eng an den in der ThürVerf bereits vorhandenen Regeln orientieren (Art. 82 ThürVerf). Das heißt zugleich: Der Landtag wäre auch bereits dann aufgelöst, wenn er einem erfolgreichen Volksbegehren auf seine Auflösung entspricht und es gar nicht erst auf eine Volksabstimmung ankommen lassen will.

Eine besonders ausgefallene Forderung ist die Möglichkeit der vorzeitigen Landtagsauflösung durch Volksentscheid nicht. In der Thüringer Verfassungsgeschichte vor 1993/94 finden sich vielfältige Beispiele. So waren ähnliche Möglichkeiten in den Verfassungen von 1921/22 und 1946 sowie in einem Verfassungsentwurf des Politisch beratenden Ausschusses zur Gründung Thüringens 1990 vorgesehen. Einen Artikel zur vorzeitigen Auflösung des Landtags durch Volksbegehren und Volksentscheid sah auch der Entwurf für eine Thüringer Verfassung der Fraktion der der Linken Liste/PDS im 1. Thüringer Landtag vor. Die SPD unterstützte den Vorschlag seinerzeit im Unterausschuss des Verfassungsausschusses. Er wurde jedoch nicht weiterverfolgt. Auch die Verfassungen von sechs der 16 deutschen Länder kennen vergleichbare Bestimmungen: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen und Rheinland-Pfalz. Große praktische Relevanz haben sie bisher nicht erlangt. Zuletzt scheiterte ein Volksbegehren zur Auflösung des Landtags in Bayern im Oktober 2021 deutlich. Für Berlin gibt es zumindest Indizien für indirekte Effekte des Instruments. So gingen der Selbstauflösung des Berliner Abgeordnetenhauses in den Jahren 1981 und 2001 entsprechende Volksbegehren voraus.

Mit der Zulassung des Volksbegehrens hat die Thüringer Landtagspräsidentin die Sammlungsfrist auf den Zeitraum vom 27. Januar 2023 bis zum 26. Mai 2023 festgesetzt (ThürGVBl. 23/2022, 433f). Zustande kommt es, wenn in diesem Zeitraum zehn von Hundert der in Thüringen Stimmberechtigten zustimmen. Das sind nach Angaben der Initiatoren 183 000 Bürger. Findet das Volksbegehren diese Unterstützung, hat der Landtag sechs Monate Zeit, darüber zu beraten. Stimmen zwei Drittel der Abgeordneten zu, ist die ThürVerf entsprechend geändert. Lehnt der Landtag die Verfassungsänderung ab, hat die Landesregierung innerhalb weiterer sechs Monate einen Volksentscheid anzusetzen. In dem Fall kann der Landtag einen eigenen Gesetzentwurf mit zur Abstimmung stellen (Art. 82 Abs. 7 Satz 2 Halbsatz 2 TürVerf).

Die Fristen zeigen, dass selbst ein erfolgreiches Volksbegehren schwerlich zu vorgezogenen Neuwahlen des aktuellen 7. Landtags führen kann. Je nachdem, wie schnell die Unterschriften überprüft sind, der Landtag am Ende beriete und beschlösse, wäre über diese Verfassungsänderung irgendwann zwischen Herbst 2023 und Sommer 2024 entschieden, dann sehr nah am Zeitpunkt regulärer Landtagswahlen. Ein Volksbegehren zu vorzeitigen Neuwahlen des Landtags auf Basis der geänderten ThürVerf käme in jedem Fall zu spät.

Parlamentaria: https://parldok.thueringer-landtag.de/ParlDok

Volksbegehren: https://buergerveto-thueringen.de/

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Über Karl-Eckhard Hahn 23 Artikel
Karl-Eckhard Hahn, Dr. phil., Jahrgang 1960, verheiratet, vier Kinder. Historiker, Leitender Ministerialrat im Thüringer Landtag. Mitgliedschaften (Auswahl): Landesvorstand des Evangelischen Arbeitskreises der CDU Thüringen, Vorstand der Deutschen Gildenschaft, Historische Kommission für Thüringen, Ortsteilrat Stotternheim, Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchengemeinde St. Peter & Paul in Stotternheim. Veröffentlichungen zu politischen Grundsatzfragen, Themen der Landespolitik und Landesgeschichte Thüringens und zur Stotternheimer Lokalgeschichte. Twitter: @KE_Hahn.