„Wenn ich von sozialen Klassen auch nur reden höre, wird mir speiübel.“

„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Mit diesem Satz beginnt die Einleitung im von Karl Marx und Friedrich Engels 1847 geschriebenen und 1848 veröffentlichten „Manifest der Kommunistischen Partei“.
Ein Gespenst ist ein Wesen, das spukt und gefährlich erscheint, ein kaum zu fassender Geist, der gewöhnlich keinen fest umrissenen, greifbaren Körper hat. Marx und Engels wollten mit der Aussage auf die schon vorhandene Existenz einer gesellschaftlichen Bewegung, die den Kommunismus als Ziel hat, hinweisen. Für die Mächtigen der damals bestehenden Herrschaftsverhältnisse in Europa fürwahr ein Schreckgespenst, dessen spukhafte Erscheinung hinter jeder Opposition gewittert wurde. In Anlehnung an Marx und Engels könnte deren Aussage in eine andere Richtung gelenkt werden: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Klassenkampfs.“
Luciano Gallino, Soziologe, emeritierter Professur an der Universität Turin und langjähriger Präsident des italienischen Soziologenverbandes hat sich gemeinsam mit Paola Borgna dem Thema „soziale Klassen und Klassenkonflikt“ angenommen. Ein Aspekt, der heutzutage vielfach als weniger wichtig und kaum noch existent abgetan wird, um die globalen Umwälzungen in Arbeit, Produktion und Technologie, in allen Lebensbedingungen und in Kultur und Politik zu beschreiben. Die titelgebende Aussage eines nicht benannten, aber lt. Gallino „ziemlich bekannten italienischen Politikers“ der Partito Democratico (Nachfolger der KPI) zeigt, dass sogar stark linksgerichtete Fraktionen von sozialen Klassen nichts mehr hören möchten und das Klassenkonzept als ein Überbleibsel des 19. Jahrhunderts bezeichnen. Schnell wird jemandem, der von solchen redet, vor allem von populistisch medialer Seite Neid auf die Reichen und Mächtigen angelastet. Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler wiederum sprechen eher von einem „Flechtwerk von neuen Kulturen und Lebensstilen, von völlig neuen Technologien und Berufen, von schrankenlosen Informations-, Dienstleistungs- und Warenflüssen, auf der Suche nach persönlicher Identität in der Individualisierung bei gleichzeitiger Sozialisierung durch das Internet.“
Der italienische Autor ist jedoch völlig anderer Meinung. Für ihn macht es durchaus Sinn, noch über Klassen und Klassenkampf zu diskutieren. Trotz des allgemeinen „Sperrfeuers transkultureller und trans-politischer Einwände gegen die Idee von Klasse und Klassenkampf“ unternimmt er den auf den ersten Blick kontroversen Versuch aufzuzeigen, „dass beiden weiterhin eine gewisse Bedeutung innewohnt“. Aufgebaut als Frage-Antwort-Konzept zeigt Gallino in seinen hochinteressanten Ausführungen, dass – grob skizziert – die heutigen Strukturen denen einer feudalen Gesellschaft gar nicht so unähnlich sind. Man könnte sie auch vielleicht besser als eine „High-Tech-Re-Feudalisierung auf Basis des Kapitalismus“ bezeichnen. Auf der einen Seite die scharf eingegrenzte Klasse der Super-Reichen und Super-Mächtigen und auf der anderen die eine oder auch endlos großen Klassen, „die in Gefahr sind, das bisschen an wirtschaftlichen Ressourcen und an politischer Macht wieder zu verlieren, das sie in der Nahkriegszeit erlangt hatten“.
In zehn Kapiteln erläutert Gallino das diffizile und beziehungsreich verflochtene Thema mit großartig ausdrucksstarker Einfachheit und Logik. Auch wenn das Buch für einen Nichtexperten sicherlich nicht einfach zu lesen und zu konsumieren ist, gelingt es ihm hervorragend (irrelevant ob man mit ihm übereinstimmt oder nicht), einen Blick auf die Welt zu werfen, der mit Klarheit, Unität und einem überaus soliden Fundament überzeugt. Neben dem Begriff der sozialen Klasse und des Klassenkampfes befasst er sich mit den umfassenden Themen der wirtschaftlichen Globalisierung, der Umverteilung des Einkommens von unten nach oben, dem Sparregime bei den öffentlichen Klassen, flexibler Arbeit in einer starren Gesellschaft bis hin zum Klassenkampf im Alltag, wie den Schwierigkeiten, in der eigenen Arbeit irgendeinen Sinn zu erkennen, dem Billiglohnsektor oder den Auswirkungen auf die Familie. Der Autor zeigt die unterschiedlichsten latenten Formen des immer noch vorhandenen Klassenkampfs auf, der heute zumeist mittels Gesetzen, allen voran Steuergesetze, geführt wird. Er spricht Lobbyismus genauso an wie die zunehmende „Finanzialisierung“ der Welt: die verbissene „Jagd nach jedem nur vorstellbaren Winkel der Natur, der Gesellschaft und des Menschen, der sich in Geldwert übersetzen ließe, in Münzen; zur Schaffung von Geldeinkommen durch den Einsatz von Geld.“
Fazit: „Der Klassenkampf nach dem Klassenkampf“ erweist sich als hochkomplexes und umfassendes Thema, allerdings äußerst tiefgründig, kompetent und verständlich dargebracht. Luciano Gallino wirft einen zuweilen erschreckend aufrüttelnden Blick auf die Welt mit ihren immer noch vorhandenen Klassen und deren derzeitig durchaus gefährlicher Unsichtbarkeit im Alltag („während ihre Präsenz in der Wirtschaft und in der Produktion doch tief geht und weitreichender ist denn je“). Denn diese, so der Autor, „hat einen Niedergang des Gemeinschaftsgefühls mit sich gebracht, und es schwindet auch die Wahrnehmung davon, dass man zu einer bestimmten Gemeinschaft gehört, was ja eine Art von Verpflichtung anderen gegenüber bedeutet, von denen man wiederum gesellschaftliche Anerkennung und Solidarität erfährt.“ Eine Stimme, die es unbedingt verdient hat, gehört und gelesen zu werden.

Luciano Gallino
Der Klassenkampf nach dem Klassenkampf
Ein Gespräch mit Paola Borgna
Aus dem Italienischen von Andreas Rostek
edition.foto TAPETA Berlin (August 2013)
207 Seiten, Broschiert
ISBN-10: 3940524212
ISBN-13: 978-3940524218
Preis: 14,80 EUR

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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