Wirklichkeitssplitter – Scherben – Weltvermehrung im Meer der Erinnerung

„Der denkende Mensch zermartert ächzend sein Gehirn, er weiß, dass seine Erwägungen immer nur Möglichkeiten und keine Gewissheiten ergeben werden, dass andere Betrachtungen alles wieder in Frage stellen werden, er weiß nie, wohin er geht, er ist allem 'geöffnet', und die Welt hält ihn für einen Zauderer.“ (Jean-Paul Sartre)
Die 1973 in Dalmatien geborene und seit ihrem 10. Lebensjahr in Deutschland aufgewachsene Marica Bodrožić beschäftigt sich in ihrem neuen Roman gleichfalls mit Perspektiven, Wegen und Umwegen. Die Wege ihrer knapp vierzigjährigen Protagonistin Arjeta Filipo scheinen sich zuweilen mit denen der Autorin zu kreuzen. Auch sie hat ihre Wurzeln in Dalmatien. Allerdings ging sie erst kurz vor Ausbruch des Krieges nach Paris, um dort Philosophie zu studieren. Ihre Eltern blieben in der 1425 Tage belagerten Stadt zurück. Eine unglückliche Liebe zu dem Künstler Arik fesselt Arjeta mehrere Jahre, bevor sie sich endlich lösen kann. Sie folgt ihrer Freundin Nadeshda, um in Berlin ein neues Leben zu beginnen. In ihrer lichtdurchfluteten Wohnung im 5. Stock scheint sie endlich angekommen zu sein. Die ersten sieben Tage gleichen dem Öffnen eines Archives, dessen Schlüssel verloren schien. Arjeta erzählt vom Finden neuer Wege, „um auf das andere Ufer, die noch unbeschriebene Seite“ ihres Lebens zu gelangen. Eine große Hilfe waren ihr dabei ihre Freunde: Nadeshda, Hiromi – die Japanerin, mit der sie sich in Paris eine Wohnung teilte – und der Deutsche Mischa, der ihr beinahe so etwas wie Vaterersatz wird. Lücken werden geschlossen, Leerstellen ausgefüllt, die „plattentektonische Gefühlsfabrik“ beruhigt. Die Welt ist keine Überschreibung mehr für sie und der Grund der Dinge entzieht sich ihr nicht mehr. Ihr Leben wird fassbar und wartet nicht mehr in der Vergangenheit.
Doch bis sich Arjeta aus ihrem eigenen Inneren, den Gefängniszellen ihres Kopfes und ihren Selbttäuschungen befreit, bis sie erkennt, dass „die Vergänglichkeit nur dann wehtut, wenn man nicht um sie weiß oder gegen sie ankämpft“ und bis sie den leuchtenden Faden, der alles verbindet, findet, vergehen zwanzig Jahre. Diese Zeit lässt sie in ihrem „Vögelchenzimmer“, einem Raum der neuen Wohnung, der vollkommen leer bleibt, in dem sie nur atmen will und an ihrem Kirschholztisch, der bereits ihrer Großmutter Inge, einer Deutschen, die nach Istrien geheiratet hatte, gehörte, Revue passieren. Immer wieder setzt sie sich mit Fragen auseinander: „Welches Leben verpassen wir, während wir ein anderes ersehnen?“ Worin besteht der Wert von einem Einzelnen, „wenn wir doch alle ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Menge der Namen, Nummern und Adressen verschwinden. Oder ist das gerade eine Möglichkeit, der eigenen Austauschbarkeit zu entkommen“? Was von der Zeit ist wesenhaft, was bleibt und was das Unzerstörbare? Und vor allem: Welches Leben ist das richtige und wer kann man in dem alles umgebenden Netzwerk aus Sprache und Stille, aus Wissen und Erinnern noch werden?
Der Erzählstil der Autorin gleicht einem mäandernden Erinnerungsfluss, einem ständigen treppauf und treppab, einem Archivieren von Gedanken. Vielleicht eine Art Weltverstehen.
Arjetas langer innerer Monolog ist ein zaghaftes, feinfühliges Herantasten, ein vorsichtiges Erobern, ein Abwägen und Hinterfragen an die Geheimnisse des menschlichen Lebens, eine Suche nach sich selbst, nach der eigenen, einsam hallenden Stimme. Marica Bodrožić versteht sich vortrefflich auf das Füttern von Imaginationen. Hervorzuheben ist das außergewöhnliche Sprachempfinden. Die auf deutsch schreibende Autorin findet Worte und Sätze, die im Kopf des Lesers zu Landschaften werden und die Lektüre zu einem fast fühlbaren sinnlichen Empfinden machen. Gleichzeitig ist jedoch durch ihre komplexen Gedankengänge und Zeitensprünge eine erhöhte Konzentration vonnöten, um die Komplexität und Tiefe ihrer Zeilen zu erfassen und zu verinnerlichen. Aber wie stellte die Autorin in ihrem Debütroman „Das Gedächtnis der Libellen“ bereits so treffend fest: „Es ist in allem eine Zwickmühle drin, nur in der Liebe und im Erzählen nicht, da findet sich alles in der Vereinigung zusammen und wird dann allen Widersprüchen zum Trotz etwas Ganzes. Sprache.“

Marica Bodrožić
Kirschholz und alte Gefühle
Luchterhand Literaturverlag, München (September 2012)
220 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3630873952
ISBN-13: 978-3630873954
Preis: 19,99 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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