„Eine furchtbare Kraft ist in uns, die Freiheit.“ (Cesare Pavese)

„Das Leben, eine fahle Leuchtspur am nächtlichen Firmament, eine Spur, der man staunend mit den Augen folgt, den Kopf im Nacken, von hier nach da, ein weiter Bogen über das ganze Himmelsrund, puff!, schon erloschen, schon zu Ende und vorbei.“
Bereits auf der ersten Seite nimmt Hansjörg Schertenleib den Ausgang seines neuen Romans vorweg: Die 73-jährige Roberta Kienesberger wird ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben. Ob es die 15-jährige, schwer verletzte Ayfer Boskül schafft, bleibt offen. Was war passiert? Und ist ein Roman eigentlich noch lesenswert, wenn das Ende vorweg genommen wird?
Zwei Frauen, zwei Schicksale, lässt der 1957 in Zürich geborenen Autor, der seit einigen Jahren in Irland lebt, im Wechsel nebeneinander laufen. Beide brechen aus ihrem unfreiwillig aufgezwungenen Leben aus. Die ältere der beiden möchte noch einmal ihre Heimat – Österreich – sehen, die andere will wieder zurück in die Schweiz zu ihren Eltern und Freunden. Roberta nahm man ihren Hund und steckte sie in ein Schweizer Altersheim, die junge Türkin Ayfer zu ihren Verwandten in die Türkei. Auf zwei Erzählebenen, mit jeweils abwechselnden Kapiteln, begleitet der Leser beide Frauen auf ihrer Flucht. Trotz ihres Altersunterschiedes und ihren unterschiedlichen Zielen – die eine ist auf der Suche nach der glücklichen Vergangenheit, die andere auf der Flucht vor einer Zukunft – weisen ihre Lebensbahnen Schnittpunkte auf. Was Roberta zeitlebens nicht gelang, nämlich die Frau zu sein, die sie wollte („Ich habe meine Träume dem Leben angepasst, das ich führe (…). Das hat nicht nur mein Leben und meine Träume kleiner gemacht, sondern auch mich, kleiner und ängstlicher, als ich hätte sein können.“), versucht das junge Mädchen hingegen frühzeitig umzusetzen. Fragen werden aufgeworfen: Kann man die Vergangenheit vielleicht überwinden? und „Warum träumen die meisten Menschen von Dingen, die sie niemals tun würden? (…) Warum träumt man von Dingen, vor denen man sich, bei Lichte betrachtet, fürchtet?“
Liebe, Glück und Enttäuschung, Leben und Tod, Vergangenheit und Erinnerung, Wünsche und Grenzen sowie Heimat sind die zentralen Themen in Hansjörg Schertenleibs neuem Roman, der erneut mit einem feingeistigen Duktus aufwartet. Vielfältige Eindrücke und Erinnerungen durchziehen den Roman, berühren – ganz ohne weinseliges Pathos – alle Sinne und üben einen zunehmend magischen Sog aus. Mit leichter Hand und unaufgeregtem Tonfall, aber doch viel Gespür für atmosphärische Details, zeichnet er das Porträt zweier Frauen: die eine am Beginn, die andere am Ende ihres Zyklus. Auf unnachahmliche Art und Weise versteht er es, Gesten und Blicke ins Jetzt zu heben und damit dem Leser zugänglich zu machen. Letztendlich ist es vor allem die unkonventionell schöne Sprache, die dem Roman eine poetisch dichte, durchaus anrührende Atmosphäre verleiht.

Hansjörg Schertenleib
Wald aus Glas
Aufbau Verlag, Berlin (September 2012)
286 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3351035039
ISBN-13: 978-3351035037
Preis: 19,99 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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