Tannhäuser, den feinsinnigen, verletzlichen, zwischen Kurtisane und Konvention hin- und hergerissenen Künstler – den darf es, so einfach, 2019 nicht mehr geben. Nicht im Bayreuth der fortschrittsversessenen Intendantin Katharina Wagner. Die schaut dem Kreuzbraven (inkl. dem ihres Herrn Vaters, vor 100 Jahren geboren, vor 9 Jahren gestorben) schon lange hinterher. Nun holte sie sich wieder – den wievielten nach Schlingensief für „Parisfal“?) einen Umstürzler als Regisseur für des jung-rebellierenden Urgroßvaters erregenden „Sängerkrieg auf Wartburg“ an den Grünen Hügel. Ohne Biogasanlage. Ist nicht mehr gefragt, wie gleich zu Anfang des total anderen, hinreißend amüsanten „Tannhäuser“-Wurfs mit. Nicht einem, sondern einem Triumvirat ist er geglückt: dem 39-jährigen Landshuter Tobias Kratzer, sekundiert von Lieblings-Ausstatter Rainer Sellmaier und Top-Video-Spezi Manuel Braun. Alle schon Wagner/“Tannhäuser“-erfahren. Hatten zusammen nicht nur eine, nein tausend Ideen, Richards Künstler-Drama für Bayreuth 2019 zu erneuern. Ließen „Tannhäuser“ als Road Movie im muffigen, Was-kostet-die Welt-Tingeltangel-Milieu spielen, schon um Twen-Richards Revoluzzer-Devise mit den 3 „Freis“ zu erfüllen – im Wollen, im Thun, im Genießen.
Genussreich fiel Kratzer/Sellmaier/Brauns geistesblitzgewittriger, freilich Otto Normal-Konsumenten überfahrender, bild-strotzender, anspielungsreicher, verquerer „Tannhäuser“ als pseudo-„romantische große Oper in drei Aufzügen“ aber dennoch aus. Was mit einem Polizisten-Mord – hä?? – beginnt, was einen Polizei-Einsatz im veritabel auf die Bühne (per wunderfeiner Endlos-Videos) gestellten Festspielhaus erfordert, das endet sitten-widrig mit dem Selbstmord der heiligsten aller Wagneropern-Heroinen, Elisabeth von Thüringen. Wie weh. Wie wahr. Wie wirr. Wie wunderlich aber und beispiellos aufregend. Vieles, wohl das meiste geht von Wagners Text in dieser Version der Story vom Lebenssinnsucher-Sünder auf, eines heillos Getriebenen, der beim schroffen Papst in Rom keine Gnade wie auch wohl nach Elisabeths Freitod und Venus` Frust keine ruhige Minute mehr auf Erden finden kann.
Das subkulturell wilde, struppige, tepperte Trio um den abgewrackten Titel-„Helden“ ist eine sowohl bour- als auch pittor-eske saulistige Schau für sich: kleinwüchsiger Oskar Matzerath (Manni Laudenbach), bombige schwarze Drag-Queen (unübertroffen: Le Gateau Chocolat), dazu, ach, so naheliegend und ach, so leicht erklärbar, am Steuer einer verbeulten Citroen-Karre Frau Venus, die Liebesgöttin. Darf bei Kratzer & Co. dauernd. Ist bei Kratzer & Co. stets im Bild, auch wenn sie nur zu gestikulieren und nix zu singen und zu sagen hat. Wie beim hochspannend gestalteten, hochdramatisch griffigen, hochjubelnden Sängerkrieg. Venus ist dabei – hä?? – ganz Schlange, verschlagen und wurschtig mischt sie sich unter die Landgraf-Tanten und reagiert cool auf die Liebes-„Erklärungen“ der Sängerriege – bitte, nochmal diesen 2. Akt! Venus entert mit ihrer Truppe das Bayreuther Festspielhaus. Eh egal, da drin läuft ja bloß was von Wolfgang Wagner, Katharinas Vater, hängen ja nur Taktstock-Größen-Fotos von Levine, Thielemann & Co an der Wand. Findet ja, im Wartburg-Saal unter einem der vier altdeutschen „Kron“-Leuchter, ein heißer Song Contest um das Wesen der Liebe statt. Dem die Polizei – Heinrich Tannhäuser wird abgeführt – ein Ende setzt.
Venus-Gang traf auf Landgraf-Sippe, auf eine Mannschaft wilder Sängerkrieger (auffallend: Daniel Behle als Walther) mit Wolfram vorne weg, dem verklemmten Elisabeth-Verehrer. Dass es bei Verehrung nicht bleibt, dass Wolfram die sich, ritzend, selbst aufgebende Elisabeth, kurz vor ihrer Selbst-„Erlösung“ (rum)kriegt, ist ein gewaltiges (Schluss-)Stück. Kaum zu verkraften. Wie so manches dieser „Tannhäuser“-Version erst beim Grübeln einsichtig wird. Was sieht und hört man da? Ist es Richard Wagners „Tannhäuser“? Man kennt die Dresdner Fassung, auch ohne Pariser Bacchanale ist sie musikalisch brillant und brisant.
Valery Gergiev, Debütant am Bayreuther Pult, gab „Tannhäuser III“ (13. August) eines Trauerfalls wegen an Christian Thielemann ab. Süffig und satt, nuancen- und farbenreich, als reiner musikalischer Freudenquell kam die Musik aus dem Thielemann, dem Generalmusikdirektor des Grünen Hügels, vertrauten Graben. Manches fiel der Perfektion zum Opfer – wie anders sollte es gehen beim Einspringen? Thielemann gehörten – schon nach Ansage Katharina Wagners vor dem 1. Vorhang – alle Sympathien des Publikums. Den Beifall für Christian hätte Valery nicht verkraftet. Sein Ersatzmann fand sich – was keineswegs erstaunt bei so viel Bayreuth-Erfahrung – mit Solisten samt Ausnahme-Chor unter Eberhard Friedrichs Leitung sehr gut zurecht. Lautstarke Zustimmung, schon nach den beiden ersten Aufzügen, gab es seitens des Publikums. Beklatscht wurden Stephen Gould für seinen dauererregten, schweren, Mitleid erregenden Penner-Clown, Aussteiger erst, Wiedereinsteiger dann, stimmlich eine Zisterne voller Wunder, aus der tags drauf der Tristan tönt; Lise Davidsen für ihre herbe, evangelikale Fatima-Muttergottes-Unschuld mit mächtig aufgedrehtem hochdramatischen Hallenarien-Organ, das in weite Höhen und hohe Weiten weist; Markus Eiche für seinen schatten- und standhaften, latent libidinösen, leicht intonationsschwankenden Wolfram, dem man die erschütternde „Todesahnung“ abnahm, mit der sein traurig` Lied an den Abendstern anhebt; endlich Elena Zhidkova für ihre erstaunlich sichere, witzige, wendige, extra unsympathisch gezeichnete, sexgierige Anti-Göttin. Auch Stephen Milling für seinen prägnanten, wohllautend-begütigenden Landgrafen und Katharina Konradi für ihre Mini-Partie des Hirten, dessen Schöngesang dem der Verzweiflung nahen Rom-Pilger (Gould: grandios nicht nur bei der Rom-Erzählung!) so gut tat, dass dieser dem/der Davonradelnden lange wehmütig nachschaute. So wie wir, die, das aufgemischte Festspielhaus von Bayreuth verlassend, einer Inszenierung mit brillanten Stimmen nachsinnen, die einem noch lange die Brust beklemmt und das Wagner-Herz pochen lässt.