Bundespräsident Joachim Gauck: Festveranstaltung des Walter Eucken Instituts

Allen Mitgliedern und Freunden des Walter Eucken Instituts meinen herzlichen Glückwunsch zum 60. Jubiläum!
Sie werden von mir keinen Fachvortrag erwarten – über das Walter Eucken Institut im Wandel der Zeiten oder über den Ordoliberalismus an und für sich. Das Amt des Bundespräsidenten macht mich nicht zum Ökonomen und Sie wissen auch: Mit Urteilen zur Tagespolitik hat sich der Amtsträger zurückzuhalten. Aber meine Haltung kann und will ich Ihnen mitteilen. Und so dürfen Sie von mir erwarten, dass ich die Würdigung der Freiburger Schule mit einem Plädoyer verbinde.
Hier in Freiburg haben unabhängige Geister – in Zeiten totalitärer Herrschaft – eine Ordnung der Freiheit entworfen, eine Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg, in Zeiten großer Skepsis gegenüber liberalen Wirtschaftssystemen, dazu beigetragen hat, Deutsche mit Marktwirtschaft und Wettbewerb zu befreunden. Hier wurde ein Kapitel der Freiheitsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland verfasst.
Denn Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft gehören zusammen. Wer eine freiheitliche Gesellschaft möchte, möge sich einsetzen für Markt und Wettbewerb und gegen zu viel Macht in den Händen weniger. Er muss aber auch wissen: Eine freiheitliche Gesellschaft ruht auf Voraussetzungen, die Markt und Wettbewerb allein nicht herstellen.
Gedanken und Begriffe Walter Euckens können uns bei dieser doppelten Aufgabe auch heute leiten. Er suchte nach einer Wirtschafts- und Sozialordnung, die „wirtschaftliche Leistung und menschenwürdige Daseinsbedingungen gleichermaßen gewährleistet“, nach einer Ordnung, die auf die Freiheit des Menschen ausgerichtet ist. Und er fand vieles, was diese Freiheit – heute wie damals – bedroht.
Da schreibt er, dass „die Gewährung von Freiheit eine Gefahr für die Freiheit werden kann, wenn sie die Bildung privater Macht ermöglicht; dass zwar außerordentliche Energien durch sie geweckt werden, aber dass diese Energien auch freiheitszerstörend wirken können“. Klingen diese Worte nicht sehr vertraut, wenige Jahre nachdem Banken und politische Versäumnisse die Wirtschaft vieler Staaten und damit auch Millionen Menschen in eine tiefe Krise stürzten, um dann, weil „too big to fail“, mit Milliarden der Steuerzahler gestützt und gerettet zu werden?
An anderer Stelle lese ich bei Eucken über die Gefahren, die dem Einzelnen in der modernen arbeitsteiligen Welt drohen – nicht allein wirtschaftliche Not, sondern auch die Beeinträchtigung oder sogar der Verlust seiner Freiheit, „sei es durch private Macht, oder, im schlimmsten Fall, durch den totalen Staat“. Wie könnte ich bei diesen Worten nicht erinnern an selbst erlebte Jahrzehnte in einer „Zentralverwaltungswirtschaft“, wie Eucken es nannte, an verstaatlichte Produktionsmittel und zentrale Lenkung aller Wirtschaftsprozesse, an absurde Pläne und Mangelwirtschaft und vor allem: an willkürliche Zuteilung von Lebenschancen und damit an eine Politik, die Menschen ihre Potenziale nicht hat entfalten und ihre Eigenverantwortung hat verkümmern lassen? Ich erinnere an eine Wirtschaft und einen Staat, die gescheitert sind!
Walter Eucken hatte, als er das formulierte, natürlich nicht die DDR vor Augen, sondern die sowjetische Planwirtschaft, die Wirtschaftssteuerung der Nationalsozialisten und vor allem den „punktuellen Interventionismus“ der Weimarer Republik. Er hatte die Verheerungen der Großen Depression gesehen; die Not der Arbeitslosen in vielen Ländern, das Chaos und die Gewalt und sicher auch die unglaubliche Medienmacht eines Alfred Hugenberg, der damals ein gigantisches Medienimperium aufgebaut hatte und letztlich den Nationalsozialisten an die Regierung verhalf. An solche Ballungen wirtschaftlicher und politischer Macht war man damals gewöhnt – uns kommt das heute unglaublich vor. Ende der 1920er Jahre gab es rund 3.000 Kartelle in Industrie, Handel und in der Finanzbranche. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsprozesse waren üblich.
Und dann denkt da ein Freiburger Ökonom gemeinsam mit seinen Mitstreitern über die Entmachtung all dieser Mächtigen nach! Er entwirft eine Ordnung, in der der Staat so viel wie irgend möglich dem freien Spiel des Wettbewerbs überlässt – aber keinesfalls das Setzen der Regeln selbst. Eine Ordnung, die den Einzelnen weder einer staatlichen Bevormundung unterwirft noch einem Markt, auf dem die Starken so groß werden können, dass sie die Regeln allein bestimmen. Eine Ordnung, die auf „das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit“ zielte und – zur Erfüllung dieses Anliegens – auf den höchstmöglichen wirtschaftspolitischen Wirkungsgrad.
Wer dies im Hinterkopf hat, kann es übrigens nur merkwürdig finden, dass der Begriff „neoliberal“ heute so negativ besetzt ist. Schließlich wandten sich Eucken und seine Mitstreiter selbst als sogenannte „Neoliberale“ genau gegen jenes reine „Laissez-faire“, das dem Neoliberalismus heute so häufig unterstellt wird. Ihnen hier im Saal erzähle ich damit nichts Neues. In unseren öffentlichen Debatten aber wünsche ich mir mehr intellektuelle Redlichkeit und auch etwas mehr historisches Bewusstsein und Anerkennung für das breite Spektrum des Liberalismus in unserem Land, das von Eucken und seiner Vorstellung von einem ordnenden Staat bis hin zu Friedrich August von Hayek reicht, der „spontanen Ordnungen“ mehr zutraute als dem Staat.
Euckens Denken jedenfalls war ebenso gegen das „Laissez-faire“ des 19. Jahrhunderts wie gegen die totalitären Anmaßungen des 20. Jahrhunderts gerichtet. Das war damals nicht nur ein Widerspruch gegen den Zeitgeist. Es war auch ausgesprochen mutig. Denn damit forderte Walter Eucken den Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten heraus. Deren Ideologie war ihm zutiefst zuwider. Großen Hehl scheint er – nach allen Schilderungen – daraus nicht gemacht zu haben. Er setzte sich für jüdische Kollegen ein, protestierte gegen die Gleichschaltung der Universität – Martin Heidegger war dort seit Mai 1933 Rektor. Später suchte Eucken Kontakt zu Freiburger Widerstandskreisen und entwickelte – gemeinsam mit anderen – wirtschaftspolitische Leitlinien für das erhoffte „Danach“. Er ging ein hohes persönliches Risiko ein. Nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 wurde Eucken von der Gestapo verhaftet und verhört, andere Kollegen wurden ins Konzentrationslager gesperrt. Walter Eucken zeigte damals, was anderen fehlte: Haltung und Menschlichkeit in einer Zeit, in der so viele das Unmenschliche nicht sehen mochten.
Mit dieser Haltung hat er auch in den Jahren nach dem Krieg jungen Leuten Orientierung geben können. Ein schöner Beleg ist die Rede eines seiner Studenten 1950 beim Trauergottesdienst für Eucken: „Indem er uns zeigte, dass und wie eine wirklich menschenwürdige Ordnung der Gesellschaft und der Wirtschaft möglich ist, begann er auch Ordnung zu schaffen in den Herzen seiner Schüler“.
Der Begriff „Ordnungspolitik“ dürfte in den Ohren der meisten Nachkriegsdeutschen gut geklungen haben. Aber was sich dahinter verbarg – keine staatlich gelenkte Wirtschaft, sondern eine Ordnung des möglichst freien Wettbewerbs – wurde skeptisch gesehen: Gewerkschaften hofften in den ersten Nachkriegsjahren auf Verstaatlichung, Industrievertreter auf Rückkehr zu liebgewonnenen Kartellen. Es war also durchaus ein Erfolg, wenn am Ende zwar nicht alle, aber doch wesentliche Elemente aus der Konzeption der Ordoliberalen umgesetzt werden konnten.
Ich will hier auf die Verdienste, die Details und Etappen nicht im Einzelnen eingehen: auf die Chuzpe Erhards, der 1948 die Freigabe der Preise durchsetzte, auf die staunenden Menschen vor den prall gefüllten Schaufenstern am Tag nach der Währungsreform, auf den langen Kampf um das Kartellgesetz. Letztlich wirkte die geniale Kompromissformel der „Sozialen Marktwirtschaft“, die Alfred Müller-Armack ersonnen hatte. Nicht alles, was blühte im Wirtschaftswunder, war auf ihrem Boden gewachsen. Es gab die Kredite des Marshallplans und nicht zuletzt den steten Zustrom von Arbeitskräften aus dem Osten.
Aber rückblickend können wir sagen: Es war nicht nur ein Wirtschaftswunder, sondern auch ein Freiheitswunder, was da passierte. Die Deutschen konnten sich – zumindest im Westen – mit Markt und Wettbewerb befreunden. Die Freiburger Schule hatte einen großen Anteil daran!
Dies könnte nun das Happy End sein: Soziale Marktwirtschaft durchgesetzt, alles gut! Und es ist ja auch so: Deutsche Unternehmen verkaufen weltweit erfolgreich ihre Produkte, wir genießen – dank dieses wirtschaftlichen Erfolges – nicht nur einen materiellen Wohlstand, sondern auch einen sozialen Standard, den es so nur in wenigen Ländern der Welt gibt.
Und doch halten viele Deutsche die marktwirtschaftliche Ordnung zwar für effizient, nicht aber für gerecht. Mit Marktwirtschaft assoziieren sie zwar – laut einer aktuellen Umfrage – „gute Güterversorgung“ und „Wohlstand“, aber auch „Gier“ und „Rücksichtslosigkeit“. Das ist nichts Neues. Ähnliche Forschungen in der Seele der Deutschen fördern seit Jahrzehnten relativ konstante Sympathien für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zutage. Schon Bundespräsident Heuss sprach vom „gefühlsbetonten Antikapitalismus“ der Deutschen, den er zu Recht für einen „unreflektierten Antiliberalismus“ hielt.
Für mich folgt daraus: Es wird nicht alles schlimmer. Salopp gesagt: Man muss nicht verzweifeln, wenn man – wie ich – die Soziale Marktwirtschaft für eine Errungenschaft hält. Aber es gibt durchaus Grund zu fragen, woran so viele so konstant zweifeln – nicht, um den Zweifeln zu folgen, sondern um ihnen zu begegnen!
Für manche ist schon die Notwendigkeit, das eigene Leben frei zu gestalten, mehr Zumutung als Glück. Freiheit hat nicht nur die schöne, die Chancen eröffnende Seite. Sie löst auch aus Bindungen, sie weckt Unsicherheit und damit Ängste. Das Wort „Freiheit“ klingt bedrohlich für jemanden, der sich nicht nach Offenheit, sondern nach Überschaubarkeit sehnt. Und dann noch dieser ständige Zwang, die erreichte Position gegenüber anderen zu behaupten! Viele zweifeln am Wettbewerb, der unser Dasein bestimmt. Er beginnt spätestens in der Schule und begleitet uns – nicht nur im Berufsleben oder im Unternehmen, sondern auch im Sport, in Kunst und Kultur. Die Demokratie selbst ist nicht ohne politischen Wettbewerb denkbar. Als Land stehen wir wiederum nicht nur mit unserer Wirtschaft, sondern auch mit unserem Gesellschaftsmodell im Wettbewerb mit anderen Nationen.
Im Grunde aber finden allzu viele den Wettbewerb eher unbequem. Es ist anstrengend, sich permanent mit anderen messen zu müssen. Und wenn wir uns immer wieder neu behaupten müssen, können wir auch immer wieder scheitern. Das ist das Paradoxe an einer freiheitlichen Ordnung: Ich kenne viele, die einst fürchteten, eingesperrt zu werden, und jetzt fürchten, abgehängt zu werden. Das ist menschlich verständlich, aber es lohnt, zu erklären, was Wettbewerb vor allem ist – jedenfalls dann, wenn er fair ist: nämlich eine öffnende Kraft. Er bricht althergebrachte Privilegien und zementierte Machtstrukturen auf und bietet dadurch Raum für mehr Teilhabe und Mitwirkung. Er bietet – auch im Falle des Scheiterns – idealerweise zweite und weitere Chancen. Und wenn er richtig gestaltet ist, dann ist er auch gerecht.
Ungerechtigkeit gedeiht nämlich gerade dort, wo Wettbewerb eingeschränkt wird: durch Protektionismus, Korruption oder staatlich verfügte Rücksichtnahme auf Einzelinteressen, dort, wo die Anhänger einer bestimmten Partei bestimmen, wer welche Position erreichen darf, oder wo Reiche und Mächtige die Regeln zu ihren Gunsten verändern und damit willkürlich Lebenschancen zuteilen. Wir müssen nicht sehr weit schauen, um all das in verschiedenen Ausprägungen zu registrieren. Schnell kommen einem da Begriffe wie Oligarchie und Plutokratie in den Sinn. Und wenn wir heute von Globalisierung sprechen, sollten wir nicht ausblenden, dass es große Wirtschaftsräume gibt, die geprägt sind von staatskapitalistischer Machtausübung oder einem frühkapitalistischen Verständnis von Unternehmertum.
Eben darum steckt so viel Sprengstoff in der schlichten Grundeinsicht Walter Euckens: Erst die Begrenzung von Macht durch freien, fairen Wettbewerb ermöglicht den Vielen die Teilhabe. Darum ist es so wichtig, dafür zu sorgen, dass Wettbewerb nicht einigen wenigen Mächtigen nutzt, sondern möglichst vielen Menschen Chancen bietet. Und darum muss er im Zweifel gegen all jene wirtschaftlichen Kräfte verteidigt werden, die einseitig Spielregeln zu verändern oder unter dem Deckmantel der Freiheit Privilegien zu etablieren suchen. Und ebenso müssen wir wachsam sein, damit der Staat den Wettbewerb nicht verfälscht – in der manchmal verständlichen Absicht, einzelne Gruppen oder Bereiche in ihrer Entwicklung zu unterstützen.
Wie freiheitlich eine Wirtschaftsverfassung ist, bemisst sich am Ende nicht allein daran, was in den Geschäften zu kaufen ist, sondern daran, ob sie allen Bürgerinnen und Bürgern die Chance auf ein selbstverantwortliches Leben eröffnet, ob sie möglichst vielen möglichst viele Optionen bietet.
Auch gut gemeinte Eingriffe des Staates können dazu führen, dass Menschen auf Dauer aus- statt eingeschlossen werden. Wann etwa ist staatliche Fürsorge geboten, wann führt sie dazu, dass der Empfänger keinen Sinn mehr darin erkennen kann, sich um ein eigenes Auskommen zu bemühen? Im Zuge der Reformen der Agenda 2010 haben wir ausführlich über solche Fragen debattiert. Wir sollten es weiter tun. Ich stelle mir eine aktivierende Sozialpolitik vor wie ein Sprungtuch, das Stürze abfedert, das denjenigen, die es brauchen, dazu verhilft, wieder aufzustehen und für sich selbst einzustehen.
Aktivierende Sozialpolitik hat für mich aber noch eine weitere, unverzichtbare Dimension, die eng mit Chancengerechtigkeit verknüpft ist. Denn die Entmachtung Einzelner durch freien Wettbewerb mag eine notwendige Voraussetzung sein, den Vielen die Teilhabe zu ermöglichen, aber sie ist keine hinreichende. Denn sie ermächtigt die Vielen noch lange nicht. Auch wenn alle nach den gleichen Spielregeln spielen dürfen, kommt es darauf an, mit welcher Ausstattung man aufs Spielfeld tritt. Was würden wir sagen, wenn ein Mittelgewichtsboxer gegen einen aus der Schwergewichtsklasse antreten muss, oder ein beinamputierter Läufer gegen einen mit zwei gesunden Beinen? Chancengerechtigkeit hat also Voraussetzungen, die außerhalb des Wettbewerbs liegen.
Wir sehen das besonders klar beim Thema Bildung: Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern machen fünfmal seltener Abitur als Kinder höher gebildeter Eltern. Dümmer sind sie bestimmt nicht, sie bekommen nur zu Anfang ihres Lebens weitaus weniger von dem mit, was sie später einmal brauchen, um aus verschiedenen Möglichkeiten zu wählen. Was nützt es zu sagen, wir statten alle Schulen gleich aus, wenn dort Kinder mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen sitzen? Auch solche, bei denen noch nicht einmal jemand dafür sorgt, dass sie jeden Tag dort sind, oder solche, denen das Vorbild fehlt, das sagt: „Du musst Dich anstrengen, dann schaffst Du etwas und bist auch stolz darauf“? Ins Ziel muss jeder allein kommen. Aber beim Laufenlernen müssen wir mehr helfen als bisher.
Nicht weniger, wohl aber besser gestalteter Wettbewerb macht unsere Marktwirtschaft gerechter. Wenn es darum geht, wie das geschehen soll, fällt auch heute noch häufig der Name „Walter Eucken“.
Eucken selbst wäre wohl wenig begeistert davon gewesen, von einer Partei vereinnahmt zu werden. Er selbst hat sich gern über die „Ideologien und Wunschbilder jeder Art“ mokiert, die in den alltäglichen Diskussionen über Wirtschaftspolitik herumschwirren. Er meinte: „Wirtschaftspolitische Diskussion sollte nicht Diskussion über Doktrinen, sondern über konkrete Ordnungsaufgaben sein“. Und von denen gibt es auch heute mehr als genug: zum Beispiel die Ordnung der Finanzen und der Finanzmärkte.
Was die Finanz- und Schuldenkrise bewirkt hat, das weiß jeder junge Arbeitssuchende in Spanien oder Griechenland. An dieser Krise sehen wir sehr gut, was Freiheit erweitert und was sie einschränkt. Beim Stichwort „Krisenpolitik“ denken wir an Rettungspakete für Banken und Staaten, die unter Umständen sogar hektisch übers Wochenende geschnürt wurden und aus stattlichen Summen bestanden, sowie an Reformprogramme, die unausweichlich wurden – nicht aber an einen Prozess, der in sorgfältiger Abwägung von Argumenten eine stetige Verbesserung der Verhältnisse anstrebt, wie wir es uns in einer freiheitlichen Demokratie wünschen. Dafür ist es, wenn die Krise da ist, zu spät.
Warum passiert das alles? Weil vor der Krise etwas nicht gestimmt hat. Der Ordnungsrahmen der Finanzmärkte hat nahezu weltweit nicht gewährleistet, dass Banken ihre Risiken auf ein verantwortbares Maß begrenzten und für ihre Verluste hafteten. Banken besitzen Macht, weil sie zum Scheitern zu groß sind – oder zu groß scheinen? Staaten geraten in Abhängigkeit, weil sie Reformen nicht rechtzeitig durchgeführt haben, zu viele Ansprüche bedient haben und ihre Schulden zu groß geworden sind. Auch hier: das Gegenteil von Freiheit. Nun wird an vielen Stellen reformiert. Oft geht es dabei um mustergültige ordnungspolitische Anliegen, darum, Machtstrukturen aufzubrechen, Privilegien zu schleifen und darum, dass für Verluste haftet, wer sie verursacht: also um Wettbewerb, Freiheit und Verantwortung.
An manchen Stellen werden Machtstrukturen aufgebrochen, an anderen bilden sie sich neu – übrigens oft auch aus dem erwünschten Wettbewerb heraus, bei Unternehmen, die besonders innovativ sind. Zwar wäre es einem Alfred Hugenberg heute wohl nicht mehr möglich, solche geballte Macht zu erhalten, da wäre in Deutschland das Bundeskartellamt vor und in Europa die Wettbewerbsbehörde der Europäischen Kommission. Beide sind durchaus erfolgreich. Aber wie steht es mit global agierenden Internetkonzernen? Wie schaffen wir hier einen Rahmen, der Innovation ermöglicht, aber vor Exzessen schützt und damit die Freiheiten der Bürger wahrt?
Ordnungspolitik ist heute mehr denn je eine Aufgabe, die weit über den Rahmen des Nationalstaates hinausgeht. Die Schaffung des Binnenmarktes in der Europäischen Union zeigt, wie wirtschaftlicher Erfolg im Wettbewerb entsteht – und wie echter Wettbewerb erst entstehen kann, wenn Machtstrukturen aufgebrochen werden. Nicht zuletzt deshalb ist der Binnenmarkt eines der wichtigen Projekte der europäischen Einigung. Wie weltweite Rahmensetzung stattfinden kann, damit die Freiheiten aller gefördert werden, das ist ein ebenso bedeutendes wie unzureichend gelöstes globales Problem – bei allen durchaus vorhandenen Ansätzen: Ich denke an die G20, die Vereinten Nationen und an Institutionen wie Welthandelsorganisation und Weltbank.
Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft, das zum Selbstverständnis unseres Landes gehört, kann global inspirieren. Es ist ein lernfähiges System, das zwar nicht alle Ziele vorgibt, aber zukunftsfähig ist. Es lässt sich messen an dem Anspruch, dem Einzelnen Raum zu geben, selbst zu entscheiden, tätig und erfindungsreich zu sein. Es fordert uns heraus, in der Freiheit des Anderen auch unsere eigene Freiheit zu sehen. Es ist kein perfektes Modell, sondern eines, das Offenheit zulässt. Eines, mit dem wir verlieren und gewinnen können, und zugleich eines, das sozialen Ausgleich schafft. Was aus Mangel an politischem und gesellschaftlichem Willen nicht geschieht, sollten wir nicht der Marktwirtschaft ankreiden, sondern unserem eigenen Unvermögen, ordentlich zu ordnen.
Wir sollten übrigens nicht hoffen, ein für alle Mal den richtigen Rahmen setzen zu können. Es gibt keinen Idealzustand, der staatlich planbar oder herbeizureformieren wäre. Auch lassen sich nicht alle Risiken aus der Marktwirtschaft eliminieren. Wer das glaubt, wird permanent enttäuscht. Und wer es behauptet, wird permanent enttäuschen.
Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften bleibt es, wie Walter Eucken schon sagte, aufzuklären „über die der Intuition nicht zugänglichen, komplexen Sachzusammenhänge der modernen Gesellschaft“. Das Walter Eucken Institut nimmt sich dieser Aufgabe an. Ich wünsche mir von Ihnen viel von Euckens Bereitschaft zur „Radikalität des Fragens“ – unbequem wollte er sein, Widerspruch wagen, dabei nüchtern und sachlich argumentieren.
Ökonomen sollten Politik und Gesellschaft eine „Sehhilfe“ sein. Das können sie nicht, wenn sie die Klarheit und Ästhetik ihrer theoretischen Modelle den Realitäten und Zusammenhängen in der Gesellschaft vorziehen, und auch nicht, wenn sie sich im Rückgriff auf eingeübte Lehrsätze erschöpfen. Das können sie aber gut, wenn sie Mut und Willen zum – aus ihrer Sicht – Wünschenswerten mit politischer Anknüpfungsfähigkeit verbinden.
Am Ende aber ist es an der Politik – und damit an uns allen –, die Verantwortung für die Ordnung zu übernehmen, in der wir leben. Walter Eucken und seine Mitstreiter haben das damals getan – und sich damit in die Freiheitsgeschichte unseres Landes eingeschrieben. Schreiben wir sie fort!

(c): www.bundespraesident.de

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Über Gauck Joachim 14 Artikel
Joachim Gauck, geboren 1940, ist Pfarrer, Mitbegründer des Neuen Forums und war der erste Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Gauck studierte von 1958 bis 1965 Theologie. Seit dem 23. März 2012 ist Gauck der 11. Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

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