Es gibt einen Zusammenhang zwischen Vermögen und Moral – Stefan Groß trifft Rainer Zitelmann

Rainer Zitelmann

Ich glaube nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen Vermögen und Moral gibt. Es ist weder so, dass im Villenviertel lauter amoralische Schurken wohnen und im sozialen Brennpunkt lauter moralisch hochstehende Lichtgestalten – noch ist es umgekehrt. Ehrliche und unehrliche Menschen gibt es in jeder Gesellschaftsschicht, sagt Rainer Zitelmann.

Herr Zitelmann, Sie haben wieder ein viel beachtetes Buch geschrieben, 456 Seiten, fast 800 Fußnoten: „Die Gesellschaft und ihre Reichen“. International, sogar in der „Times“ wurde das Buch besprochen. Ein Buch für Reiche oder doch für Arme, die sich nicht darüber entrüsten sollen, sondern dadurch ihr Leben zu verändern?

Zitelmann: Ein Buch für alle, die sich dafür interessieren, wie Sozialneid entsteht.

Eines Ihrer wissenschaftlichen Themen sind immer wieder die Reichen, sei es deren Psychologie oder nun, mit Umfragen vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach und Ipsos MORI untermauert, eine Phänomenologie von Reichen und ihrem Reichtum?

Zitelmann: Die Reichtumsforschung ist noch ganz in ihren Anfängen. Da gibt es viel nachzuholen. Es gibt jede Menge wissenschaftliche Arbeiten über Armut, aber nur wenige über Reichtum. Beispielsweise wussten wir wenig über den Zusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen und finanziellem Erfolg. Das war Thema meiner Dissertation „Psychologie der Superreichen“ http://psychologie-der-superreichen.de/. Und wir wussten wenig darüber, wie Vorurteile über die Minderheit der Reichen entstehen. Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung hat sich mit vielen Minderheiten befasst – mit Juden, Schwarzen, Homosexuellen, auch mit Armen –, aber es gab kein großes Werk zum Thema „Vorurteile über Reiche“. Diese Lücke wollte ich mit meinem neuen Buch „Die Gesellschaft und ihre Reichen“ füllen. http://die-gesellschaft-und-ihre-reichen.de/ Ich hoffe, mit meinen Arbeiten andere Forscher anzuregen, denn es gibt noch sehr, sehr viele unerforschte Themen der Reichtumsforschung.WERBUNG

Der Fokus liegt immer wieder auf den Superreichen und Ihre Argumentation läuft zumeist drauf hinaus, dass sie diese verteidigen? Warum?

Zitelmann: Nun ja, meine Bücher sind keine polemischen Verteidigungsschriften, sondern wissenschaftliche Werke und als solche um Objektivität bemüht. Das war als Wissenschaftler schon immer mein Anspruch, von der ersten Dissertation über Hitler bis zum aktuellen Werk zur Vorurteilsforschung. Doch ich nehme Ihren Gedanken auf: Nehmen wir mal an, meine in den vergangenen Jahren erschienenen Bücher würden einen Beitrag zur Verteidigung der Reichen leisten – was wäre daran verkehrt? Sie müssen ja die Ausgangssituation berücksichtigen:

Es gibt jede Menge Ankläger der Reichen. Die Reichen selbst verteidigen sich nicht, und wenn, dann sehr defensiv und ungekonnt, oftmals mit schwachen und untauglichen Argumenten. Da können Reiche von anderen Minderheiten noch eine Menge lernen. Und unter den Sozial- und Geisteswissenschaftlern gibt es überwiegend solche, die Reichtum als Problem sehen. Vergangenes Jahr erschien beispielsweise das Buch des Dortmunder Philosophen Christian Neuhäuser „Reichtum als moralisches Problem“. Er will Reichtum verbieten. Das FAZ-Feuilleton lobte: “Neuhäuser greift mit seinem Buch ein wichtiges Thema auf und verortet es kenntnisreich in der weiteren philosophischen Debatte. Die These, dass ein ökonomisches Auseinanderdriften einer Gesellschaft auch dann ein Problem ist, wenn niemand in existentieller Weise arm ist, überzeugt.” Der bekannte Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann ist Marxist und hält auf Einladung der Linkspartei Vorträge, die sich extrem kritisch mit Reichen befassen. Wenn es so viele Ankläger unter den Sozial- und Geisteswissenschaftlern, unter den Journalisten und unter den Politikern gibt, wäre es dann nicht sogar geradezu notwendig und legitim, dass auch mal einer kommt, der eine Gegenposition einnimmt? Selbst einem Mörder gesteht man doch einen Verteidiger zu, weil ein Prozess ohne Verteidiger eben ein Schauprozess ist. Es ist sogar so, dass bei schwerwiegenden Anklagepunkten ein Verteidiger nach der Strafprozessordnung ausdrücklich vorgeschrieben ist, was nicht nur dem Schutz des Angeklagten dient, sondern auch dem Erkenntnisgewinn: denn nur dann ist gewährleistet, dass alle Fakten, und zwar sowohl belastende wie auch entlastende, wirklich vorgetragen werden. Wenn das sogar für Mörder gilt, aber – das schwingt in Ihrer Frage mit – es mit Blick auf Reiche als kritikwürdig gilt, wenn jemand die Rolle des Verteidigers einnähme, dann stellt sich die Frage: Sind Reiche schlimmer als Mörder, so dass sie nicht einmal einen Verteidiger verdienen?

Bräuchten wir nicht – aufgrund der gravierenden Schere, die sich auch in Deutschland zwischen arm und reich immer mehr auftut ein Buch, das nicht den Reichtum legalisiert, sondern eine Debatte anstößt, wie die Armut zu bekämpfen sei?

Zitelmann: Ihre Frage wundert mich: Erstens gibt es jede Menge Bücher zu diesem Thema. Wozu sollte ich ein weiteres hinzufügen? Und eine Debatte über die sogenannte Schere zwischen Arm und Reich wird doch seit Jahren intensiv geführt, die muss ich nicht erst anstoßen. Ich habe mit meinem Buch jetzt eine ganz neue Debatte angestoßen, nämlich über die Sicht auf die Reichen.
Zweitens: Ich sehe nicht, dass Armut steigt. Obwohl viele arme Menschen aus anderen Ländern in den letzten Jahren zu uns gekommen sind, hat sich die Zahl der Hartz IV-Empfänger sogar verringert. Das ist eigentlich eine Sensation, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Hartz IV-Empfänger einen Migrationshintergrund hat! Viel beeindruckender noch ist die Entwicklung im Weltmaßstab. In den vergangenen 30 Jahren ist mehr als eine Milliarde Menschen bitterer Armut entronnen, besonders in Asien – Dank der kapitalistischen Globalisierung. Man sieht das besonders deutlich in China: 1981 lag die Zahl der extrem armen Chinesen noch bei 88%, heute sind es nur noch 1%. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Multimillionäre und Milliardäre in China so stark gestiegen wie nirgendwo sonst. Die Schere zwischen Arm und Reich ist größer geworden. Aber bei meinen Gesprächen in China habe ich niemanden getroffen, der deshalb zurück zu den Zeiten Maos wollte, als die Menschen dort noch gleicher waren. Die chinesische Entwicklung widerlegt übrigens den verbreiteten Nullsummenglauben, wonach der Reichtum der Reichen auf der Armut der Armen beruhe. Ein Irrglaube, den Bertolt Brecht ja sogar in Gedichtform gegossen hat und dem, wie unsere Befragung zeigt, viele Menschen anhängen.

Was ist so toll am Reichtum? Oder anders gefragt, warum verteidigen Sie die Reichen?

Zitelmann: Zum „verteidigen“ habe ich ja schon etwas gesagt. Ich möchte aber noch einen Gedanken hinzufügen: Ein Ergebnis der wissenschaftlichen Reichtumsforschung lautet, dass die meisten Reichen als Unternehmer reich geworden sind. Wenn Sie sich die Listen mit den reichsten Menschen der Welt oder mit den reichsten Menschen Deutschlands anschauen, dann werden Sie feststellen, dass fast alle Unternehmer sind. Entweder haben sie selbst ein Unternehmen aufgebaut – so wie beispielsweise Jeff Bezos (Amazon), Bill Gates (Microsorft), Larry Ellison (Oracle), Mark Zuckerberg (Facebook), Larry Page (Google), Sergey Brin (Google), Warren Buffett und viele andere -, oder sie führen das Unternehmen fort, das ihre Eltern aufgebaut haben. Wer meint, wir bräuchten keine Reichen, der sagt damit eigentlich, wie bräuchten keine erfolgreichen Unternehmer. Kennen Sie irgendeine Gesellschaft, in der es keine Unternehmer gibt und in denen es den Menschen gut ging?

Neid spielt in Deutschland, anders beispielsweise als in der USA, dies zeichnen Sie sehr deutlich nach, eine große Rolle. Viele Reiche hierzulande, abgesehen von Emporkömmlingen und Neureichen, legen den Fokus ganz gezielt darauf, nicht als reich erkannt oder damit zugleich gebrandmarkt zu werden! Warum soll man sich also zu seinen Reichtum bekennen, was ist das Surplus, oder anders gefragt: Was bringt das dem gesellschaftlichen Diskurs?

Zitelmann: Es gibt ja einen dritten Weg zwischen der ostentativen Zuschaustellung von Reichtum (wie wir das etwa von vielen reichen Russen kennen) und dem ängstlichen Verbergen und Leugnen des Reichtums, wie das oft in Deutschland zu beobachten ist. Schauen Sie sich Friedrich Merz an: Statt auf die Frage, ob er Millionär sei, selbstbewusst mit einem klaren „Ja“ zu antworten, druckste er zunächst herum. Und am Ende behauptete er sogar noch, er gehöre zur Mittelschicht. Das ist nur durch die Angst vor dem in Deutschland verbreiteten Sozialneid zu erklären. Aber mit diesem Versteckspiel beschwichtigt man die Neider nicht, wie ja der Fall Merz auch belegt. Ich denke, wir sind dann einen Schritt weiter, wenn jemand wie Merz öffentlich sagen kann: „Ich bin Millionär, und das ist gut so“. So wie es der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit getan hat, der sagte: „Ich bin schwul, und das ist gut so.“

Was sind denn die gängigen Vorurteile und Stereotypen und warum gibt es diese überhaupt bzw. warum sind diese Ihrer Meinung nach falsch?

Zitelmann: Reichen wird vor allem unterstellt, dass sie moralisch schlechte, rücksichtslose, gierige und unehrliche Menschen seien. Dabei kennen nur 17 Prozent der Deutschen mindestens einen Millionär näher. Und jene Menschen, die einen Millionär persönlich kennen, beurteilen diesen sehr, sehr viel positiver als jene Menschen, die keinen Millionär kennen. Auch das wird durch die Befragung belegt. In meinem Buch entwickle ich die Kompensationstheorie: Wenn sich Menschen anderen Menschen auf einem bestimmten Gebiet unterlegen fühlen (in diesem Fall: in der wirtschaftlichen bzw. finanziellen Kompetenz), dann neigen sie dazu, diesen Menschen auf anderen Gebieten Minuspunkte zu geben, damit das Selbstwertgefühl erhalten bleibt. Sozialneider stimmten beispielsweise häufig der Aussage zu: „Reiche sind gut im Geldverdienen. Dafür sind sie in der Regel keine anständigen Menschen.“ Mit der Frage, ob die Vorteile und Stereotypen über Reiche richtig oder falsch sind, befasse ich mich in dem Buch nur am Rande. Warum soll ich etwas widerlegen, das in keiner Weise belegt ist? Ich sehe es so, dass derjenige, der ein Vorurteil hat, das erst einmal begründen und belegen müsste – und nicht derjenige, der dieses Vorurteil nicht teilt.

Welche Charaktereigenschaften zeichnen reiche Menschen aus und wie werden diese kulturell wahrgenommen. Gibt es beim Thema Akzeptanz von Reichtum regionale Unterschiede?_

Zitelmann: In meiner Dissertation „Psychologie der Superreichen“ habe ich die Persönlichkeitsmerkmale von Reichen erforscht. Was sie auszeichnet ist z.B., dass sie Freude daran haben, gegen den Strom zu schwimmen und unabhängig von Mehrheitsmeinungen zu agieren, dass sie in Krisen und nach Niederlagen die Verantwortung selbst übernehmen (statt sie bei anderen oder in äußeren Umständen zu suchen) und dass sie als Ergebnis impliziter Lernprozesse über ein hohes Maß an implizitem Wissen verfügen, so dass sie richtige unternehmerische Entscheidungen oft intuitiv fällen können. Da die meisten Menschen keine Superreichen kennen, bestimmen Fantasien ihr Bild über Reiche, Fantasien, die sie beispielsweise aus Hollywoodfilmen übernommen haben.

Neid und Schadensfreude fallen oft zusammen. Bei besser finanziell Situierten wird ihr Scheitern oft mit Schadensfreude goutiert, mit dem Argument, dass es ihnen ja eh besser geht und sie Schicksalsschläge besser kompensieren können. Was sind hier die psychologischen Gründe?

Zitelmann: Aus der wissenschaftlichen Neidforschung wissen wir, dass Neid und Schadenfreude eng zusammenhängen. In Deutschland ist die Schadenfreude besonders ausgeprägt. In der Befragung, die wir in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland durchgeführt haben, war Deutschland das einzige Land, in dem die Zahl derjenigen, die Schadenfreude empfinden, wenn ein Millionär Geld verliert, größer war als derjenigen, die keine Schadenfreude empfinden. Im Englischen gibt es ja nicht einmal ein eigenes Wort für Schadenfreude, die Angelsachsen haben das Wort aus dem Deutschen übernommen. Beim Neid geht es im Kern darum, dass der Neider möchte, dass es dem Beneideten schlechter gehen solle, dass dem Beneideten etwas weggenommen wird. Und zwar auch dann, wenn der Neider selbst gar keinen Vorteil davon hat. Jede Schlechterstellung des Beneideten führt beim Neider zu Genugtuung. Das nennt man dann auch Schadenfreude.

Sie stellen in Ihrem Buch die Frage: „Führt mehr Gleichheit zu weniger Neid? Darauf müsste es doch eine positive Antwort geben?

Zitelmann: Ganz im Gegenteil. In den Wohlfahrtsstaaten Deutschland und Frankreich ist der Neid viel stärker ausgeprägt als in Großbritannien und den USA. Wir haben das mit einem Sozialneidkoeffizienten gemessen, der das Verhältnis von Neidern und Nicht-Neidern misst. Wenn die Menschen gleicher werden, wird die verbliebene Ungleichheit immer stärker als schreiendes Unrecht empfunden. Wir sehen das ja nicht nur bei Reichen, sondern auch bei den Geschlechtern. Obwohl die rechtliche und auch die wirtschaftliche Gleichheit zwischen Männern und Frauen heute sehr viel größer ist als etwa vor 50 Jahren, ist zugleich die Empörung über die verbliebenen Unterschiede gewachsen. Es wird doch heute als schlimmer Skandal und als himmelschreiendes Unrecht wahrgenommen, dass Frauen in Deutschland 5,8% weniger verdienen als Männer. Ich denke, die Empörung wird nicht kleiner werden, wenn sich das irgendwann auf 2,9% halbiert hat.

Soziologisch gesehen: Woher kommt der Sozialneid?

Zitelmann: Die Social Comparison-Forschung zeigt, dass wir uns andauernd – bewusst oder unbewusst – mit anderen Menschen vergleichen, um Informationen für unsere Selbstbewertung zu erhalten. Umgekehrt gilt: Wenn wir uns selbst bewerten, dann vergleichen wir uns mit anderen. Dieser Vergleich geschieht automatisch, weil wir uns nur im Vergleich mit anderen selbst wahrnehmen können. Neid kann entstehen, wenn sich Person A mit Person B vergleicht und Person B Eigenschaften, Güter oder Positionen besitzt, die Person A gerne haben würde. Dass diese Vergleiche häufig unbewusst stattfinden, ist eine der Ursachen dafür, dass wir Neid gerne verdrängen.

Wenn soziale Gruppen andere Gruppen als ökonomisch erfolgreicher wahrnehmen, können ihre Angehörigen Kompensationsstrategien entwickeln, um ihr Selbstwertgefühl zu erhalten. Angehörige höherer sozialer Schichten können die Kriterien für die Rangordnung in einer Gesellschaft – beispielsweise wirtschaftlicher Erfolg oder Bildung – leichter akzeptieren, weil sie selbst oben in der Hierarchie stehen. Angehörige höherer sozialer Schichten neigen in stärkerem Masse dazu, sich aufgrund sozioökonomischer und kultureller Merkmale von anderen Gruppen abzugrenzen, während die Angehörigen unterer Schichten sich eher auf moralische Kriterien stützen.

Welche positiven Eigenschaften und welche negativen unterstellt man reichen Menschen?

Zitelmann: Die positiven Eigenschaften, die viele Menschen mit Reichen verbinden, sind zum Beispiel Fleiß und Intelligenz. Die negativen sind Rücksichtslosigkeit, Egoismus, Materialismus. In der psychologischen Wahrnehmungsforschung unterscheidet man M-Werte (moralische Werte) und K-Werte (Kompetenzwerte). Reiche schneiden bei moralischen Werten schlecht ab, bei Kompetenzwerten gut. Das hilft ihnen aber nichts. Ein gieriger und rücksichtsloser Mensch, der zugleich als fleißig und intelligent wahrgenommen wird, der wird dadurch ja keineswegs sympathischer und liebenswerter, sondern eher noch gefährlicher. Wenn mir jemand anderes etwas Schlechtes will, dann wäre es im Grunde besser für mich, dass dieser Mensch dumm und faul wäre.

Sie klassifizieren bei der Beurteilung von Reichtum verschiedene Klassen, soziale Schichten, politische Weltanschauungen wie die Linken oder die Rechten, aber auch Frauen, Männer, jüngere und alte Menschen sowie eine länderspezifische bzw. in verschiedenen Ländern unterschiedliche Wahrnehmung und Beurteilung des Reichtums. Wie sieht hier das jeweilige Urteil aus und warum haben Jüngere oft kein Problem mit den Superreichen?

Zitelmann: Das stimmt so nur für Deutschland und Frankreich, wo junge Menschen Reiche etwas positiver sehen als ältere. In den USA ist es genau umgekehrt, aber der Unterschied ist hier sehr viel ausgeprägter: Junge Amerikaner sehen Reiche ausgesprochen negativ, ältere Amerikaner sehen Reiche ausgesprochen positiv. Das hat viele Gründe. Ein Grund ist vermutlich, dass die amerikanischen Schulen und Hochschulen noch viel stärker links ausgerichtet sind als hierzulande. Ein anderer Grund ist, dass für viele junge Amerikaner die Finanzkrise ein einschneidendes Erlebnis war. Und als Verursacher dieser Krise werden „gierige Banker“ oder einfach „die Superreichen“ wahrgenommen. Was die politischen Richtungen anlangt, so war in Deutschland das Ergebnis sehr eindeutig: Sozialneid ist am stärksten ausgeprägt bei Wählern der Linken, der SPD und der AfD, deutlich schwächer bei Wählern der Union und der FDP.

Das Thema Managergehälter wird in unserer Gesellschaft immer wieder diskutiert. Daimler-Chef Zetsche beispielsweise hat ein Rentengehalt von fast 5000 Euro am Tag. Das kann man doch nicht rechtfertigen, wenn man die schmalen Gehälter von Altenpflegern oder Verkäufern damit vergleicht. Die kümmern sich doch um die Schwachen in der Gesellschaft? Aber womit rechtfertigen sich die exorbitanten Gehälter in der Wirtschaft? Das kann und sollte doch auf die Dauer nicht gut gehen?

Zitelmann: Unsere Befragung hat gezeigt, dass die meisten Menschen nicht verstehen, wodurch die Höhe von Gehältern bestimmt wird. Sie glauben, das Gehalt werde dadurch bestimmt oder sollte dadurch bestimmt werden, wie lange jemand arbeitet und wie sehr er sich anstrengt. Dann wären die von Ihnen angesprochenen Unterschiede natürlich nicht zu rechtfertigen. Aber Managergehälter sind weder eine Schweißprämie noch eine Kompensation für lange Arbeitszeiten, sondern sie entstehen durch Angebot und Nachfrage. Und da ist es wie bei begehrten Top-Fußballern: Die verdienen ja auch nicht deshalb mehr, weil sie länger oder härter trainieren, sondern weil sie über seltene Fähigkeiten verfügen. In meinem Buch zeige ich, dass die meisten Menschen jedoch ihre eigenen Erfahrungen (ich nenne das: Angestelltendenken) auf einen Kontext übertragen, wo das ganz und gar nicht passt.

Sind Reiche ehrlicher als Nichtreiche? Haben sie mehr Moral?

Zitelmann: Ich glaube nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen Vermögen und Moral gibt. Es ist weder so, dass im Villenviertel lauter amoralische Schurken wohnen und im sozialen Brennpunkt lauter moralisch hochstehende Lichtgestalten – noch ist es umgekehrt. Ehrliche und unehrliche Menschen gibt es in jeder Gesellschaftsschicht.

Welche Rolle spielen die Medien in der Neiddebatte?

Zitelmann: Diesem Thema ist ein Drittel des Buches gewidmet. Obwohl das Buch in fast allen bedeutenden Medien breit – und positiv – besprochen wurde (es gibt inzwischen über 30 Artikel dazu), wurde dieser Teil des Buches nur in einer einzigen Rezension kurz erwähnt. Es wäre ein Thema für ein eigenes Interview. Lassen Sie uns darüber ein ganzes Interview machen. Es lohnt sich.

Sollten Superreiche in Deutschland nicht auch hier ihre Steuern zahlen?

Zitelmann: Wer sagt, dass sie das nicht tun? Woher wissen Sie das? Wer hierzulande sein Geld verdient, muss seine Einkünfte in Deutschland versteuern. Wir wissen, dass z.B. das eine Prozent der Menschen, die am besten verdienen, mehr als 20 Prozent der Einkommensteuer zahlen, während 50 Prozent der Menschen gerade mal etwas mehr als 5 Prozent bezahlen. Ich kenne keinen empirischen Beleg dafür, dass es bei Reichen mehr Steuertrickser gibt als im Durchschnitt der Bevölkerung. Da die Finanzämter Reiche häufiger und gründlicher prüfen als Normalverdiener (eben weil hier mehr zu holen ist), spricht sogar manches dafür, dass es sich umgekehrt verhält. Dass Superreiche angeblich überwiegend Steuertrickser seien oder keine bzw. nur Steuern zahlen, ist eine Behauptung, die niemals belegt wurde, aber die viele Menschen einfach deshalb glauben, weil sie so oft wiederholt wurde und wird.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2127 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".