Frédéric Lenoir. Offener Brief an die Tiere und alle, die sie lieben

Schafe auf der Weide, Foto: Stefan Groß

Frédéric Lenoir. Offener Brief an die Tiere und alle, die sie lieben. Aus dem Französischen übersetzt von Ute Kruse-Ebeling. Ditzingen (Reclam) 2018, 144 S., 18.- EURO, ISBN 978-3-15-011169-7.

Wenn ein  renommierter Religionswissenschaftler und Mythenforscher sich in einem offenen Brief an die Tiere wendet, dann reiht er sich in die Reihe derjenigen ein, die weltweit in Tierbefreiungsgesellschaften tätig sind, um die Objekte menschlicher Befriedigung und Zweckerfüllung zumindest ideell in eigenständige Subjekte zu verwandeln. Ist das eine menschlicher Logik zuwiderlaufende Handlungsintention? Eine erste Antwort gibt der französische Dichter Alphonse de Lamartine (1790-1869), den Lenoir zu Beginn seines Buches zitiert. Der Mensch verfüge nur über ein Herz, eines für seine Artgenossen oder eines für Tiere. Lenoir ist verwundert über unser zwiespältiges Verhalten gegenüber Haus- und Nutztieren. Die einen erfreuten sich an der grenzenlosen Liebe der Menschen, die anderen würden in Schlachthöfen erbarmungslos getötet. Er selbst habe schon in seiner Kindheit und Jugend unter der Mordlust seiner Mitmenschen gelitten. Dennoch habe er im Erwachsenenalter nicht völlig auf fleischliche Nahrung verzichtet, habe sich nicht zu einer veganen Ernährungsweise durchringen können. Nun aber wolle er den Tieren erklären, warum es zu dieser Dominanz des homo saper über seine ehemaligen Mit-Gefährten gekommen sei.

Seine Vorgehensweise erweist sich als folgerichtig. Er beginnt mit den Stufen der Vereinnahmung der Tiere durch den Menschen. Auf der ersten Stufe habe dieser Menschentypus aufgrund seiner religiösen Vorstellungen und seiner Kommunikation mit Geistern aller Art, darunter „auch Geister aller empfindungsfähigen Wesen“, versucht, sich in die umgebende Welt einzufügen, er habe sogar die Geister der von ihm getöteten Tiere um Verzeihung gebeten. Erst mit dem Übergang von der Altsteinzeit zur Jungsteinzeit, vor etwa 15000 Jahren habe der homo sapiens seine Lebensweise einem Wandel unterzogen. Aus dem Nomaden wurde der Ackerbauer und Viehzüchter, der ein mythisch-religiöses Denken entwickelte, das ihn, so Lenoir, „zum Herrscher der Welt machte.“ Auf dieser Stufe habe sich der Mensch von seinem animistischen Glauben abgewandt und sich zu einem Vermittler zwischen den Göttern im Himmel und der Tierwelt entwickelt.

Der Übergang zur Jungsteinzeit war von der einsetzenden Züchtung von Tieren begleitet, die von der Domestizierung des Hundes bis zur Nutztierhaltung und Zähmung von Schafen, Rindern, Schweinen, Pferden, Geflügel und vielen anderen Tierarten reichte. Die nun beginnende Ausbeutung der Tiere erfuhr erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre dramatische Verschärfung, als die industrielle Tierhaltung in Verbindung mit der profitablen Nutzung der Tierkörper in Großställen unter unhygienischen, tierquälerischen Bedingungen einsetzte. Mit einer nach rund 100 Jahren entsetzlichen Bilanz, die Lenoir so zusammenfaßt: „Heute werden jedes Jahr ungefähr 60 Milliarden Landtiere (davon 50 Milliarden Hühner) getötet, und die Zahl der Meeressäuger, die für unseren Verzehr geopfert werden, wird auf zwischen 500 und 1000 Milliarden geschätzt.“

Diese verheerende Bilanz veranlaßt Lenoir nach den Ursachen des Massenmordes an Tieren zu forschen. Nach einer eingehenden Bewertung der antiken und abendländischen Philosophie wie auch der christlichen Heilslehre gelangt er zu dem Ergebnis, dass den wenigen abweichenden Stimmen, die die Knechtung der Tiere ablehnen, die Mehrheit derjenigen gegenübersteht, die sich weiterhin der Versuchung hingeben „Euch zu beherrschen, auszubeuten und zu essen.“ Sind aber diese Menschen aus ideologischen Gründen von ihrer behaupteten Überlegenheit gegenüber den Tieren überzeugt? Mit dieser Frage greift Lenoir das Problem der Unterschiedlichkeit zwischen Tieren und Menschen auf, das bereits von französischen Moralisten wie Jean de La Fontaine oder Michel de Montaigne mit dem Verweis auf die Überheblichkeit des Menschen gegenüber den Tieren aufgeworfen wurde.

Augenscheinlich zeichnet sich erst mit der Herausbildung der Ethologie, der Verhaltenslehre von Tieren und Menschen, ein Wandel bei der Einschätzung animalischer Verhaltensweisen ab. Leider verweist Lenoir weder auf die französische Entwicklungslinie der Ethologie (vgl. Isidore Geoffroy Saint-Hilaire, 1854) noch auf die deutschen und englischen Forschungsstränge, die mit Friedrich Dahl (1898) bzw. William Morton Wheeler (1902) sich gegenseitig inspirierten. Auch die Mitte der 1930er Jahre einsetzende intensive wissenschaftliche Ethologie wird bei ihm nur angedeutet. Statt dessen verweist er auf Rupert Sheldrakes Studie „Der siebte Sinn der Tiere“, in von außergewöhnlichen Sinnen die Rede ist, über die einige Tiere verfügen. Dazu gehört die Telepathie zwischen Tierhaltern und Haustieren, der außergewöhnliche Orientierungssinn von Zugvögeln, die Empathie von Tieren gegenüber leidenden Menschen, der Frühwarnsinn bei entstehenden Erdbeben, verblüffende Erinnerungsfähigkeiten. Es sind Eigenschaften, die einer spezifisch tierischen Intelligenz zuzuschreiben sind, deren Erforschung in den vergangenen dreißig Jahren zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hat.

Im Gegensatz zu dieser spezifisch vergleichenden kognitiven Forschung verfügt die Tierschutzbewegung vor allem in westeuropäischen Ländern über einen langen zeitlichen Vorsprung. Er hat jedoch nicht dazu beigetragen, dass die ethische Haltung gegenüber Nutztieren deren skrupellose industrielle Ausbeutung verhindert hat. Nicht zuletzt erweist sich die Antwort auf die Frage Lenoirs: Liebe Tiere, was sollen wir tun? als ein Sammelsorium von Empfehlungen und Ratschlägen. Dazu gehören jedwede Nutzung von Tieren verhindern, vegane Ernährung durchsetzen, Gesetze gegen die industrielle Schlachtung von Tieren erlassen, die rituelle Schächtung von Schafen verbieten. Die Liste der Verbote und Vorschriften könnte noch umfassender sein, wenn es nicht die weltweit kulturellen Bräuche gäbe, zu deren Bestandteilen auch der Verzehr von Tieren gehört. Und ein Verbot per Gesetz? Solange „unsere lieben Tiere“ weiterhin als Güter bezeichnet werden, besteht kaum eine Chance für dessen Ratifizierung. Nicht zuletzt aus diesem Grund listet Lenoir in seinem Nachwort eine Reihe von Maßnahmen auf, die die Situation der Tiere verbessern sollen. Dazu gehören die Schaffung eines ethischen Labels für artgerechte Tierhaltung, das Verbot von Tierversuchen, die Schaffung eines Staatssekretariats für die Lebensbedingungen der Tiere. Und weil es vor allem in Frankreich, trotz Hunderter von Tierschutzorganisationen, an einer Koordination fehle, hat Lenoir beschlossen, ein Ensemble pour les animaux zu gründen. Der auf der Vorderseite des grauweißen Hardcovers abgebildete Schimpanse würde die Umsetzung dieser Initiative sicherlich befürworten!

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