Hilft das Lesen in der Not? Warum unsere Wirtschaftskrise eine Krise der Moderne ist

Vielleicht sind die Reservoirs der westlichen Kulturen erschöpft. Der Mo­tor des Fortschritts und der Ausdifferenzierung scheint ein Auslaufmodell zu sein. Ideenverlassenheit, Welt- und Selbstfremdheit, Traditionsverlust, „das Grauen“ (Joseph Conrad) sind die Stichwörter der Moderne seit 1900. Zwar lauft alles auf hohem Niveau weiter, doch scheint es keine substanziellen Ziele mehr zu geben, sondern es gilt, Krisen zu managen, Misserfolge zu vermeiden, Konflikte stillzustellen, Geld zu verdienen und sich irgendwie zu amüsieren (sofern all das noch gelingt). Dies ist ein Zustand latenter Melancholie, eines verborgenen Nihilismus nicht nur der Hoffnungslosen, sondern auch der tatkräftigen Entscheider und glamourösen Eliten, die sich regelmäßig blamieren. Vielleicht eine Abdankung, jedenfalls zermürbende Ambivalenzen bei gleichzeitig entfesselter Dynamik ökonomischer Konkurrenz. Zu besichtigen ist eine eigentümliche Ermüdung von Handlungsschwung inmitten eines historisch exorbitanten Niveaus von Potenzialitat. Das schien die Stunde der wirtschaftlichen Hasardeure, für welche moralische Maßstäbe und der Eigenwert der Kulturen kaum mehr zählen als ein Kohlweißling, wie Gottfried Benn sich ausdrückte. Warum nicht ein Autodafé der Wirtschaft? Warum nicht den Schwachsinn der Unterhaltungssendungen höhertreiben? Warum nicht die Ressourcen der Nachgeborenen jetzt schon verbrennen? Der Zynismus – und das war früher die Todsünde der Acedia, der Herzenskalte und Gleichgültigkeit – ist angesichts des sprachlosen Leids der Armen und Hungernden dieser Welt noch steigerungsfähig.
Literatur war von allem Anfang an der Versuch, Sprache und Haltung zu gewinnen angesichts von Katastrophen und Schmerz, von Chaos und Krise. Mit der Ilias und der Odyssee, mit Krieg also und Irrfahrt, war der Rahmen vorgegeben. Im Theater dann die Tragödien fehlschlagender Selbsterhaltung angesichts der Nemesis. Die neun Kreise der Hölle bei Dante: Grand Tour durch die Zonen menschlicher Verworfenheiten. Das Wort Hamlets The time is out of joint“ gilt für den ganzen Shakespeare. Miltons Paradise Lost. Frankfurt 1797: Goethes Schauder vor dem „beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren“, sein Rätseln, wie das im Kriege zerstörte Haus seines Großvaters als „Schutthaufen“ doppelt so viel wert ist wie vor dem Krieg: Spekulationsblase. Dem folgt Nietzsches Epochenresümee: „Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin… Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ‚durchbohrende Gefuhl seines Nichts‘?“
Und dann Robert Musils Roman des 20. Jahrhunderts: Der Mann ohne Eigenschaften. Sein Protagonist Ulrich, der die Krise der europäischen Kultur detektiert, ist hochprivilegiert, in drei Berufen – Offizier, Ingenieur, Mathematiker – erfolgreich, attraktiv, energisch, von scharfer Intelligenz, ein kühler Analytiker mit aufschäumenden Leidenschaften dann und wann. Dieser Mann also nimmt „Urlaub vom Leben“, weil kein Beruf und keine Frau, keine Karriere und kein Geld, keine Weltanschauung und keine Moral, kein Sinn und keine Geschichte mehr überzeugt, nein, schlimmer: Alles lässt ihn gleichgültig. Diagnostisch gesehen: eine depressive Rückzugsposition. Wahrend Ulrich auf Positionen der Negation und der ironischen Dekonstruktion verharrt, erscheinen ihm, auf der gesellschaftlichen Gegenseite, alle Weltanschauungen und Sinnangebote unplausibel, die Handlungsmuster konformistisch, zwanghaft und ritualisiert, die sozialen Hierarchien zufällig und die Handlungsoptionen kontingent, die Regierungen unfähig, Administration und Diplomatie zynisch, die Wissenschaftler als spießige Spezialisten, die ökonomischen Eliten bestenfalls aufgeblasen und weltfremd. Indem Ulrich einen unbegrenzten Möglichkeitssinn entfaltet, wird die stämmige Wirklichkeit in einen conjunctivus irrealis verwandelt. Distanz- und Nähebezüge werden ebenso zum Einsturz gebracht wie Hierarchien von Relevanz und Zielen, die das Handeln orientieren konnten. Der Mann ohne Eigenschaften ist die strategische Universalisierung des Bartleby-Effekts: I would prefer not to. Die Verwandlung ins grenzenlose Reich des Möglichen fuhrt zu einer systematischen Verarmung der Wirklichkeit. Mit Freud zu sprechen, ist dies die Situation der Hemmung. Diese Hemmung indes ist systemisch diffundiert, also ebenso ihm wie der Gesellschaft zuzurechnen.
Das Zaudern und Zögern, das Aufschieben und Anhalten: Gera­de dies erzeugt einen ungeheuren Stau an Moglichkeiten, die sich nicht mehr in den Fluss des Wirklichen zu transformieren vermögen, son­dern eine Art Paralleluniversum des bloß Denkbaren bilden. Dadurch aber verwandeln sich die Möglichkeiten zu Inkompossibilitaten, die in wechselseitiger Blockierung nebeneinander bestehen, ohne miteinander geordnete Relevanzhierarchien und Schrittfolgen bilden zu können. Über die individuelle Signatur des Mannes ohne Eigenschaften hinaus stauen sich die sozialen Handlungen und Weltanschauungen zu einem allgemeinen Zustand der Gesellschaft, der sich explosiv im Ausbruch des Ersten Weltkriegs entlädt. Ulrich ist eine Experimentalfigur, mittels derer die generelle Anomie der Gesellschaft durchprobiert wird, bis sie in Gewalt und Verbrechen kollabiert. Die Krise ist da.



Dürfen wir sagen, dass wir es nicht wissen konnten? Dass wir in aller Unschuld überrascht worden sind? Dass die Krise, die viele Billionen Dol­lar verbrannt hat und Millionen von Arbeitsplätzen kosten wird, über uns hereingebrochen ist wie das Erdbeben von Lissabon 1755 über die ahnungslose Bevolkerung? War alles Zufall oder alles System?
Carl von Clausewitz, der sich angesichts der unberechenbaren Friktionen des Krieges und der ungeheuren Neuartigkeit der Napoleonischen Spielzüge im großen „Kriegstheater“ ähnliche Fragen stellte, schrieb an seine Braut Marie von Bruhl am 5. Oktober 1807: „Die erhabensten Werke des bürgerlichen Zustandes, in wie viel Jahrhunderten sie auch fortleben und wirken mögen, tragen das Prinzip ihrer eigenen Zerstörung in sich.“ Die Einrichtungen, die Dauer und Sicherheit erzeugen sollen, tragen nicht nur Keime, nein, sie tragen das „Prinzip“ ihrer Zerstörung in sich. Damit erfasste Clausewitz bündig die Paradoxie der Moderne, mit deren Konsequenz wir heute, als wäre es das erste Mal, konfrontiert sind. Doch seit zweihundert Jahren ist sichtbar, dass die grandiose Entfaltung der Produktion, in deren Gefolge auch die Systemsicherheiten – wie Rechtsordnung, Wohlfahrtsstaat, Arbeitsplatzgarantien, stabile Erwerbsbiografien, sozialer Frieden – bezahlbar wurden, eine ebenso grandiose Destruktion zur Kehrseite hat.
Auch Nietzsche hatte diese Paradoxie, derzufolge bürgerliche Sekurität und destruktive Dynamik auf dem gleichen Baum der Moderne wachsen, deutlich erkannt. Die Metapher der umzustürzenden Grenzsteine steht fur die „jetzige Zivilisation und Grossstadt-Bildung“, für
alle philiströsen Borniertheiten, moralischen Regime, zivilisatorischen Ordnungen, für die „alten Pietäten“ und „egoistischen Besitztümer“, welche die „freien Geister“ zerstören müssen, um die offenen Horizonte zu erreichen: Kreative Zerstörung, um diese Formel von Alois Schumpeter aufzugreifen, bildet die Grunddynamik des Nietzscheschen Denkens. Diese Formel erklart die Wucht des destruktiven Im­pulses, der im Dienst der fessellos-schöpferischen Konstruktion eines neuen Menschen und einer neuen Kultur steht. Dem „freigewordenen Intellekt“, so heißt es in Über Wahrheit und Luge im aussermoralischen Sinn, ist das „ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe […] nur ein Gerüst und ein Spielzeug fur seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Notbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht und dass er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird“. Heute hört man hierbei das neoliberale Credo der selbst ernannten Finanzvirtuosen mit. Man läge falsch, wenn man annähme, dass solche freien Kombinationen und Destruktionen nur im Reich des Geistes – etwa als Kulturkritik – vorkämen; sie bestimmen ebenso, wenn nicht zuerst die „außermoralische“ Sphäre der Ökonomie. Diese bevorzugt jene großen Virtuosen, deren schöpferische und durch nichts limitierte Unternehmungen nur auf der Grundlage großartiger Wertzerstörungen ihre Dynamik entfalten können.
Diese Paradoxie bezeichnet die Seite der „bösen“, boshaften und ironischen Kritik der historischen Bestände ebenso wie die großen Unternehmer, deren ökonomische Fantasie (mit mathematischem Kalkül bestens vereinbar) fortlaufend neue, nie da gewesene Spekulationen, Ideen, Produkte in Umlauf setzt, um den kapitalistischen Motor in Schwung zu halten. Immer war dabei klar: Gewaltige und beflügelnde Aufschwünge sind nur um den Preis eines Absturzes zu haben. Die langwellige Konjunktur hat sich als Chimäre erwiesen. Sie verdankte sich zumeist einer vorausgegangenen Wertvernichtung, die nicht nur in Börsencrashs, sondern ebenso gut in Kriegen bestehen kann. Wenn Nietzsche eine Epoche „von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz“ herbeisehnt und wenn er sich als „Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken“, „einer Verdüsterung und Sonnenfinsterniss“ versteht, dann hat er die Logik kapitalistischer Dynamik mit beschrieben. Sie ist produktiv nur im Bann einer negativen Faszination durch den Absturz, und sie ist destruktiv niemals per Zufall, sondern durch System. Zerstörung ist die Voraussetzung einer neuen „Art Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung“ (Nietzsche). „Denn, glaubt es mir! – das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv!“ Ökonomisch heißt dies: Baut eure Unternehmungen auf den Sand der Spekulation, nur hier, im Gebiet der ungesicherten Risiken, winkt der „Genuss vom Dasein“. Was bei Nietzsche noch verkleidet war als schöpferische Zerstörung überholter Denkmuster – „mit dem Hammer philosophieren!“ –, das ist eine Grundfigur der Moderne und bestimmt längst auch Gesellschaft und Ökonomie.
Hier herrschen strenge, ebenso archaische wie höchst aktuelle Gesetze. Wer nur empfangen kann, dem kann befohlen werden. Er bleibt in der Schuld hängen, die ihn durch die (staatliche) Zuwendung getroffen hat; er wird gesichts- und namenlos, er wird zum bloßen Ding, das passiv in den Tauschverkehr eingespeist werden kann. Das ist die Welt von Hartz IV. Das Haben, das Geben, das Einnehmen, die gesamte Zirku­lation der Dinge und Güter, umso mehr der spekulativen ökonomischen Werte sind hingegen vom Agon beherrscht. Dies war es, was der Ökonom Schumpeter „kreative Zerstörung“ nannte. Er hatte damit den paradoxen, den Wirtschaftsprozess regulierenden Zusammenhang gemeint, nach dem die Zerstörung mit der Schaffung von (neuen) Strukturen in eins fällt, wie umgekehrt jede Wertschöpfung Zerstörung impliziert. Dies scheint eine grundlegende Paradoxie, die weit über die Okonomie hinaus soziale, governmentale, politische und künstlerische Prozesse beherrscht.
Paradox sind bereits die archaischen Akte der Zerstörung von Reichtum im Potlatch: Zerstörung ist das Medium der Produktion der sozialen Ordnung, der Hierarchien, der Macht, aber auch der symbolischen Ordnung. Zerstört jedoch wird hier nicht fremder Reichtum, sondern eigener: bis hin zu „wahren Verwüstungen“ (Marcel Mauss). Seinen Reichtum kann der Gebende „nur dadurch beweisen, dass er ihn ausgibt, verteilt und damit die anderen demütigt, sie ‚in den Schatten seines Namens‘ stellt“ (Maurice Godelier). Verausgabung und Zer­störung sind die machtvollen Gesten, durch welche die alle und alles in die Zirkulation ziehende Ord­nung der Ökonomie konstituiert wird. Man erkennt sofort, dass eine Kultur, die nur so operieren würde. sehr rasch kollabieren würde.
Die Frage ist, ob eine Zivilisation überleben kann, bei der die Verausgabung von Werten nicht mehr wie früher den eigenen, sondern den Reich­tum anderer trifft. Denn das ist das schaurig Faszinierende der gegenwärtigen Krise: Es werden schwindelerregende ökonomische Werte erzeugt, die schlagartig – irgendwann, man weiß nur nicht, wann – vernichtet werden müssen. Aber es sind nicht die Werte derer, die sie besitzen, um in einem gewaltigen Potlatch ihre unanfechtbare Superiorität zu erweisen. Son­dern es haften die Gesellschaften insgesamt. In ihnen, im Volk, rumort indes eine untergründige Angst vor Abstieg und Verlust, Trennung und Untergang, wenn es nicht gelingt, valide und mobil zu bleiben und auf den Wellen der Zirkulation zu reiten, womöglich in der narzisstischen Grandiosität der Futuristen. Dass Letzteres nicht gelingen kann, haben wir schmerzlich erfahren.
Seit der Aufklärung gehört es zum Selbstverständnis moderner Gesellschaften, dass die Rationalisierung der Welt Gewissheiten generiert, welche die Ordnungen des menschlichen Lebenszyklus, der Natur, der Staaten und der Gesellschaft stabilisieren sollen. Die kognitiven Ordnungen und governmentalen Regimes, welche die Transformation traditionaler in funktional ausdifferenzierte Gesellschaften antrieben, erhöhten jedoch nicht nur den Standard inner- und zwischenstaatlicher Sicherungssysteme, sondern gleichzeitig die Kontingenz. Diese Kontingenz wurde erst langsam als unhintergehbare Bedingung der
Modernisierung erkannt. Kontingenz meint, dass Angst und Gefahr, Katastrophe und Unglück, Biografie und Lebensformen, Erfolg und Zufriedenheit nicht mehr durch unverfügbare Ordnungen gerahmt sind. Diese Rahmenlosigkeit – Georg Lukács nennt sie „transzendentale Obdachlosigkeit“, Anthony Giddens spricht von „Entbettung“ – gilt mit unerbittlicher Konsequenz. Im Ergebnis führte dies für Staat und Gesellschaft, aber auch für die Individuen zu massiven Überlastungen. Moderne Gesellschaften müssen ihre Identität auf permanenten und riskanten Wandel, auf Bewegung, Zerstörung und Wachstum einstellen. Unsicherheit ist ihre Entwicklungsvoraussetzung. Aber der Innovationsdruck in Kombination mit der Enttraditionalisierung bedeutet fur immer mehr Menschen nur noch Stress und Schmerz. Und so erwächst aus dem Modernisierungsmodus des risikohaften Möglichkeitsdenkens eine wachsende Nachfrage nach spezifischen Bewältigungsformen dieser Verunsicherungsprozesse.
Die in der Moderne aufgebauten Einrichtungen der Sekurität generierten ein Lebensgefühl, das nicht mehr in religiöser Selbstvergewisserung, sondern in rationalisierten, also ökonomisch verrechneten Garantien wurzelte. Diese wurden freilich erkauft mit dem Bewusstsein um die Zufälligkeit des eigenen Handelns und um die Unzuverlässigkeit der staatlichen Institutionen: An die Stelle religiöser Heilsgarantien trat ein Risikomanagement, das der Staat für die Gesell­schaft und der Bürger für sein Lebensskript zu entwickeln hatte. Genau diese Strategien und Versprechen brechen heute zusammen. Dies führt zu einer befremdlichen Diagnose: Die Moderne stellt die Erweiterung des Möglichkeitsraums auf Dauer, während die Mentalitaten nicht in gleicher Weise mitgewachsen sind. Angesichts der schwindelnden und geschwindelten Möglichkeiten, die oft nur noch schrecken, verbreiten sich misstrauische, ungläubige und depressive Stimmungen. Dies ist die Vertigo-Moderne, der wir soeben beiwohnen.


In traditionalen Gesellschaften war die Religion die zentrale Institution fur Sinnstiftung. Ökonomie war Heilsökonomie: für die Tröstung bei innerweltlichen wie metaphysischen Ängsten und Katastrophen, für die Bewältigung des allgegenwärtigen Todes und für die Vermittlung von „Geborgenheit“ im Schoß einer Zeit, die jeden Einzelnen in das Heilshandeln Gottes zwischen Ursprungsereignis und Endgericht einhegte. Die metaphysische Rahmenlosigkeit der Moderne hat zwar die Spielräume der Kontingenz und damit die Räume selbst regulierter Gestaltung ständig anwachsen lassen. Doch zugleich damit wurde den Instanzen, die diesen Prozess vorantrieben, die Erwartung aufgebürdet, die drohende Sinnleere, die Unsicherheit und Zukunftsungewissheit, den psychophysischen Stress in einer Wettbewerbsgesellschaft nicht nur zu beruhigen, sondern in planbare Lebensläufe und in wohlfahrtsstaatliche Garantien zu transformieren. Heute aber sind weder Lebensläufe planbar, noch ist auf staatliche Fürsorgemaßnahmen Verlass. Erwartungsüberlastung auf der einen, Erwartungsenttäuschung auf der anderen Seite erzeugen eine Art Lähmung des für die Moderne unerlässlichen Möglichkeitssinns. Der Effekt ist: Die risikoaffine Dynamik der Moderne ist eigentümlich mit risikoaversen Mentalitäten verkoppelt.
Die Moderne hat anhaltende Schwierigkeiten damit, die Prozesse ständiger Verflüssigung und Veränderung, der Innovation und des Experimentierens auszubalancieren durch Mechanismen der sozialen und politischen Stabilitat oder durch zeitübergreifende Sinnsicherung und Traditionsbildung. Das Risikomaß, das einen Vorsprung im
Wettbewerb verspricht, ist nicht beliebig zu erhöhen, wenn es keinen Gegenhalt in Stabilitätsmechanismen auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene gibt. Das bedeutet: Risiko und Sicherheit sind nicht nur komplementär, sondern auch proportional. Wächst das Risiko, muss Sicherheit mitwachsen; werden bestimmte Niveaus von Sicherheit unterschritten, lässt die Risikobereitschaft nach. Dann geht nichts mehr.
Dass all dies und noch viel mehr möglich ist und doch so wenig geht, zeigt das Ausmaß eines Strukturproblems, das darin besteht, dass nach dem Krieg die deutsche Bevölkerung mit „fürsorglichen“ Sicherheitsmaßnahmen zur Loyalitat mit der schwach verankerten Demokratie motiviert werden sollte. Dabei wurden die Erwartungen an staatlich garantierte Sicherheitsstandards maßlos erhöht, und die Fähigkeiten zu verantwortlicher Selbstsorge und Risikobereitschaft blieben unterentwickelt. Durchaus sind dies langfristige Erschwernisse beim Umbau des Sozialstaates. Es sind Hintergründe der depressiven Abwehr gegen den Strukturwandel der Gesellschaft in einer globalisierten Welt.
Die Frage nach Sicherheit und Risiko ist eine Schlüsselfrage moderner Gesellschaften (Herfried Münkler). Der Zwang zu Beobachtung, Forschung und Reflexion hat sich angesichts des jüngsten Finanzcrashs dramatisch erhöht. Unklar aber ist, wer die neuen Eliten bilden könnte, nachdem die alten blamiert sind. So kann man auf der einen Seite, insbesondere bei den Globalisierungsgewinnern, eine Zunahme sozialexperimentellen und spielerischen Möglichkeitsbewusstseins mit extremer Risikobereitschaft identifizieren, während auf der anderen Seite Konformismus, larvierte Wut und Depression oder als Amüsement getarnte Langeweile grassieren. Von beiden Seiten ist nichts zu erwarten, zumal Risikokompetenz und Sicherheitsbedürfhis asymmetrisch verteilt sind. Sie differenzieren sich zu Stilen des Lebens aus – und reißen die Gesellschaft noch stärker auseinander, nicht nur ökonomisch, son­dern auch mental, soziokulturell und lebensweltlich. Denn es gab in der Lage, in der – bis zum Jahr 2006 – alles möglich war und für die einen nichts mehr ging, während für die anderen alles bestens lief, Verlierer und Gewinner des Modernisierungsspiels. Es ist unabweisbar, dass moderne Gesellschaften den Risiko-Habitus belohnen, während für diejenigen Ängstlichen und Gehemmten, fur die durchaus einiges möglich wäre, gar nichts mehr geht außer der illusionären Teilhabe am Medienstumpfsinn à la Deutschland sucht den Superstar. Die Banker und Börsenmakler aber sind, in Nietzsches Sinne, die Nihilisten unserer Tage, die ihr Schäfchen längst im Trocknen haben, wenn die Träume der Schafherde sich in Nichts auflösen. Gut so: Denn der space of flows war überdehnt; lassen wir ihn abstürzen, wälzen wir die Kosten auf die Schafe ab, die ihr Fell verloren haben. Die modernen Nihilisten sind, mit Umberto Eco zu sprechen, die „Apokalyptiker“, für die der Untergang zum Risiko gehört, das heute jeder einzugehen hat, der mitspielen will. In dieser Welt, in der es strukturell keine Moral geben darf, interessiert nicht die Frage danach, welches Unglück global angerichtet wird, sondern nur die Frage, wann der richtige Zeitpunkt zum Ausstieg gekommen ist. Den kennen die „Integrierten“ nie. Ihnen, die auf Sta­bilitat und Ruhe setzten und durch Sicherheitshypertrophien ungewollt zur Vermehrung der Risiken beitrugen, bleibt nur die oft genug scheinheilige Empörung, dass die Welt, auf die sie bauten, „schlecht“ ist und die Masters of the Universe Kriminelle sind. Gerade mit dieser vom Schauder faszinierten Mentalitat stützen sie den apokalyptischen Diskurs, von dem der Risiko-Thrill der anderen seine Renditen bezieht.
Die Standardposition der Moderne, nämlich Fortschritt durch Erhöhung von Sicherheit zu stabilisieren, ist infrage gestellt. Es ist unwahrscheinlich, dass Antworten auf die beschriebenen Problemzonen nur politologisch, soziologisch und ökonomisch gefunden werden können. Gefragt sind ebenso historische, auch kultur- und religionshistorische Forschungen, welche die Tiefendimension der Sicherheitsparadoxien und Risikodilemmata der Moderne erforschen. Dies könnte auch ein Beitrag zur Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften sein.

Der Abdruck des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Professor Dr. Hartmut Böhme und „Die Zeit“. Literaturmagazin der ZEIT (ZEIT-Literatur), Nr. 12 (März 2009), S. 30/31 u. 35.

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Über Böhme Hartmut 2 Artikel
Hartmut Böhme ist Professor für Kulturtheorie an der Humboldt-Universität Berlin. Er hat u. a. die Geschichte des Fetischismus erforscht, die historische Anthropologie unserer Gefühle und das Spannungsverhältnis von Risiko und Sicherheit. Von ihm ist erschienen: „Fetischismus undKultur. Eine andere Theorie der Moderne“, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.

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