Geboren 1923 in Königsberg/Preußen – Wolfgang Harich zum 100. Geburtstag am 9. Dezember

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Am 25. August 1964 wurden wir, aus mehreren DDR-Zuchthäusern freigekaufte Häftlinge, in zwei Bussen mit Hanauer Kennzeichen über den Grenzübergang Wartha/Herleshausen nach Hessen gefahren, fuhren noch einige Stunden durch die Dunkelheit und verbrachten die erste Nacht in Freiheit im Schloss Büdesheim, von wo wir am nächsten Morgen entlassen wurden. Wir waren im Sommer 1964 rund 800 politische DDR-Häftlinge, für die die Bundesregierung in Bonn 32 Millionen Westmark gezahlt hatte.

Beim Frühstück am nächsten Morgen saß neben mir ein Mann, der den Leipziger Schriftsteller Erich Loest, der 1958 wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ zu siebeneinhalb Jahren Strafhaft verurteilt worden war, im Zuchthaus Bautzen II kennen gelernt hatte. Er hätte sich gegenüber seinen Mithäftlingen wie ein echter Kamerad verhalten im Gegensatz zu Philosophieprofessor Dr. Wolfgang Harich, der Mithäftlinge anzeigte, weil sie durch Klopfzeichen Verbindung mit ihm aufnehmen wollten. Er war, wegen „Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe“ 1957, nach Niederschlagung des Ungarnaufstands im Herbst 1956, zu zehn Jahren Strafhaft verurteilt und nach acht Jahren begnadigt worden.

Aus Angst vor der Todesstrafe, die ihm die „Staatssicherheit“ angedroht hatte, kooperierte er in unterwürfiger Weise mit dem Untersuchungsorgan und erklärte im Schlusswort vor Gericht: „Mir ist es klar, dass der Staatssicherheit zu danken ist, dass sie also unseren Staat vor größerem Schaden bewahrt hat…und wenn sie mich nicht festgenommen hätten, dann wäre ich heute nicht reif für die zehn Jahre, die der Herr Generalstaatsanwalt beantragt hat, sondern für den Galgen. Und deshalb…sage ich der Staatssicherheit also dafür meinen Dank.“

Die Anklage im Prozess gegen Wolfgang Harich vertrat Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer (1897-1960), der von 1949 bis 1960 im Amt war. Er war ein Wendehals, wie er im Buche steht. Als SPD-Mitglied 1928/33 trat er nach der „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 aus seiner Partei aus, um Landgerichtsdirektor bleiben zu können, und wurde ein „furchtbarer Jurist“ (Rolf Hochhuth) im Dienste des Nationalsozialismus, obwohl er nie NSDAP-Mitglied gewesen war. Nach Kriegsende 1945 trat er in die KPD ein und wurde dadurch 1946 SED-Mitglied.

Wolfgang Harichs Eltern und Großeltern waren in der ostpreußischen Hauptstadt Königsberg, dem Krönungsort der preußischen Könige seit 1701, ansässig. Seine beiden Großväter waren Herausgeber angesehener Zeitung in der Provinz Ostpreußen, der „Allensteiner Zeitung“ und der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“, sein Vater Walther Harich (1888-1931) war Schriftsteller und Literaturhistoriker. Er wurde 1914 in Freiburg/Breisgau mit einer Arbeit über den Spätromantiker E.T.A. Hoffmann (1776-1822) promoviert und edierte später eine zweibändige Biografie (1920) und eine 15bändige Gesamtausgabe (Weimar 1924) der Werke des in Königsberg/Preußen geborenen Schriftstellers . Die spätere DDR-Schriftstellerin Susanne Kerckhoff (1918-1950), die am 15. März 1950 in Ostberlin Selbstmord beging, stammte aus Walther Harichs erster Ehe, war also Wolfgang Harichs Halbschwester.

Wolfgang Harich, der 1944 aus der „Wehrmacht“ desertiert war, konnte sich bis zum Kriegsende in Berlin-Dahlem verstecken und wurde im Mai 1945 von Wolfgang Leonhard (1921-2014), dem jüngsten Mitglied der am 30. April 1945 aus Moskau eingeflogenen „Gruppe Ulbricht“, aufgesucht, wie man in seinem noch heute lesenswerten Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ (1955) nachlesen kann, und war dann 1945 an der Gründung des „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ beteiligt. Er arbeitete zunächst als Literatur- und Theaterkritiker, seit 1948 hielt er Vorlesungen in marxistischer Philosophie an der Ostberliner Universität. Nach der Promotion 1951 mit einer Arbeit über den ostpreußischen Schriftsteller Johann Gottfried Herder (1744-1803) aus Mohrungen im Regierungsbezirk Königsberg wurde er als Professor an die Humboldt-Universität berufen. Seit 1953 war er gemeinsam mit dem Leipziger Philosophieprofessor Ernst Bloch (1885-1977) für die neugegründete „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“ verantwortlich. Wegen seiner Kritik an der DDR-Kulturpolitik nach dem niedergeschlagenen Aufstand vom 17. Juni 1953 musste Wolfgang Harich seinen Ostberliner Lehrstuhl aufgeben und wurde 1954 Cheflektor im Aufbau-Verlag, wo er die Werke des ungarischen Literaturhistorikers Georg Lukacs (1885-1971) betreute.

Leiter des Aufbau-Verlags war seit 1945 der Mexiko-Emigrant Walter Janka (1914-1994), mit dem Wolfgang Harich lange Gespräche über die Ablösung Walter Ulbrichts (1893-1973) führte, weshalb er am 29. November 1956, nach Niederschlagung des Ungarnaufstands, verhaftet und 1957 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Walter Janka bekam fünf Jahre. Gustav Just (1921-2011) und Heinz Zöger (1915-2000), beide Angeklagte waren Redakteure der Wochenzeitung „Sonntag“, wurden zu vier und zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Bernhard Steinberger (1917-1990), der als Jude 1936 aus Deutschland emigriert war, wurde schon 1950 von der russischen Besatzungsmacht in Ostberlin verhaftet und zu 15 Jahren Straflager verurteilt wegen seiner Kontakte zu dem amerikanischen Diplomaten Noel Field (1904-1977), der als Spion galt. Nach fünf Jahren wurde Bernhard Steinberger begnadigt und kehrte 1955 aus dem Lager Workuta am Eismeer nach Ostberlin zurück, wurde aber schon 1956 als Anhänger Wolfgang Harichs erneut verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.

Die Ostberliner Intellektuellen, die eine Ablösung Walter Ulbrichts anstrebten und scheiterten, hatten Sympathisanten an den Universitäten in Halle und Leipzig. Zu ihnen gehörte auch Günter Zehm (1933-2020), der bei Ernst Bloch in Leipzig Philosophie studierte und an einer marxistischen Anthropologie arbeitete. Nachdem sein Doktorvater Ernst Bloch seit 1957 die Leipziger Universität nicht mehr betreten durfte, war er an die Universität Jena verbannt worden, wurde am 5. Juni 1957 verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, die er in Torgau und Waldheim verbrachte. Ernst Blochs Leipziger Assistent Jürgen Teller dagegen wurde damals nicht verhaftet, sondern „zur Bewährung in die Produktion“ geschickt, wobei ihm im Leipziger Stahl- und Eisenwerk der linke Arm abgerissen wurde. Gegen Ende seines Lebens, nach dem Einsturz der Berliner Mauer, wurde er rehabilitiert und zum Professor an der Leipziger Universität ernannt.

Auch der Leipziger Schriftsteller Erich Loest (1926-2013) und sein Freund Gerhard Zwerenz (1925-2015), der bei Ernst Bloch Philosophie studierte, waren aufgeschlossen für die politischen Bestrebungen Wolfgang Harichs und seiner Freunde. Gerhard Zwerenz, der ahnte, dass seine Verhaftung bevorstand, floh im Sommer 1957 nach Westberlin. Erich Loest, der der Aufforderung, sich von seinem Freund zu distanzieren, nicht nachkam, wurde am 14. November 1957 verhaftet und am 22. Dezember 1958 wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, die er in Bautzen II, dem Sondergefängnis der Staatssicherheit für prominente Häftlinge, verbrachte. Im Spätsommer 1964 entlassen, durfte er bis 1968 nur unter dem Pseudonym „Hans Walldorf“ Kriminalromane veröffentlichen. Sein DDR-Leben bis zur Ausreise 1981 hat er ausführlich in seinem autobiografischen Buch „Durch die Erde ein Riss“ (1981) beschrieben.

Die zwei Dutzend DDR-Intellektuellen, die die Forderungen des „Prager Frühlings“ von 1968 vorwegnahmen, sind heute vergessen. Ihr politisches Wirken fand zur Unzeit statt, weil der Ungarnaufstand (23. Oktober bis 4. November 1956), der als vom Westen inszenierte „Konterrevolution“ denunziert wurde, jede Hoffnung auf ideologische Lockerungen zunichtemachte. Geblieben sind die wissenschaftliche Aufarbeitung und die Erinnerungsliteratur. So veröffentlichte der Westberliner Politikwissenschaftler Martin Jänicke im Jahr der Entlassungswelle aus DDR-Gefängnissen 1964 das Buch „Der dritte Weg. Die antistalinistische Opposition gegen Ulbricht seit 1963“. In seiner Autobiografie „Ahnenpass“ (1999) geht Wolfgang Harich auf die Reformbestrebungen von 1956 ein. Erich Loest veröffentlichte seine Einschätzung der politischen Diskussionen in Leipzig und Halle 1956 unter dem Titel „Prozesskosten“ (2007).

 

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Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.