Vamik Volkan – Analysen von autoritären Machthabern und Autokraten

Bild von chenspec auf Pixabay

Im aktuell tobenden Ukrainekrieg blickt die ganze Welt auf einen Kriegsherrn, der als Autokrat und Despot sich über alle bislang verbindlich internationalen Regeln hinwegsetzt. Er griff grundlos ein Nachbarland an und schreckt vor Völkermord und Kriegsverbrechen nicht zurück. Solch extrem brutale Verhaltensweisen werfen viele Fragen auf. Vamik Volkan ist ein Experte, der in besonderer Weise Licht in das Dunkel dieses schwer verstehbaren Handelns bringen kann. Er war fast drei Jahrzehnte für die UNO in Krisen- und Kriegssituationen als Berater und Vermittler tätig, vor allem auf dem Balkan und in Osteuropa. Er verstand sich dabei immer als Friedensvermittler und wurde deshalb berechtigterweise viermal für den Friedensnobelpreis nominiert. Zusätzlich hat er Fachkompetenz als langjähriger Psychiatrie-Professor und als Psychoanalytiker. Volkan wird in diesem Jahr 90 Jahre alt und verfasst bis heute profunde Fachliteratur. Die Identitätsfindung von Völkern und Großgruppen und ihre Beziehung zu ihren Führern sind sein Spezialgebiet. Zwangsläufig tauchen dabei Analysen von Autokraten, Despoten, Diktatoren und Tyrannen auf. Volkan wies auf, wodurch sich positive und konstruktive Führer von destruktiven unterscheiden und wie es zu diesen Entwicklungen kommt. Dabei interessiert ihn besonders die Interaktion von Führer und Volk, also ein sozialpsychologischer Ansatz. Seine umfangreiche Fachliteratur wird durch zwei hervorragende Biografien über Richard Nixon und Atatürk ergänzt.

Kurzes biographischen Porträt

Vadim Volkan wurde am 13. Dezember 1932 als Sohn türkischer Eltern in Nikosia auf Zypern geboren. Er studierte in Ankara Medizin. Im Alter von 25 Jahren emigrierte er in die USA und qualifizierte sich als Facharzt für Psychiatrie. Zusätzlich absolvierte er eine Ausbildung als Psychoanalytiker. Bald wurde zum Psychiatrie-Professor an der Universität von Virginia in Charlottesville  ernannt und arbeitete in dieser Position etwa drei Jahrzehnte lang. Neben seinen ärztlichen und akademischen Aufgaben war er fast dreißig Jahre lang Berater und Vermittler für die UNO und war in Krisen- und Konfliktregionen als Friedensstifter tätig. Volkan ist bis ins hohe Alter außergewöhnlich aktiv. Seine Stimme wird von vielen Institutionen gehört und er bekommt durch sein unermüdliches Engagement für den Frieden weltweit große Wertschätzung und Anerkennung.

Beiträge zur Psychoanalyse der Macht

Seit Beginn seiner psychoanalytischen Studien widmete sich Vamik Volkan besonders der Sozialpsychologie und kollektiven Phänomenen. Das interessierte ihn mehr als Individualpsychologie oder intrapsychische Phänomene. Ethnische und staatliche Konflikte wurden sein Spezialgebiet. Damit kam er zwangsläufig zentral auf die Struktur und Dynamik von Macht. Die Beziehung zwischen Führer und seinem Volk oder eines Führers und seinen Anhängern in einer Großgruppe funktioniert nicht ohne Macht. Je nachdem, ob die Macht durch demokratische Wahlen legitimiert ist oder ob sie autoritär entsteht, ergeben sich große Unterschiede im kollektiven Beziehungsgefüge. Volkan unterscheidet reparative und destruktive Führer. Die ersteren heben ihre Anhänger auf ein höheres Niveau, solidarisieren sich mit ihnen und werten sie auf. Dadurch entsteht ein positives Gemeinschaftsgefühl und eine stabile Gruppenkohärenz. Die destruktiven Führer agieren mit Entwertung, Unterwerfung, Gehorsam und Bestrafung. Sie erzeugen Distanz und setzen repressiv Angst als Druck- und Machtmittel ein. Volkan bringt in seinen Büchern bevorzugt Beispiele von politischen Führern im 20. Jahrhundert – von Adolf Hitler und Josef Stalin bis hin zu Milosevic. Aufgrund seiner türkischen Herkunft interessierte er sich besonders für Kemal Atatürk. Über ihn schrieb er ebenso eine Biograpfe wie über den amerikanischen Präsidenten Richard Nixon. Durch seine psychoanalytischen Arbeiten fand Volkan international große Anerkennung. Diese führte schließlich dazu, dass ihm im Jahr 2003 der Internationale Sigmund-Freud-Preis der Stadt Wien verliehen wurde.

Realpolitiker, Verhandlungsführer und Friedensstifter

Volkan war nicht nur ein hervorragender Theoretiker, er konnte auch die Praxis des Handelns. Besonders am Herzen lag es ihm, eine Brücke von der Theorie zur Praxis zu schlagen. Dies bedeutete für ihn, bei der Bewältigung von staatlichen Konflikten und Krisen beizutragen. So wurde er bald zum Friedensstifter und beteiligte sich aktiv an Friedensverhandlungen. Er beteiligte sich an Friedensmissionen der UNO und reiste hierzu in sehr viele Staaten, in denen ethnische oder staatliche Konflikte virulent waren. Fast dreißig Jahre war er hier tätig, besonders in Staaten des Balkans, Osteuropas und Vorderasiens. Zypern und die Türkei kannte er ja sehr gut aus den ersten Jahrzehnten seines Lebens durch seine Herkunft. Seine Friedensmissionen stimulierten ihn zur Gründung des „Center for the Study of Mind and Human Interaction“, das zu einem internationalen und interdisziplinären Zentrum für Konfliktlösungen und Friedensarbeit in Osteuropa wurde. Von 1987 bis 2002 war er auch Leiter dieses Zentrums. Weiterhin gründete er die „International Society of Political Psychology“ und war jahrelang Präsident dieser Gesellschaft. Er wurde damit zum Pionier der Politischen Psychologie, die sich in vielen Ländern zu einer bedeutsamen Subdisziplin der Psychologie entwickelte.

Viermal für den Friedensnobelpreis nominiert

Durch seine zahlreichen Friedensmissionen wurde Vamik Volkan international bekannt. Seine fachwissenschaftliche Anerkennung und sein unermüdliches Engagement als Friedensstifter führten dazu, dass er viele namhafte Fürsprecher hatte, die ihn für den Friedensnobelpreis vorschlugen. Viermal war er für diese sehr hoch geschätzte Auszeichnung nominiert. Erhalten hat er ihn bisher noch nicht. Ganz abgesehen von der faktischen Preisverleihung – wesentlich ist die große internationale Reputation und die jahrzehntelange Expertise als Vermittler und Friedensstifter. Diese ist bei Volkan verbunden mit psychologischer Fachkompetenz und Menschenkenntnis. Kaum ein anderer Psychologe ist mit so vielen Machthabern und Staatspräsidenten an einem Verhandlungstisch gesessen. Er kennt viele aus langen Gesprächen von Angesicht zu Angesicht. Diese Kombination von fachpsychologischer Kompetenz und jahrzehntelanger Verhandlungspraxis ist geradezu einmalig.

„Blutsgrenzen“ (1999) und „Blindes Vertrauen“ (2005) – Studien zu den Kriegen am Balkan und in Osteuropa

Vamik Volkan war schon etwa 70 Jahre alt, als er zwei wichtige Bücher über ethnische und staatliche Konflikte auf dem Balkan und in Osteuropa schrieb. In „Blutsgrenzen“ (1999) betont er besonders den für ihn überraschenden ausgeprägten Hass der feindlich gestimmten Ethnien und Staaten. Im Vergleich zu früheren Konflikten oder Kriegen gehe es nicht primär um ökonomische oder politische Interessenskonflikte, sondern um ethnische und sehr affektgeladene Konflikte, die meist weit in die Vergangenheit zurückreichen. Als eines seiner zahlreichen Beispiele beschrieb er anschaulich Slobodan Milosevic. Der serbische Präsident reaktivierte wie besessen die Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1389, die zu einer Niederlage der Serben führte. Dieses kollektive Trauma hat Milosevic immer wieder in seiner Propaganda-Maschinerie reaktiviert. Mit diesen kollektiven Erinnerungen an längst vergangene Zeiten weckte Milosevic starke Affekte und ethnische Konflikte gegen Bosnier und Kosovo-Albaner. Er forderte Rache und Vergeltung. Sechs Jahre später erschien „Blindes Vertrauen“ (2005), das als Fortsetzungsband angesehen werden kann. Es geht auch hier um die Macht der Führer und wie diese ethnische Konflikte instrumentalisieren, um ihre Macht zu vergrößern.

Analyse der identitätsstiftenden Narrative – Parallelen zu Wladimir Putin

Für die nach Macht strebenden Führer ist es nach Volkan wichtig, dass diese ihr Volk gewinnen und um sich scharen. Dies gelingt seiner Theorie nach durch drei wesentliche Faktoren:

  • Übertriebene Reaktivierung von Heldenmythen („gewählte Ruhmesblätter“)
  • „gewählte Traumata“ (Opfermythen)
  • Reinigungsrituale und ethnische Säuberungen

Die drei genannten Faktoren sollen den nationalen Zusammenhalt stärken und die Identität des Volkes stiften. Volkan nennt sie deshalb „identitätsstiftende Narrative“. Beim russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin lassen sich diese Phänomene gut nachvollziehen. Die von Putin gewählten Heldenmythen sind die drei großen Zaren oder Staatsführer der russischen Geschichte:  die Zaren „Iwan der Große“ (auch genannt Iwan der Schreckliche), Zar Peter der Große und Josef Stalin. Diese drei Machthaber sind Vorbilder für Putin. Auch Putin möchte gerne als „Wladimir der Große“ in die Geschichte eingehen. Der österreichische Soziologe Bernhard Hofer hat dies kürzlich in einem anregenden Beitrag beschrieben (Hofer 2022). Eine ähnliche Sichtweise hat der renommierte amerikanische Historiker und Putin-Kenner Timothy Snyder ( Csef 2022, Snyder 2018). Alle drei genannten Zaren und Machthaber waren mächtig und gefürchtet. Sie waren auch Massenmörder. Allein Josef Stalin hat den Tod von Millionen Menschen zu verantworten (Clark 2020, Snyder 2011). Selbst nach russischen Historikern ist diese blutige Realität Stalins nicht aufgearbeitet. Er wird von vielen Russen heute noch verehrt. Der größte Nationalfeiertag für Russen ist heute noch der 9. Mai. Dies ist der Tag der Kapitulation Deutschland und der Sieg Stalins über die Nazis. Ein Teil des Narrativs von Putin zu seinem Angriffskrieg ist die geplante Entnazifizierung der Ukraine. Putin sieht Nazis, wo keine sind. Aber er verbreitet unaufhörlich in seiner Staatspropaganda dieses Narrativ und sein Außenminister Lawrow sowie sein Pressesprecher Peskow müssen immer wieder dieses Narrativ nachplappern. Die Nazis sind ein Symbol für den Gegner im Westen, der schon einmal grandios von den Russen besiegt wurde. Das Nazi-Narrativ wird offensichtlich von großen Teilen der russischen  Bevölkerung aktuell als plausibel akzeptiert.

Das „gewählte Trauma“ ist Putins Narrativ ist allzu deutlich: Es ist der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1999. Das ist für Putin die große Schmach und Schande, die seiner Meinung nach revidiert werden muss, indem er ein neues großrussisches Imperium schafft. Die Reinigungsrituale und ethnischen Säuberungen sind mehr als deutlich: Putin will eigentlich das ukrainische Volk vernichten. Er will es ausrotten. Wut und Hass haben sich bei ihm gesteigert, als er feststellen musste, dass er nicht als Befreier willkommen war, sondern mit heftigstem Widerstand und Gegenwehr konfrontiert war. Selbst in der zweitgrößten Stadt Charkiw, die nahe an der russischen Grenze liegt und in der sehr viele Menschen russisch sprechen, wird erbittert gegen seine Besatzungstruppen gekämpft. Zahlreiche Kriegsbeobachter und Politiker sprechen offen von Vernichtungskrieg und Genozid. Das gezielte Töten von wehrlosen Zivilisten gehört dazu. Das Massaker von Butscha macht dies erschreckend deutlich.

Aktualität und Relevanz der Studien von Vamik Volkan angesichts der Herausforderung des Ukraine-Krieges

Im Dezember 2022 wird Vamik Volkan 90 Jahre alt. Er schreibt bis heute sehr lesenswerte Fachliteratur. Seine Expertise sollten jeden Interessierten motivieren, seine Werke zu lesen. Er ist eine wichtige Stimme zum Verständnis dessen, was im Ukraine-Krieg wirksam ist und wo die Wurzeln dieser schrecklichen Entgleisung liegen. Mit seinen Kriegsverbrechen und seinem Völkermord hat sich Putin aus der zivilisierten Welt endgültig verabschiedet. Er kann noch töten lassen. Leider. Weltweite Anerkennung wird er nie mehr bekommen. Selbst der amerikanische Präsident Biden hat ihn öffentlich als „Schlächter“ und „Kriegsverbrecher“ bezeichnet. Ein bemerkenswerter Vorgang.  Seit dem Massaker von Butscha wird auch von führenden Politikern mehr Klartext geredet. Bei Völkermord ist eine rote Linie überschritten. Putin wird vermutlich als Massenmörder in die Geschichte eingehen wie Josef Stalin, der am 9. Mai 2022 in Moskau wieder mit einer großen Militärparade gefeiert werden wird.

Vamik Volkan kann zum Verstehen beitragen. Als Friedensstifter oder Verhandler – so wie er es 30 Jahre lang für die UNO getan hat – steht er leider nicht mehr zur Verfügung. Aber seine Stimme ist von großer Bedeutung.

Literatur:

Clark, Christoph, Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump. Deutsche Verlagsanstalt, München 2020

Csef, Herbert, Warum Krieg? Zur Aktualität des Briefwechsels von Albert Einstein und Sigmund Freud. Tabularasa Magazin vom 25. März 2022

Csef, Herbert, Timothy Snyder und die Chronologie des Ukraine-Krieges. Tabularasa Magazin vom 6. April 2022

Hofer, Bernhard, „Wladimir“ der Große. Herrscher der ganzen Rus. Soziologie heute, April 2022, S. 6 – 11

Snyder, Timothy, Bloodlands. Europa zwischen Stalin und Hitler. C.H. Beck, München 2011

Snyder, Timothy, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika. C.H.Beck, München 2018

Volkan, Vamik, Blutsgrenzen. Die historischen Wurzeln und die psychologischen Mechanismen ethnischer Konflikte und ihre Bedeutung bei Friedensverhandlungen. Scherz Verlag, München 1999

Volkan, Vamik, Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte. Psychosozial Verlag, Gießen 1999

Volkan, Vamik, Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Zeiten der Krise und des Terrors. Psychosozial Verlag, Gießen 2005

Volkan, Vamik, Großgruppen und ihre politischen Führer mit narzisstischer Persönlichkeitsorganisation. In: Stephan Döring, Hans-Peter Hartmann, Otto F. Kernberg (Hrsg.) Narzissmus. Grundlagen – Störungsbilder – Therapie. 2. akutualisierte und erweiterte Auflage. Schattauer Verlag/ Klett-Cotta Stuttgart 2021, S. 520 – 542

 

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Csef_h@ukw.de

 

Finanzen

Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.