Vor 20 Jahren: Am Vorabend der friedlichen Revolution

In der Kette von runden Jubiläumstagen, die sich durch dieses und das nächste Jahr ziehen, verbinden sich im Mai 2009 mehrere erinnerungswürdige Ereignisse. Morgen vor 60 Jahren, genau vier Jahre nach der Kapitulation der Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, beschloss der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz. Wir werden in wenigen Wochen den Jahrestag seiner Verkündung feiern und damit den 60. Jahrestag der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland. Und wir erinnern uns gleichzeitig an folgenreiche Ereignisse vor 20 Jahren: die gefälschte Kommunalwahl am 7.Mai 1989, und den Beginn der Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn vom 2. Mai 1989 an, zwei Ereignisse also, die für die Friedliche Revolution von 1989/90 eine Art Auslöserfunktion hatten.
Wir feiern die 60- und die 20-jährigen Jubiläen im Verbund. Beide Ereigniskomplexe gehören zusammen, sie sind gewissermaßen die beiden Beine, auf denen Deutschland heute steht. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben damals in der Präambel festgelegt, dass das ganze deutsche Volk aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Dies ist dann vor 20 Jahren geschehen, dank der Friedlichen Revolution, mit der die Menschen in der DDR die Freiheit erkämpften und den Weg zur deutschen Einheit öffneten. Und mit dem Beitrittsbeschluss der frei gewählten Volkskammer vom 23. August 1990 wurde das Grundgesetz die gemeinsame Verfassung aller Deutschen. Darum ist es richtig, dass wir nicht ein Jubiläum West – mit dem Thema Grundgesetz – und ein Jubiläum Ost – mit dem Thema Friedliche Revolution – feiern, sondern ein gemeinsames gesamtdeutsches „Jubiläum Freiheit und Einheit“.
Ich könnte mir vorstellen, dass von diesem doppelten Jubiläum Impulse auch für die innere Einigung unseres Landes ausgehen. Die historische Aufarbeitung der SED-Diktatur hat in den zurückliegenden Jahren sehr beachtliche Ergebnisse erbracht. Die beiden hiermit befassten Bundesinstitutionen, also die Stasi-Unterlagenbehörde und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur leisten hervorragende Arbeit, ebenso tun es viele Gedenkstätten – ich nenne beispielhaft die in Berlin-Hohenschönhausen – und private Vereine und Initiativen. Aber wir sehen auch, dass die dabei erarbeiteten Erkenntnisse zu wenig in der Breite der Bevölkerung ankommen und vor allem, dass sie zu wenig Eingang in Unterrichtsmaterialien und Unterrichtspraxis finden. Ich hoffe, dass die vertiefte Beschäftigung mit der Geschichte der Teilung, der DDR und der Einheit uns voranbringt.
Übrigens glaube ich auch, was unsere heutige Moderatorin, Frau Birthler, vor einigen Wochen bei unserer ersten größeren Jubiläumsveranstaltung in Frankfurt am Main gesagt hat, wir haben dort gemeinsam mit dem Bundespräsidenten in einem Festakt an die erste gesamtdeutsche Verfassung der Paulskirche von 1849, erinnert. Ich zitiere sinngemäß: Viele Probleme der Aufarbeitung sind keine wirklichen Ost-West-Probleme. Die sogenannte Mauer in den Köpfen verläuft nicht zwischen Ost- und Westdeutschen, sondern zwischen den Menschen, die die Freiheit hochschätzen, und denen, die sie fürchten.
Fortschritte erhoffe ich mir auch für das gegenseitige Verständnis der Deutschen in den neuen und den alten Bundesländern. Die Geschichte der Deutschen in der Teilungszeit war keine gemeinsam erlebte, aber sie war in vielen Hinsichten eine zusammenhängende, auch wenn das aus der Alltagsperspektive nicht immer erkennbar war.
Vor allem muss man das Verständnis dafür festhalten, dass man unterscheiden muss zwischen dem System und der großen Mehrheit der Menschen, die gegen ihren Willen unter ihm leben mussten. Ich zitiere an dieser Stelle gern, was der Deutsche Bundestag am 17. Juni 1994 festgestellt hat:
„Der SED-Staat war eine Diktatur. Er war dies nicht durch Fehlentwicklung oder individuellen Machtmissbrauch, sondern von seinen ideologischen und historischen Grundlagen her. […] Die wirkliche Grundlage der äußerlichen Stabilität des Systems war die von der Sowjetunion gegebene Existenzgarantie; als sie zurückgezogen wurde, stand das Regime der aufbegehrenden Bevölkerung haltlos gegenüber und brach zusammen. […]
Die politisch-moralische Verurteilung der SED-Diktatur bedeutet keine Verurteilung der ihr unterworfenen Menschen, im Gegenteil. Die Deutschen in der SBZ/DDR haben den schwereren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tragen gehabt. Sie mussten einen Neuanfang leisten unter den Bedingungen eines politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems, das sie einengte und unterdrückte und um die Früchte ihrer Leistungen brachte.“ [1]
Diese Resolution, aus der ich hier zitiere, wurde damals von der Unionsfraktion vorgeschlagen und von den anderen Fraktionen – mit Ausnahme der Gruppe der PDS – mitgetragen. Ich halte diese Aussagen nach wie vor für gültig; die Diskussion, die in den letzten Wochen hierüber begonnen worden ist, kommt mir etwas künstlich und unnötig vor.
Unser Thema heute und morgen ist die Friedliche Revolution, die im September 1989 begann und mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit ihren Abschluss fand. Wir werden in den beiden Jubiläumsjahren sicherlich mehrmals Gelegenheit haben, sie unter verschiedenen Aspekten zu betrachten. Heute knüpfen wir chronologisch bei zwei Ereignissen an, die zu der Vorbereitungsphase gehören.
Das erste war der Beginn der Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn am 2. Mai. Zunächst wurden nur einige Sicherungsanlagen abgebaut, weil ihre Modernisierung teuer gewesen wäre – Lieber Kollege Tiefensee, da sieht man, was eine Mangel an Haushaltsmitteln für unvorhersehbare Folgen haben kann – und weil Ungarn für die Bewältigung seiner wirtschaftlichen Krise ohnehin eine politische Öffnung nach Westen brauchte. Es war noch nicht der Wegfall der Blockgrenze, der kam erst einige Monate später, aber es war ein erster Schritt. Und viele Menschen aus der DDR reisten im Sommer nach Ungarn in der Hoffnung, dass sich dort ein Weg zur Ausreise öffnete. Der Ausreisedruck war immer ein ziemlich sicherer Anzeiger für die innere Lage in der DDR.
In den folgenden Wochen und Monaten sollte der Ausreisedruck über Ungarn, Prag und auch die bundesdeutsche Botschaft in Warschau beständig zunehmen. Am 10./11. September öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich vollständig. Und die DDR-Führung sah sich genötigt, die Zufluchtsuchenden in der bundesdeutschen Botschaft in Prag ausreisen zu lassen. Wenn wir uns mit Freude an die Friedliche Revolution erinnern, dann hat der Dank an die Nachbarländer, insbesondere an Ungarn, darin seinen dauerhaften Platz.
Der andere Auslöser war die gefälschte Kommunalwahl. Das Wahlprocedere war das übliche: Man bekam den Zettel, faltete ihn und warf ihn in die Urne. Aber diesmal war es anders als üblich. Die Menschen waren mutiger geworden; zwischen 10 und 20% gingen in die Kabine und strichen den Wahlzettel durch.Und als die SED die Ergebnisse hinbog, um zwar nicht, wie üblich, über 99%, aber genau kalkulierte 98,85% Ja-Stimmen verkünden zu können, hatten Bürgerrechtler in den Wahllokalen mitgezählt und machten den Betrug publik. So vollzieht sich Geschichte.
Dass das Klima sich geändert hatte, lag an dem Tauwetter in Moskau. Gorbatschow, der seit 1985 amtierende Generalsekretär, wollte den Sozialismus nicht beseitigen, sondern effektiver gestalten. Er vertraute darauf, dass ein reformierter Sozialismus neue Produktivkräfte entfalten würde, die die Sowjetunion dringend brauchte. Denn auch die UdSSR stand, ebenso wie ihre Bündnisstaaten, unter wirtschaftlichem Druck. Auch sie war eine zentrale Planwirtschaft mit all ihren Dysfunktionalitäten, belastet zudem mit einem großen Partei-, Staats- und Sicherheitsapparat und überdies mit hohen Militärausgaben. Gerade erst in den letzten zehn Jahren hatte sie ein teures Programm der Rüstungsmodernisierung im Bereich der auf Europa gerichteten Mittelstreckenraketen realisiert – zur Sorge der Europäer natürlich –, und jetzt brauchte sie Entlastung von den Kosten ihres Imperiums. Gorbatschow erhoffte sie von einem Reformprogramm unter den Schlagworten Transparenz – Umgestaltung – neues Denken in der Außenpolitik.
Dass der Patient Sozialismus an der Rosskur, die er ihm verschrieb, sterben würde, war nicht vorgesehen. Als er am 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin zu Gast war, sagte er: „Wenn wir zu spät kommen, bestraft uns das Leben sofort“; die Presse hat diesen Satz dann leicht umformuliert. Er ahnte nicht, dass er schon zwei Jahre später entmachtet und kurz darauf die Sowjetunion aufgelöst sein würde. Seine Gegner behielten aus ihrer Sicht Recht, wenn sie davor warnten, so gefährliche Experimente zu unternehmen, die alles ins Wanken bringen könnten. Ich erinnere mich an vertrauliche Gespräche als Chef des Bundeskanzleramtes mit der SED-Führung. Sie sagten Gorbatschow habe keine Ahnung; sein Reformprogramm sei nicht zu schaffen. Gorbatschow hat diese Möglichkeit aber offenbar nicht oder zu spät gesehen. Es bleibt sein großes historisches Verdienst, dass er die Weisheit besaß, auch dann seinem Kurs treu zu bleiben, die Breshnew-Doktrin nicht mehr anzuwenden und eher den Zusammenbruch des äußeren Imperiums der Sowjetunion hinzunehmen als es mit gewaltsamen Mitteln aufrechtzuerhalten. Wenn einer in der Menschheitsgeschichte den Friedensnobelpreis verdient hat, dann muss er sich an den Taten Gorbatschows messen lassen.
Aber dass die Breshnew-Doktrin aufgegeben war, das wussten die Zeitgenossen noch nicht, jedenfalls nicht mit hinreichender Verlässlichkeit. Man wusste nicht sicher, ob der eigene Weg, den Gorbatschow den Verbündeten zugestand, auch aus dem sozialistischen System hinausführen durfte, und erst recht nicht, ob das auch für den speziellen Fall der DDR galt; sie war immerhin der Eckstein des Bündnissystems.
Die Demonstranten, die in der DDR Ende September, Anfang Oktober auf die Straßen gingen, hatten begründete Angst, aber sie gingen trotzdem auf die Straße. Was am 9. Oktober in Leipzig die gewaltsame Niederschlagung der Montagsdemonstration verhinderte, war die unerwartet große Menge von 70.000 Demonstranten, die über den Ring zogen und riefen „Wir sind das Volk!“. Die Staatsmacht hatte die 8.000 Mann Sicherheitskräfte aufgeboten, ihr Zurückweichen an diesem Tag sollte sich als der erste Durchbruch der Friedlichen Revolution erweisen. Die entscheidenden Akteure der Friedlichen Revolution waren nicht die Politiker, sondern die Menschen auf den Straßen der DDR. Sie bestimmten die Geschwindigkeit und die Richtung. Und dass ihre Revolution unblutig blieb, war eine der Voraussetzungen für ihren Erfolg. Hieran haben die Kirchen, die für die Formierung der Revolution bedeutsam waren, einen wesentlichen Anteil.
Aus Bonner Sicht – ich war im Frühjahr 1989 Bundesminister des Innern geworden und zuvor als Chef des Bundeskanzleramtes für die Beziehungen zur DDR zuständig gewesen – war die Entwicklung auch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre schwer einzuschätzen. Eine gewisse krisenhafte Entwicklung war natürlich zu sehen, aber etwas krisenhaft ging es in der DDR immer zu; es gehörte zu ihrem chronischen Krankheitsbild. Auch die Oppositionsbewegung, die sich im Schutzraum der Kirche seit Ende der 70er Jahre gebildet hatte, gehörte zu den Krisensymptomen, ebenso die erkennbare Nervosität der SED-Führung vor dem „polnischen Bazillus“. Anfang 1989 gab Honecker mit hinreichender Deutlichkeit seine Einschätzung zur Kenntnis, dass die Bedingungen, die zur Errichtung der Mauer geführt hatten, weiterhin bestanden. Dass die Mauer allerdings noch hundert Jahre stehen würde, sollte sich glücklicherweise als eine seiner Fehlprognosen erweisen. Aber zwischen Krisensymptomen und einer durchschlagenden Destabilisierung stand bis dahin immer der „große Bruder“, der seine schützende Hand über den Protektoratsstaat hielt. Der „Regierende Botschafter“ Abrassimow hat nach 1990 aus der Rückschau die DDR einen „Homunculus“ genannt „der in der sowjetischen Retorte gezüchtet“ worden sei. Und solange die UdSSR bereit war, diesen Staat um jeden Preis zu halten, konnten Änderungen höchstens in kleinsten Dosierungen vonstatten gehen. Dass die Sowjetunion bereit – oder vielleicht auch genötigt – sein könnte, ihren wichtigsten Gewinn aus dem Zweiten Weltkrieg preiszugeben, dafür gab es bis 1989 keine Anzeichen. Auch auf Seiten unserer europäischen Verbündeten konnte man mit dem Status quo ganz gut leben und blickte nicht ohne Besorgnis auf die Möglichkeit einer Destabilisierung. Aber die Amerikaner hatten einen anderen Blick. Das kann man auch gut bei Vernon Walters nachlesen. Und auch Ronald Reagan hatte bei seinem Besuch 1987 in Berlin den Weitblick zu sagen: „Mr. Gorbachev, open this gate!“. Für die Bundesregierung bedeutete all dies aber, dass man hinsichtlich der Veränderungen, die sich ab Oktober 1989 vollzogen, mit Behutsamkeit auftreten musste und jedenfalls gut daran tat, nicht als Beschleuniger in den Vordergrund zu treten.
Die Oktoberereignisse änderten die Situation grundlegend. Die DDR-weiten Massendemonstrationen erzwangen den Rücktritt erst Honeckers, dann der Regierung Stoph – nur wenige Wochen später sollte Krenz ihnen nachstürzen –, ohne dass die sowjetische Schutzmacht eingriff. Als Anfang November die neue DDR-Staatsführung in Bonn anfragte, ob die Bundesrepublik zu finanziellen Hilfen in neuer Dimension bereit sei – die Rede war von 10 Mrd. DM sofort und 2 Mrd. jährlich ab 1991 –, war die Situation zum Handeln da. Die Bundesregierung ließ nach Ost-Berlin mitteilen, dass über Hilfe in dieser Größenordnung nachgedacht werden könne, wenn die SED zu systemändernden Reformen bereit sei: Verzicht auf das Machtmonopol der SED, Zulassung pluralistischer Parteien, Anberaumung freier Wahlen. Es waren dieselben Forderungen, die die Demonstranten auf den Straßen erhoben. Die SED-Führung geriet in den Zangengriff.
Die Öffnung der Mauer am 9. November war in dieser Form von der SED-Führung nicht geplant, egal, ob Herr Ehrmann seine Frage in der Pressekonferenz von Herrn Schabowski spontan oder auf Veranlassung von wem auch immer gestellt hat. Das Chaos bei den unvorbereiteten Grenztruppen war echt. Die Freude bei den Menschen war es auch. Der 9. November 1989 war, nach dem 9. Oktober, der zweite Wendepunkt in der Friedlichen Revolution – der dritte sollte dann, vier Monate später, die freie Volkskammerwahl werden. Die Menschen erkannten, dass das Ziel, das bisher tabubesetzt war und an das sie bisher nicht zu denken gewagt hatten, greifbar war, und jetzt riefen sie „Deutschland einig Vaterland!“. Die Revolution ging über ihre Initiatoren hinweg, denn viele – nicht alle! – Bürgerrechtler hatten nur an eine reformierte DDR gedacht. Aber das lag in der Logik der Ereignisse. Die DDR war ein Systemstaat, ohne eigene nationale Identität, wie sie Polen oder Ungarn hatten. Otto Reinhold, Direktor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, hatte recht, als er – in dem ihm geläufigen Vokabular – fragte: „Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich keine.“
Am 28. November 1989 verkündete Bundeskanzler Kohl das „Zehn-Punkte-Programm“ zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Der Jubel der Menschen, die ihn drei Wochen später in Dresden begrüßten, war so etwas wie die plebiszitäre Bestätigung dieses Programms. Der Weg zur deutschen Einheit war noch nicht gesichert. Es bedurfte noch schwieriger Verhandlungen, bis er gebahnt war. Mitentscheidend war die Hilfe durch die USA unter ihrem damaligen Präsidenten George Bush senior, die uns in den internationalen Verhandlungen nachdrücklich unterstützt haben. Durchschlagend war für die Lösung der deutschen Frage, dass klar war und bei den Volkskammerwahlen bestätigt wurde, was die Deutschen wollten. Der damalige Vorsitzende der Ost-SPD und Außenminister der Regierung de Maizière, Markus Meckel, hat es rückblickend so ausgedrückt: „Die deutsche Einheit wurde in einem erstaunlich geordneten Prozess möglich, und ich behaupte, in einem Prozess der Selbstbestimmung der Ostdeutschen.“ [2]
Ich würde an dieser Stelle gern weitererzählen über das annus mirabilis der deutschen Geschichte. Im Rahmen des heutigen Programms ist das nicht möglich, aber die Jubiläumsjahre mit ihren vielen Veranstaltungen werden dazu noch weitere Gelegenheit geben. Lassen Sie mich für heute mit einem persönlichen Wort schließen.
Der Rückblick auf die Jahre 1989/90 ist für mich ein anhaltender Grund zur Freude. Es ist der politische Anlass in meinem Leben, der mir bis heute die größte Freude bereitet. Dass ich den Sturz der SED-Diktatur miterleben dufte, dass ich die Menschen auf der Berliner Mauer tanzen sehen konnte, dass ich die Möglichkeit bekam, an der Wiedervereinigung Deutschlands ein Stück mitzuarbeiten, das erfüllt mich bis heute mit Freude und Dankbarkeit. Wir haben inzwischen gelernt, dass die innere Einigung Deutschlands schwieriger ist und länger dauert, als wir damals erwartet haben. Dennoch haben wir den größeren Teil der Strecke hinter uns gebracht. Alleine die Tatsache, wie leidenschaftlich wir Deutschen über jede erdenkliche politische Frage diskutieren, zeigt doch: Wir sind ein Volk. Das ist unsere gemeinsame Identität.
Deshalb ringen wir auch gemeinsam mit den Herausforderungen für unser Land. Aktuell ist es vor allem die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise, die uns beschäftigt. Sie ist natürlich auch beim Aufbau Ost ein Hemmnis, aber wir können aus dem Rückblick dieser Jubiläumsjahre auch lernen, dass wir Grund zur Zuversicht haben, weil wir wissen, dass wir in der Vergangenheit schon sehr große Herausforderungen gemeistert haben. Ich könnte mir vorstellen, dass es sich in dieser Krise als günstiger Umstand herausstellt, dass sich in den neuen Ländern keine großen, sondern mittelständische Strukturen entwickeln. Die Vielfalt kleinerer Einheiten könnte dazu führen, dass der in diesem Jahr unvermeidliche Rückschlag hier weniger hart spürbar wird als in großen industriellen Monokulturen.
Und vor allem: Dass wir wieder in Freiheit und in Einheit leben und zugleich in einer verantwortungsvollen und partnerschaftlichen Einbindung in die Europäische Union, die Atlantische Allianz und die internationale Staatenwelt, das hätte noch vor 25 Jahren niemand so erwartet. Wir haben Grund zur Freude und sollten sie uns auch von niemandem miesmachen lassen. Und wir haben Grund zur Dankbarkeit, zuallererst bei denen, die damals in der DDR und im Ostteil Berlins den Mut hatten, auf die Straße zu gehen, und die damit die Diktatur gestürzt und den Weg zur Einheit geöffnet haben. Die Friedliche Revolution 1989/90 ist eine der großen Leistungen der deutschen Geschichte. Ich wünsche Ihnen und uns allen eine interessante und anregende Jubiläumsveranstaltung.
[1] Aus Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17.6. 2009, zitiert nach: Materialien der Enquête-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band 1, Baden-Baden und Frankfurt/M. 1995, S. 781 f.
[2] Markus Meckel, Selbstbewusst in die Deutsche Einheit. Rückblicke und Reflexionen, Berlin 2001, S. 98; zitiert nach: Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, Die Geschichte der Jahre 1989/90, München und Zürich 2008, S. 440.

Dies ist ein genehmigter Redebeitrag von Innenminister Dr. Wolfgang Schäuble. (C)-Vermerk: www.bmi.bund.de

Über Innern Bundesministerium des 1 Artikel
Dr. Wolfgang Schäuble, geboren 1942, studierte Jura und Wirtschaftswissenschaften in Freiburg im Breisgau und in Hamburg. Seit 2005 ist der CDU-Politiker Bundesminister des Innern. Von 1984 bis 1989 war Schäuble Bundesminister für besondere Aufgaben sowie Chef des Bundeskanzleramtes, von 1989 bis 1991 bekleidete er schon einmal das Amt des Bundesinnenministers.

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