Was bedeutet Heideggers Antisemitismus für sein Werk?

Zu Lebzeiten veröffentlichte Heidegger etwa 20 Bücher. Inzwischen erscheinen die letzten der 100 Bände seiner Gesamtausgabe. Man muß schon sehr naiv sein, um angesichts dieser Textlage eine grundsätzliche Neuerung in seiner Philosophie zu erwarten. Sollte man die ganze Zeit etwas Entscheidendes übersehen haben? Natürlich nicht, und die Diskussion um antisemitische Äußerungen in seinen „Schwarzen Heften“ wird das einmal mehr zeigen: Die Verteidiger Heideggers werden seinen Antisemitismus leugnen, die Gegner den Antisemitismus als endgültig erwiesen ansehen, eine dritte Gruppe auf die Stärken und Schwachpunkte seine Philosophie verweisen – und jede wird sich in ihrer bisherigen Interpretation bestätigt sehen. Das gilt natürlich auch für folgende Anmerkungen.
Zweifelsohne eine unangenehme Überraschung: Antisemitismus nicht nur in privaten Äußerungen, sondern als Teil von Heideggers Philosophie! In den dreißiger und vierziger Jahren schreibt er über das entwurzelte, heimatlose Weltjudentum, das Ökonomie und Politik kontrolliere, im Kampf um die Weltherrschaft und gegen die deutsche Sonderrolle im philosophischen Geschick des Abendlandes stehe. Erstaunlich nur: Warum kommt das erst jetzt zum Vorschein? Wir wissen doch: Heidegger wollte den Führer führen. Wieso hält Heidegger, der im Dritten Reich auch politisch wirken will, seine antisemitische Einstellung, nach manchen seine wahre Gesinnung, zurück? Wieso gibt es weder in den vielen Reden Heideggers zur Zeit des Dritten Reichs noch in den Vorlesungen antisemitische Bemerkungen? Andererseits: Offensichtlich wirkte er beim „nationalen Aufbruch“ mit, und das hat ebenso offensichtlich etwas mit seiner Philosophie zu tun. Aber was?
In „Sein und Zeit“, seinem Hauptwerk von 1927, verabschiedet Heidegger das traditionelle Philosophieren, das von höheren, angeblich ewigen Prinzipien oder Werten aus die Welt erklären wollte. Heidegger verzeitlicht rigoros alle Phänomene einschließlich des Menschen. Sein Hauptargument: die Sterblichkeit. Und der Mensch ist nicht nur einfach ein sterbliches, endliches Wesen, sondern er weiß auch um seine Sterblichkeit. Warum? Weil er als Seinsverständnis existiert, weil er, darin liegt seine Auszeichnung, Sprache hat. Nach Heidegger geht es nun darum, die Sterblichkeit, die Endlichkeit aller Bemühungen ohne Ausflüchte, ohne angebliche ewige Werte dies- oder jenseits ernst zu nehmen. Dazu muß man sich dieser Endlichkeit selbst aussetzen wollen – was man normalerweise vermeidet, macht die Endlichkeit doch den Sinn allen Tuns fraglich. Man muß aus dem Alltag herausgerissen werden bzw. sich selbst aus dem Alltag herausreißen, um zu sehen, wie es mit einem selbst steht. Man muß etwas wollen, was man normalerweise nicht will, und dazu muß eine quasi äußere Instanz im Menschen selbst ihm etwas zu verstehen geben. Diese Instanz ist nach Heidegger das Gewissen, auf das der Mensch hören soll, denn es ruft ihn dazu auf, so zu existieren, wie er wirklich ist, nämlich als zeitliches, endliches, vom Tode bedrohtes Wesen.
Dieser Analyse von Heidegger wird man weitgehend folgen können – mit der Einschränkung, daß es nicht unbedingt glücklich macht, wenn man seine Endlichkeit ernst nimmt und es deshalb vielleicht besser ist, wenn man diesen Gewissensruf nicht oder nicht so häufig hört. Heidegger war eine solche Überlegung fremd: Für ihn war die Philosophie selbstredend sinnvoll, das höchste Tun, hatte ganz traditionell eine höhere Aufgabe: Es galt, das Wissen um die Endlichkeit nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich zur Geltung zu bringen. Was aber bedeutet es, die Endlichkeit allen Tuns ernst zu nehmen? Man darf sich dann ja quasi nie festlegen. Genau in diesem Sinne betont Heidegger 1933 das Dunkle und Unbewältigte der Situation, das ihn gerade anziehe. Jetzt galt es, Einfluß zu nehmen und die Bewegung in die richtige Richtung zu steuern – wobei er allerdings mehr Pathos als praktikable Vorschläge zu bieten hatte, und dieses Pathos schloß an nationale, das Deutsche auszeichnende Schlagworte an.
Warum das? Nach „Sein und Zeit“ hatte Heidegger bemerkt, daß an seinem Grundansatz etwas problematisch blieb. Wenn er alles verzeitlichte, so traf das letztlich auch seine eigene Philosophie. Auch sie war standort- und zeitgebunden, ging von einem besonderen Weltverständnis aus – so wie etwa die mittelalterliche Philosophie von einer religiösen Weltsicht. Wie kann man aber wissen, welcher Weltsicht man selbst folgt oder welche zur eigenen Zeit vorherrscht? Wie vorher auf das (individuelle) Gewissen, so gilt es nach Heidegger jetzt, auf den immanenten Sinn der Geschichte zu hören. Die herrschende Weltsicht ist etwas Vorgegebenes, das man erst enthüllen muß, und dazu muß man sie „gehört“ haben. Dieses Hören geht häufig schief, wie viele, nach kurzem schon überholte Zeitdiagnosen zeigen. Und was Heidegger hört, fand schon immer wenig Zustimmung.
Er hört vor allem – das ist die Grundkonstante durch sein ganzes Werk – Verfall, Düsternis, „dürftige Zeiten“ aufgrund einer „universalen Seinsvergessenheit“. Sie gilt es zu überwinden. 1933 glaubt er trotz dem „Gebrodel und dem unklaren Zeug der Nazis“ an eine diesbezügliche Mission und „innere Wahrheit und Größe“ des Nationalsozialismus – die danach vom kruden Biologismus, sonstigen unfähigen Zeitgenossen, an den Universitäten von den alten, intriganten Professoren korrumpiert wurden. Woran er weiterhin festhält, ist eine besondere Mission der Deutschen, denen es obliege Hölderlin zu hören, der die „Seinsvergessenheit“ enthüllt – überhaupt sei die deutsche Sprache besonders für die Philosophie ausgezeichnet, deshalb die Deutschen das „metaphysische Volk“.
Die Seinsvergessenheit zeigt sich für Heidegger konkreter als technisches Denken. Dieses herrscht nach dem politischen Scheitern der deutschen Mission unumschränkt. Ob Nationalsozialismus, Bolschewismus, „Amerikanismus“ – alles gilt ihm jetzt als Ausdruck des gleichen technischen Denkens. „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.“ Das Ende des Krieges hat „nichts geändert, nicht Neues, im Gegenteil.“ Dagegen bemühte etwa Umberto Eco ungern das „demagogische Argument“, daß das Ende des Krieges unter anderem die Judenverfolgung beendete. Auch die Einebnung aller politischen Differenzen auf die eine technische Weltsicht wurde schon früh beklagt. Und sein „anderes Denken“, das einen „anderen Anfang“ begründen sollte, wurde von ihm nie positiv, sondern nur als nicht-technisch mit Schlagworten wie Gelassenheit beschrieben – ein plausibles Abgrenzungskriterium zum technischen Denken konnte er, da er es universal herrschen sah, nicht nennen (es fällt deshalb auch nicht schwer, es bei ihm selbst zu finden).
In diesen Zusammenhang reiht Heidegger nun auch das „Weltjudentum“ ein – als eine weitere Verfallsform des Denkens. Biologisch-rassistisch begründet er das nicht. Im Gegenteil: „Die Juden leben bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip.“ Sprich: Die Juden sind dem technischen Denken besonders und deshalb dem Rasseprinzip verfallen (ganz böse dann die Folgerung: Sie wollen aber nicht, daß es auf sie Anwendung findet – lies: es geschieht ihnen selbst recht, was jetzt passiert). Natürlich ist das Unsinn. Aber es erklärt, warum er diesen „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ geheim hielt: Die Nazis haben dasselbe falsche Prinzip! Und nach dem Zweiten Weltkrieg waren solche Gedanken nicht mehr opportun – falls er sie noch weitergepflegt haben sollte.
Eine biologische Rassentheorie kennt Heidegger nicht. Er vertritt immer einen „geistigen Antisemitismus“ – was die Sache allerdings nicht viel besser macht, wenn man die Juden als Träger des jüdischen Geistes identifiziert, anstatt, wie es vom Sprachansatz her konsequent wäre, unter jüdischem, griechischem, deutschem oder amerikanischen Geist nur eine Geisteshaltung zu verstehen, der man unabhängig von religiösen, nationalen, rassischen Eigenschaften folgen kann. Wenn man die Geisteshaltung an einen festen Träger bindet, muß man Kriterien zu seiner Identifikation angeben – und genau deshalb finden sich auch Äußerungen Heideggers, die völkische Kriterien verwenden, wie in der Rektoratsrede, wo er von „erd- und bluthaften Kräften“ spricht, die es zu bewahren gelte. Das sind letztlich – ganz einfach – Selbstwidersprüche. Und was macht man, wenn sich ein Philosoph selbst widerspricht? Man sagt ihm: Lieber Heidegger, schau doch einmal in deine eigenen Schriften, wo du zeigst, warum der Biologismus, ja jede allgemeine Kategorisierung von Menschen, die ihn auf bestimmte Eigenschaften festlegt, unhaltbar bzw. einseitig ist. „Der Mensch“ ist nach dir durch Seins- oder Sprachverständnis, „inhaltlich“ durch das Wissen um die Sterblichkeit ausgezeichnet und hat deshalb kein unveränderliches Wesen. Nur deshalb kannst du selbst davon ausgehen, daß die alltägliche Verdrängung der Sterblichkeit und die „Seinsvergessenheit“ überwunden werden können. „Natürliche“ Eigenheiten prägen das Seinsverständnis zwar mit (ein Naturvolk hat eine andere Weltsicht als der Großstädter), aber weder ist eindeutig, wie sie es prägen, noch ist es unveränderlich, und aus ihnen lassen sich keine diskriminierenden politischen oder moralischen Folgerungen ableiten. Kurz: Man wird Heidegger mit Heidegger widerlegen.
Der „seinsgeschichtliche Antisemitismus“, der keine längere Diskussion lohnt, ändert nichts an der Einschätzung von Heideggers Philosophie: Die „Daseinsanalytik“ von „Sein und Zeit“, aber auch die „Kehre“ zur Geschichte bleiben für die zeitgenössische Philosophie unverzichtbare Ansätze. Seine These der Seinsvergessenheit, die alle Unterschiede einebnet, zeigt sich hingegen einmal mehr als unplausibel, als philosophischer Aufguß kulturkritischer Vorurteile.
In jeder Philosophie spielen starke persönliche Motive und Ressentiments mit. Daran, daß sie bei Heidegger jetzt besonders zum Vorschein kommen, ist er allerdings selbst schuld. Wenig wahrscheinlich, daß er durch die Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ zeigen wollte, wie sehr man sich verirren kann. Vielleicht hatte er die antisemitischen Äußerungen verdrängt oder unter den abertausenden Seiten seiner Aufzeichnungen einfach vergessen. Wie dem auch sei – das Schweigen, das Heidegger so gerne betonte, war leider nicht seine Stärke: Er hielt jeden Notizzettel für veröffentlichungswürdig, und so kann es eben leicht passieren, daß eine für das Werk nebensächliche, aus Vorurteilen erwachsene, plakative Idee auf einmal in der Öffentlichkeit als Hauptsache gilt. Was dann nicht nur dem Werk schadet, sondern auch noch alles andere als angenehm ist, sieht man sich jetzt doch, wenn man von Heidegger aus philosophiert, mehr als zuvor schiefen Blicken und dem Verdacht ausgesetzt, eine „Nazi-Philosophie“ zu vertreten.

Über Gebert Sigbert 9 Artikel
Sigbert Gebert, Dr. phil., Dipl.-Volksw., geboren 1959, studierte Philosophie, Politik, Soziologie und Volkswirtschaft in Freiburg (Brsg.) und Basel. Lebt als Privatgelehrter in Freiburg und Zürich. Veröffentlichungen u.a. „Sinn – Liebe – Tod“ (2003), „Die Grundprobleme der ökologischen Herausforderung“ (2005), „Philosophie vor dem Nichts“ (2010).

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