„Wir haben alles, und wir haben nichts.“ oder: „Folge einfach der Wahrheit des Lebens.“

Philoktetes, ein vortrefflicher Bogenschütze und einer der Argonauten, wird auf dem Zug gegen Troja von einer Schlange in den Fuß gebissen. Die Wunde eitert heftig und verbreitet einen so unerträglichen Gestank, dass er auf den Rat von Odysseus auf der Insel Lemnos ausgesetzt wird. Hier verlebt er unter großen Qualen und Schmerzen neun Jahre in völliger Isolation. Doch ohne seinen Bogen und die Pfeile des Herakles, in dessen Besitz er ist, kann Troja nicht erobert werden. So holt man ihn im zehnten Jahr wieder zurück, heilt seine Wunde und die Vorsehung des Orakels trifft ein: Paris wird durch ihn tödlich getroffen und Philoktetes genießt fortan hohes Ansehen. So erzählt es die griechische Mythologie. Doch: „Das Unrecht kann man bekämpfen, die Einsamkeit aber ist eine heimtückische Krankheit, die nicht leicht heilt.“
Um Einsamkeit, Freiheit, um Familie und deren seelenstärkende Zusammengehörigkeit, aber auch um die mythische Vergangenheit eben jener griechischen Sagengestalt geht es in Carmine Abates neuem Roman, der tief im italienischen Süden angesiedelt ist. Dort in der Stiefelspitze liegt eine hügelige, wilde und noch immer kaum berührte Landschaft mit versteckten Buchten, einzigartigen Stränden und kristallklarem Wasser. Doch in dieser Region des Mezzogiorno ist nicht alles golden was glänzt. Denn Kalabrien ist äußerst kontrastreich und keine leichte Kost. Schönes und Hässliches liegen oft dicht nebeneinander. Bausünden an den Küsten, wirtschaftlich schlecht entwickelt und mafiöse Strukturen sind die andere Seite der Medaille. Aber so vielgestaltig wie das Land, ist seine jahrtausendealte Geschichte. Und diese verknüpft der in eben dieser Region geborene Carmine Abate in seinem 2012 mit dem „Premio Campello“ ausgezeichneten Roman auf wundervolle Art und Weise.
Angesiedelt hat er seine Familiensaga auf dem Rossarco, einem Hügel im Hinterland von Marina, der vielleicht gar eine der Städte unter sich begraben hält, die eben jener Philoktetes nach dem Trojanischen Krieg gründete, um von seiner Einsamkeit zu genesen. Denn „immer wählte er Orte von betörendem Duft, er, der zehn Jahre lang den fauligen Todesodem geatmet hatte.“, weiß Michelangelo Arcuri seiner Schwester Ninabella zu berichten. Erzählt wird aus der Sicht Arturo Cesares – genannt Rino – den Sohn Michelangelos, der sicher viele Züge Carmine Abates trägt, die Geschichte der Familie Arcuri und ihres umkämpften Landbesitzes über vier Generationen, ausgehend vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Immer die geheimnisvolle Aura einer realen Erhebung in der Nähe seines Heimatdorfes Carfizzi vor Augen, entspannt der Autor in wunderbaren Bildern und Sequenzen eine weitreichende Geschichte des schweren Überlebenskampfes der ländlichen Bevölkerung im Besonderen und der Geschichte Italiens im Ganzen. Abate zeichnet in wunderschönen Sätzen und Beschreibungen ein „mediterranes Gemälde, in einem Rahmen aus blendendem Licht“, dessen Düfte und Gerüche der Leser fast authentisch spürt, wo aber auch blutige Fingerabdrücke auf der Oberfläche zu finden sind. Er versteht es großartig, Geschichte, Tradition und Landschaft in einen kohärenten Zusammenhang sowie den inneren und äußeren Reichtum dieser Gegend in Szene zu setzen und daraus eine in sich geschlossene literarische Einheit zu bilden.
Fazit: „Der Hügel des Windes“ erweist sich als äußerst genussvolle „Mischung aus Ginster und blühendem Holunder, aus Oregano und Süßholz, aus Zistrose, Minze und wilder Malve, die die Meeresbrise in Kreisen über den Hügel blies wie eine unsichtbare Aureole“, vortrefflich von Esther Hansen ins Deutsche übertragen, die den Ton des italienischen Autors kongenial übernimmt. „Orte haben eine Anziehungskraft wie Menschen, sie verführen dich mit ihrem leuchtenden Blick, der Sprache des Windes, ihrem ungeahnten Duft.“ Carmine Abate hat diese Essenzen in wunderschöne Sprache verwandelt, welche italienische Vergangenheit und Gegenwart gekonnt verbindet. Ein Buch, das berührt und überrascht, dessen prall gefüllte Seele man atmen und dessen Geruch zwischen den Zeilen erspüren kann.

Carmine Abate
Der Hügel des Windes
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Aufbau Verlag (August 2013)
314 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3351035454
ISBN-13: 978-3351035457
Preis: 19,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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