Wolfgang Ockenfels: Das Kreuz mit Europa

Die Qual der Europa-Wahl, die wir am 25. Mai 2014 hinter uns gebracht haben, wuchs und wächst mit der Last der Sorgen und der Zahl der Parteien. Zudem fehlt es dem Europäischen Parlament an Problemlösungskompetenz und Legitimation. Trotz seiner Demokratiedefizite soll dieses Parlament in der Lage sein, den neuen Präsidenten der EU-Kommission zu nominieren, von der aber allzu viele und dabei zweifelhafte Regulierungen ausgehen. Zum Beispiel hat dieses Gremium kürzlich die Forderung der europaweiten Bürgerinitiative „One of Us“ kaltschnäuzig abgewiesen, einen Finanzierungsstopp für Embryonenforschung und Abtreibung zu bewirken. Die Petition, unterstützt von Papst Franziskus und sogar von „zahlreichen“ deutschen Bischöfen, hatte immerhin 1,72 Millionen Unterzeichner gefunden.
So ein Kommissions-Präsident könnte einen gewaltigen Einfluß ausüben. Weshalb es nicht verwundert, daß das Amt zum Gegenstand der Begierde jener Spitzenkandidaten geworden ist, die sich um dieses Amt beworben haben, um der sonst als langweilig empfundenen Wahl eine gewisse Spannung zu verleihen.
Der sozialdemokratische Spitzenkandidat hieß Martin Schulz. Er symbolisiert so etwas wie den „häßlichen Europäer“. Nach seinem stolzen Bekunden: „73 Prozent der Bundesbürger kennen mich!“ wäre die bescheidene Nachfrage erlaubt gewesen: Kannten sie auch seine Ansichten und Absichten? Was hat er etwa zu sagen gehabt über den EU-Zentralismus, über das Verschwinden der Subsidiarität, über die simulierte Demokratie, über den „geretteten“ Euro, über die wachsende Verschuldung, über die Sozialisierung dieser Schulden, über die Massenarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Ländern?
Alles halb so schlimm, solange die Deutschen davon profitieren. Hauptsache uns geht’s Gold. Das war der substanzlose Kern jener populistischen Aussagen, die von den etablierten Parteien in Deutschland zu hören waren. Die Lösung bedrohlicher Probleme schien in diesem Wahlkampf kaum derRede wert zu sein. Interessant für Christen, die sich bisher „für Europa“ (inklusive EU und Euro) in besonderer, d.h. konservativer Weise erwärmt haben, dürfte aber das sein, was Herr Martin Schulz kurz vor der Wahl in einer Fernsehdebatte von sich gab.
Natürlich ist er – wie alle populistischen Phrasendrescher – für „mehr Europa“, als ob Europa eine Frage der Quantität, nicht der Qualität wäre. Im qualitativen Sinne – sich dabei disqualifizierend -, sprach er sich dafür aus, Kreuze und andere religiöse Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Jeder solle persönlich seinen Glauben zeigen können, der öffentliche Ort jedoch müsse „neutral“ sein, da dort jeder ein Recht habe zu sein. Es gebe in Europa „das Risiko einer sehr konservativen Bewegung zurück“, dies müsse im Sinne der Antidiskriminierung „bekämpft“ werden.
Für diese Klarstellung schulden wir Herrn Schulz vielen Dank. Sein Programm der Antidiskriminierung diskriminiert vor allem Christen, die noch „sehr konservativ“ sind und das europäische Vertragsrecht beachten. Demnach bleibt es Sache der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, das Kirche-Staat-Verhältnis und die Präsenz religiöser Symbole im öffentlichen Raum zu regeln.
Der linkslaizistische Zentralismus ist schon seit geraumer Zeit dabei, die rechtlichen Grundlagen Europas zu zerstören. Und er ist mit seinen notorischen Vertragsbrüchen, pardon: mit seinen progressiven, geschichtsphilosophisch von Jürgen Habermas untermauerten Rechtsverdrehungen, erfolgreich dabei, das „europäische Projekt“ insgesamt zu unterminieren. Das diskurstheoretische Prozeßdenken läuft aber schließlich auf die Geltung der demokratischen Mehrheitsregel hinaus. Aber wer oder was ist dieses europäische Volk, von dem die Herrschaft ausgehen soll? Und wenn sich die Herrschaft neuer Mehrheiten schließlich doch gegen die der etablierten Mehrheit wenden sollte? Umso schlimmer für das Demokratieprinzip! Was ist, wenn das nationale Wahlvolk, dieser blöde Tölpel, dieser gemeine Pöbel, in vielen europäischen Ländern wie Frankreich und Großbritannien, nicht so abstimmt, wie es sich die politisch-intellektuellen Eliten und die Massenmedien ausgedacht hat? Pech gehabt.
Es sei der „Populismus“, speziell der „Rechtspopulismus“ gewesen, der dieses schöne europäische Demokratieexperiment verdorben habe, heißt es in den vorherrschenden Parteien und den ihnen angeschlossenen Medien. Als ob nicht gerade sie es gewesen sind, die mit einer ungeheuren Propagandawelle mögliche und auch notwendige Kritik am „europäischen Projekt“ zu überspülen versucht haben. Die Klage über den angeblichen Populismus richtet sich letztlich gegen ihre eigenen Urheber, deren Populismus freilich nicht besonders erfolgreich war. Unkritische, verführerische, manipulatorische Demagogie kann man auch den herrschenden Parteien vorwerfen, vor allem im Wahlkampf.
Wenn man aber Populismus so versteht, daß er sich den einfachen, gewöhnlichen Leuten gegenüber verständlich zu machen versucht und dabei ihre realen Sorgen, ihre faktischen Bedürfnisse und auch ihre Wertvorstellungen für beachtenswert hält, ist es unter demokratietheoretischen Aspekten völlig irrelevant, ob es sich um „rechte“ oder „linke“ oder sich selber als „Mitte“ deklarierende Positionen handelt. Viel wichtiger wären die ethischen Fragen, die sich „im Westen“ erheben, wenn es um die rechtsstaatliche Legitimation der Demokratie geht. Es ist schließlich der Rechtsstaat, der die Mehrheitsregel eingrenzt und relativiert. Was aber, wenn ethisch-rechtliche Grundbegriffe wie Menschenwürde und Menschenrechte progressiv zersetzt werden?
Ein EU-Europa, das ein „Recht auf Abtreibung“ proklamiert und auch finanziert, wäre christlich nicht zu rechtfertigen. Und auch nicht die Duldung aktiver Sterbehilfe bei Behinderten, Alten und Kindern, was eklatant gegen das Sittengesetz verstößt. Dagegen müssen wenigstens die Christen Widerstand leisten. Bei Abtreibung und Euthanasie tritt nun wirklich der Ernstfall ein. Auf die Kirche und ihre Caritas kommen europaweit einige lebensbedrohliche Zumutungen zu.

(c) die-neue-ordnung.de

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Über Wolfgang Ockenfels 43 Artikel
Prof. Dr. Dr. Wolfgang Ockenfels, geboren 1947, studierte Philosophie und Theologie in Bonn und Walberberg. 1985 erhielt er eine Professur für Christliche Sozialwissenschaften mit den Lehrgebieten Politische Ethik und Theologie, Katholische Soziallehre und Sozialethik, Wirtschaftsethik sowie Familie, Medien und Gesellschaft an der Theologischen Fakultät Trier. Ockenfels ist zudem Geistlicher Berater des Bundes Katholischer Unternehmer BKU und Chefredakteur der Zeitschrift "Die Neue Ordnung" in Bonn. Er gehört zum Konvent Heilig Kreuz der Dominikaner in Köln.

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