Zeitozeane oder: „Alles ist mit allem verbunden“ (John Wheeler)

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts Albert Einstein, Max Planck, Nils Bohr und Louis de Broglie die ersten Grundlagen für die spätere Quantenmechanik legten, ahnte man noch nicht, dass diese das bis dahin gängige physikalische Weltbild völlig auf den Kopf stellen würden und deren Erkenntnisse direkt zum „Quantensprung“ und damit verbunden, einem erweiterten Bewusstsein des Mensch-SEINS führen würden. Rätselhafte Begriffe wie Quantenverschränkung, -fluktuation und Unschärferelation geistern seitdem durch Raum und Zeit. Restlos erfassbar sind sie bis heute nicht. Werner Heisenberg brachte dies in seinem Werk „Physik und Philosophie“ (1958) treffend auf den Punkt: „Aber die existierenden wissenschaftlichen Begriffe passen jeweils nur zu einem sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit, und der andere Teil, der noch nicht verstanden ist, bleibt unendlich.“
Was hat dies nun mit dem belletristischen Debüt von Katharina Hartwell zu tun? Sehr viel sogar. Denn auch bei der 1984 in Köln geborenen Autorin liegt permanent etwas hinter Grenzen. Und trotzdem ist Alles mit allem, wenn auch auf diffuse Art, miteinander verbunden.
„Alles ändert sich. Das Gute und das Schlechte.“, stellt Marie, die Protagonistin, aus deren Sicht der Roman erzählt wird, fest. Sie, die Ängstliche, die Außenseiterin, die sich eher zurückzieht, als ins pralle Leben einzutauchen, die sich „als Verschwendung von Raum, als ein sperriges Zuviel“ sieht, hadert mit dem Leben und droht in der großen Woge einer Depression zu versinken. Doch dann reißt die Liebe in Gestalt des Kunststudenten Jan die fast dreißigjährige Doktorandin im wahrsten Sinne des Wortes zu Boden. Wieder aufgerappelt kommt nun tatsächlich so etwas wie verlässliche Beständigkeit in das bis dato konturlos verschwommene Leben von Marie. „Wir kannten und sahen dieselbe Welt.“ Eine gewisse Skepsis wird bei beiden dennoch nicht restlos ausgeräumt. Ihrer beider Sensibilität für die steten der Wechsel der Welt ist besonders stark ausgeprägt: „Sie war voller Risse und Falltüren und Unsicherheiten und Abgründe.“
Von Tiefen und Schattenreichen, von Zweifeln, Wurzellosigkeit und Bedrohungen berichtet der ungewöhnliche Roman von Katharina Hartwell in neun fantastischen und einer kumulierenden in der Realität angesiedelten Geschichte. Diese tauchen teilweise in die Vergangenheit ein oder aber nehmen deutlich visionäre, teils futuristische Züge an. Wie ein Zahnarzt gelingt es der Autorin „durch die Löcher und bis in die Abgründe im Kopfinneren [ihrer Protagonisten] zu blicken“. Der Leser betritt zum Beispiel eine mysteriöse Stadt, in der die physikalische Errungenschaft der Teleportation außer Kontrolle geriet und in der sich nun Häuser und ihre Bewohner willkürlich materialisieren. Er liest von einer Prinzessin, die eine Ritterausbildung absolviert, um einen gefangen gehaltenen Prinzen im kalten Winterwald zu befreien. Oder von einem im Meer lebenden, geheimnisvollen Taucher, der von Zeit zu Zeit Menschen auf den Grund zieht, so dass sie ihm Gesellschaft leisten. Eine andere Geschichte wiederum berichtet aus einer seit Jahren von tiefen dunklen Wolken verhangenen Küstenstadt, deren Bewohner nach und nach von einer geheimnisvollen Krankheit befallen werden. Ein über den Wolken verankertes Luftschiff soll die Kranken mittels Lichttherapie heilen. Der Ghostboy wiederum, Hauptattraktion eines fahrenden Zirkus, stirbt in jeder Veranstaltung in einem gefüllten Wassertank, um nach endlosen Minuten ohne Herzschlag wie von Zauberhand die Augen aufzuschlagen. Um geschlossene Behälter geht es auch in Geschichte neun, in der in einem neu entwickelten Verfahren die Seelen der Verstorbenen – ihr Bewusstsein – in einem speziell entwickelten Verfahren konserviert werden, um sie hernach entsorgen zu können. Spirithographie nennt sich diese Transformationstheorie.
Katharina Hartwell ist mit ihrem Text ein beeindruckendes, ja großartiges literarisches Debüt gelungen. Ein Buch, das wie eine riesige, unaufhaltsame Welle, über den Leser und das Geschehen hinwegschwappt und alles, was sie dabei überspült, verändert. Aber, so stellt Marie fest, „die Veränderung ist ja schon in uns, ist in unseren Körpern angelegt, die zerfallen, sich neu aufbauen, sich reparieren und wieder zersetzen und endgültig zersetzen.“ Der Grundtenor des flüssig und gut lesbaren Textes ist eher düster, als optimistisch, der Inhalt eher vage, als klar geformt. Ein Werk, das sich gängigen Vergleichen entzieht. Rätselhaft, ja beinahe magisch, zieht es den Leser immer tiefer in seinen Bann. Welche Bedeutung haben die erzählten Geschichten? Auf welche Art hängen die ständig präsenten Gemeinsamkeiten und Verflechtungen zusammen? In jeder der zehn Erzählungen kehren bestimmte Gegenstände und Personenkonstellationen wieder, sei es zum Beispiel ein zusammengefalteter Zettel, ein mysteriöser Wassertank, ein verfallenes Haus, ein düster-drohendes, schwarzes Individuum, das als Kern einer „gebündelten Leere“ fungiert. Dinge sind nicht recht greifbar, undurchsichtig. Immer wieder verschwinden Personen oder scheinen sich selbst entrückt. Ausgefranst und nicht klar definierbar wabern Schemen und Schatten durch den Raum, analog der mysteriösen Zwillingsteilchen, deren „geisterhafte“ Verbindung von Albert Einstein als „spukhafte Fernwirkung“ bezeichnet wurde. Etwas Unvorhergesehenes und Unaufhaltsames ist omnipräsent. Himmel und Meer verwischen ständig neu gezogene Grenzen. „Wie ein kompliziertes Puzzle, eine Anordnung eng anliegender Plättchen. Verschiebt sich eines, verschieben sich auch alle anderen, nichts bleibt ohne unmittelbare Auswirkung. (…) Alles könnte in etwa so, vielleicht aber auch ein wenig anders sein. (…) in dem Gewebe dieser Welt, fühlst du die Schichten, die Wände, bis du etwas erkennst, ein Pulsieren, eine Wärme, ein geheimes, deinen Augen noch verborgenes Zentrum.“ Letztendlich schwebt über allem die große Frage: Wer sind wir? Wohin gehen wir? Und: Kann man durch Erzählen die Vergangenheit begreifen lernen? Denn eines wird zunehmend präsent: „Dass man eine Heimat auch verlieren kann, ohne sie zu verlassen; während man noch dort ist und an allem festhält, kann sie einem entgleiten.“
Fazit: „Das Leben ist ein raues, ein stürmisches, ein gefährliches, ein unendlich weites, ein wildes, viele Geheimnisse und viele Gefahren und viele Riffe beherbergendes Meer. Und es gibt nicht viele milde Tage, und es gibt so viele Möglichkeiten, Schiffbruch zu erleiden. Und auf jeden Sturm folgt der nächste und auf jede Untiefe eine weitere. Und es ist eine Kunst, eine Herausforderung, eine unbedingte Notwendigkeit, jeden Tag und immer wieder aufs Neue nicht unterzugehen.“ „Das fremde Meer“ offenbart einen Text, der gleichzeitig erschüttert und fasziniert, der den Atem anhalten lässt und zu Tränen rührt, ohne pathetisch zu werden. Ein großartiger Roman, dessen Handlung sich nur langsam formt und schier auf den letzten zwei, drei Seiten den Knoten entwirrt. Ein Buch, das den Leser nach dem Zuschlagen der letzten Seite atemlos zurücklässt, in dessen Wellen er allerdings noch einmal eintauchen sollte, um die immense Vielschichtigkeit vollends zu erfassen.
Katharina Hartwell: Eine Autorin, die man sich unbedingt merken sollte.
Ich bin begeistert!

Katharina Hartwell
Das fremde Meer
Berlin Verlag (Juli 2013)
571 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 382701137X
ISBN-13: 978-3827011374
Preis: 22,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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