Jaroslav Rudis. Winterbergs letzte Reise.

Foto: Stefan Groß

Da haben sich zwei gefunden, notwendigerweise: der Krankenpfleger Jan Kraus aus Vimperk, dem einstigen Winterberg im früheren Sudetenland, und der hochbetagte Sudetendeutsche Wenzel Winterberg aus Reichenberg, Jahrgang 1918. Notwendigerweise, wie der unermüdlich plappernde Kraus, 1986 aus der damaligen kommunistischen Tschechoslowakei geflohen, seinen Lesern mitteilt, denn er habe die Aufgabe, den apathischen, halb gelähmten Patienten sanft aus dem Leben zu begleiten. Doch Pustekuchen! Der im ehemaligen Sudetenland aufgewachsene Jan erzählt dem pflegebedürftigen Winterberg so wunderbare Geschichten aus seiner Heimat, dass der nicht nur aus seiner Todes-Lethargie erwacht, sondern mit seinem Krankenpfleger auf die letzte große Reise quer durch Mitteleuropa geht. Es ist eine ziemlich anstrengende Reise per Eisenbahn von Berlin über Reichenberg, Budweis, Pilsen, Linz, Wien, Sarajevo und zurück durch Berlin nach Peenemünde. Es ist eine Rundreise, die dann und wann unterbrochen werden muss, weil Wenzel Winterberg unter Altersschwäche leidend, seine Hotelaufenthalte verlängern muss. Doch seine Neugier auf die letzte Begegnung mit den Zeugen der mitteleuropäischen Geschichte ist ungebremst. Schlachtfelder will er besichtigen, historische Orte, wo sich Kaiser mit Mätressen vergnügten und historische Verträge unterzeichnet wurden, wo die K.u.K-Monarchie ihre Schlösser hinterließ, wo die Nazis in ihren Konzentrationslagern mordeten. Und Wenzel redet wie ein Wasserfall, so wie Jan, der sich jedoch meist in inneren Monologen über seinen sonderbaren Reise-Patienten lustig macht, ihn aber auch bewundert. Denn Wenzel kennt sich aus in dieser geschichtsträchtigen Landschaft, obwohl er zur Sicherheit seinen Baedeker, Jahrgang 1913, ständig bei sich trägt. Was sich übrigens als nicht notwendig erweist, weil er dessen Inhalt beinahe auswendig kennt.

Thematischer Ausgangspunkt ihrer großen Reise ist das Schlachtfeld in der Umgebung von Königgrätz, wo am 3. Juli 1866 die Königlich-Preußische Armee auf das Österreichisch-Kaiserliche Heer traf und die preußische Vorherrschaft in Deutschland entschieden wurde. Und auf diesem schneebedeckten Schlachtfeld, das die beiden zu Fuß und auf einem Traktor durchqueren, gerät Wenzel in einen Redeschwall. Er spult dokumentarische Fakten vom Ablauf des Gemetzels mit über 50 000 Toten herunter, mischt sie mit unheimlichen Geschichten über die Geister der Toten. Je länger dieser manische Monolog dauert, desto deutlicher zeichnet sich ein schemenhafter Prototyp von historischen Ereignissen ab. Er wiederholt sich unter diversen Konstellationen und hinterlässt bei den Noch-Lebenden eines wirres Knäuel an Fragen und Vermutungen. Nicht so bei Winterberg. Er kennt sich aus in seiner mitteleuropäischen Geschichte, er, ein ehemaliger Eisenbahnangestellter der deutschen Reichsbahn weiß, wer die Weichen in der jüngsten Geschichte gestellt hat.

Doch bevor nun die eigentliche Fahrt mit der Eisenbahn beginnt, erfährt der Leser etwas über die symbolische Bedeutung einer Überfahrt aus der Sicht der beiden Reisenden. Sie erweist sich sowohl als Metapher für den Übergang vom Leben in den Tod als auch als konkrete Vorbereitung auf die Fahrt zu den wichtigsten Knotenpunkten der letzten Reise von Herrn Winterberg. Sie führt zunächst zu einem konkreten Gebäude, das als Ort für Leichenbestattungen dient. Es ist die berühmte Feuerhalle in Reichenberg, dem heutigen Liberec, das die beiden Reisenden von Berlin aus mit der Eisenbahn erreichen. Dieses Krematorium, 1918 eröffnet, also dem Geburtsjahr von Wenzel Winterberg, dient dem Erzähler als Ort der Erinnerung an seinen Vater, der hier eingeäschert worden sei, wie viele andere, die vor ihm als Feinde oder Freunde der Tschechoslowakei in Reichenberg beerdigt wurden. Auf diese Weise bildet sich rund um die ausschweifenden Erzählungen von Wenzel ein Ausschnitt aus der konfliktreichen sudetendeutschen Geschichte heraus. Sie verdichten sich während der kurzen Abstecher in den Orten Turnau, Altpaka, Josephstadt und natürlich wieder in Königgrätz.

Es spricht für die konstruktive Phantasie des Erzählers, dass er auch die Perspektive von oben in die Wahrnehmung Mitteleuropas in seine Betrachtungen einbezieht. Es ist die Figur eines Engländers, der während des II. Weltkriegs als Navigator in Royal Air Force arbeitete. Ihn, der so gut Deutsch sprach und den er in einer Kneipe im Berliner  Kreuzberg vor etwa 50 Jahren getroffen habe, zitiert Winterberg immer wieder. Das sei einer gewesen, der wissen wollte, warum „die Deutschen das ganze Europa in eine große brennende Feuerhalle verwandelt haben.“ (182)

Je länger die Reise der beiden dauert, je mehr Museen, Kneipen, Denkmäler, Hotels sie besuchen, umso anstrengender die Reise mit der Eisenbahn wird, je häufiger der Krankenpfleger sich um seinen greisen Patienten kümmern muss, desto spannender wird diese Reise durch viele Grenzen hindurch, die alle noch vor dreißig Jahren mit Stacheldraht und Minenfeldern verbarrikadiert waren. Doch die Auswirkungen der Reise in die Vergangenheit sind gravierend. Winterberg fiebert und hustet, verliert dann und wann die Erinnerung, wacht wieder auf. Das gute tschechische Bier, angewärmt, und die bewährte Hühnersuppe bringen ihn wieder auf die Beine. Denn die böhmisch-mährische Rundreise von Jitschin nach Budweis und, auf ausdrücklichen Wunsch von Winterberg, über Vimperk/Winterberg, nach Pilsen wartet auf ihn. Wenzel will unbedingt den Geburtsort seines Krankenpflegers kennenlernen. Doch der weigert sich dort auszusteigen, weil er die Erinnerungen an seine Heimatstadt nicht auffrischen will, nicht belasten möchte mit seinen Erlebnissen in der kommunistischen Diktatur, der militärischen Besetzung seines Landes im Jahr 1968.

Wenzel Winterberg aber drängt seinen Krankenpfleger zur Weiterreise nach Linz, Wien, nach Sarajevo, zurück über Ljubljana, zum Simmering, nach Brünn und Berlin. Mit einem überraschenden Intermezzo in Wien, wo plötzlich Silke, die Tochter von Winterberg, auftaucht, und Jan ein Geheimnis offenbart. Der eigentliche Grund für die wagehalsige Reise ihres Vaters sei Lenka Morgenstern, eine Jüdin, in die er einst verliebt war, die Friedhofsspaziergänge so geliebt habe, mit der er sich in Wien getroffen habe, die wahrscheinlich in einem KZ ums Leben kam. Mit ihr habe er die Hochzeitsreise machen wollen, aus jedem dieser Städte, die sie jetzt besuchen, habe sie ihm einst eine Ansichtskarte geschickt. Spätestens in dieser Romanpassage zeichnet sich der mythopoetische Charakter des Reiseromans ab Es ist eine gelungene Mischung, bestehend aus imaginierten Geschichtsabläufen und konkreten persönlichen Erlebnissen, wahrgenommen aus der Perspektive von zwei Protagonisten, deren Narrationen sich überlagern, sich widersprechen und in der romantisch-verklärten Vision von einem Reh in einem deutschen Winterwald enden. In ihm verschwindet der zur legendären Gestalt gewordene Wenzel Winterberg, ohne dass sein Krankenpfleger ihn persönlich in das Reich der Toten überführen kann. Er ist der Patient aus Mitteleuropa, der sein hundertjähriges Leben, geprägt von der Weimarer Republik, von der Nazi-Diktatur und der geläuterten deutschen Republik, in seinen halluzinierenden, visionären und realen Wahrnehmungen reflektiert.

Mit dem vorliegenden Mitteleuropa-Reiseroman ist Jaroslav Rudiš ist großer narrativer Wurf gelungen. Die von skurrilen Dialogen zwischen den beiden Protagonisten und historisch verbürgten Aussagen des Baedeker-Historikers pendelnden Erzählstränge, in denen vor allem die rhetorisch brillanten Wiederholungen des personalen Erzählers überraschen, vermitteln den Handlungen eine diebische Freude am Tratschen und Klatschen. Diese stilistischen Eigenschaften verweisen auf die Hasek’sche Art des  humorigen Erzählens in volkstümlicher Rede. Dazu gehören auch die ständige Wiederholung von Behauptungen, die jeglichen Bezug zur Realität verloren haben und sich dennoch einer verblüffenden Authentizität erfreuen. 

Jaroslav Rudis. Winterbergs letzte Reise. Roman. München (Luchterhand) 2019, 543 S., 24.- EURO, ISBN 978-3-630-87595-8.

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