Choreografien des weihnachtlichen Neapel

Frohe – oder gar fröhliche – Weihnachten? Das war der im Dezember 2015 mit dem Kleinverlagspreis der bayerischen Staatsregierung ausgezeichneten Münchner Verlegerin Caroline Sieveking denn doch zu platt. Und zu abgegriffen. Mit ihrem ausgestochenen Buchprogramm, das sich weit und breit von der Masse abhebt und eigenwillige Wege geht, will sie nicht in vor- oder gar ausgetretenen Bahnen ziehen. Sie will das Besondere. Und titelte also italienisch „Buon Natale“, nein, noch extravaganter: „buon NATALE“ mit dem nicht weniger ehrgeizigen Untertitel „Choreografien der Neapolitanischen Weihnacht“.

Die Dame fürs Spezielle fing sich, das merkt man gleich, einen Denker ihresgleichen ein, den derzeit von seinen Freisinger Diözesanmuseumsleiterpflichten ohne sein Zutun entbundenen Theologen und Volkskundler Christoph Kürzeder ein, einen ebenso klugen wie beflissenen Experten des Exquisiten – wenigstens auf dem Gebiet der religiösen Hoch- und Volkskunst. Mit ihm „machte“ die Sieveking bereits zwei „seelenvolle“ Ausstellungskataloge, „Seelenkind“ und „Mit Leib und Seele“. Beide sind attraktiv überschriebene, nobel getextete und herausragend bebilderte, schwergewichtige Bände, die zu Standard-Werken wurden, noch bevor sie im Buchhandel so richtig Fuß fassten. Schlaue Museumsbesucher auf dem Freisinger Domberg bzw. in der Münchner Hypo-Kunsthalle griffen nämlich jeweils schon beherzt zu, als die erlesenen Produkte noch warum waren. Diese Leser hatten als Abnehmer nicht weniger eine „gute Nase“ für das Außerordentliche als die Lieferantin sie hat, die, wie sie selbst bei der Preisverleihung in Münchens Literaturhaus lachend zugab, „nicht einmal katholisch“ ist.

Die Welt des katholisch geprägten, vom Aberglauben stets auch gestreiften Volksglaubens hatte die Verlegerin aber „gepackt“, und deren eigenständige Atmosphäre des vorweihnachtlichen Neapel, die Kürzeder als Thema vorschlug, für das er eine Reihe von Experten zur Text- und Bildmitarbeit in petto hatte, kam Caroline Sieveking gerade recht. Sie schickte die besten Foto-„Choreografen“ in die Stadt der Weihnachtskrippenkünstler und ließ sie erregende Bilder einfangen, die nicht nur schmunzeln lassen, sondern einem manchmal regelrecht den Atem verschlagen ob derart skurril abseitiger Provenienz und liebenswerter Verkommenheit, dass nun auch nördlich der Alpen endlich Schluss sein darf mit dem hier seit einem halben Jahrhundert schwärenden adventlichen und Heiligabend-Kitsch, der schon unerträglich geworden ist.

Zugegeben: Auch im Neapel des 21. Jahrhunderts ist, traditionell, viel Süßlich-Abgeschmacktes rund um das Weihnachtsgeschehen auf Straßen, Plätzen, in Kirchen und Wohnungen zu finden. Es ist aber meist in seiner liebenswürdigen Naivität so anrührend, dass es leben darf und so weiterleben soll. Dafür schenkt uns Neapel seine wunderbaren geschnitzten Krippenszenerien, mit Mensch und Tier, Stall und Hirtenfeld, Gloriaengel, Volk und dem orientalisch verbrämten Aufzug der Heiligen Drei Könige. Das alles bringt das Buch in schönster Weise zusammen. Und kann, das ist die Überraschung, sogar mit etwas Einheimischem (genau: bei uns heimisch Gewordenem) aufwarten: einer bravourös vollständigen, gut erhaltenen bzw. restaurierten spätbarocken neapolitanischen Krippe, die dem Diözesanmuseum Freising gehört: 135 menschliche original bekleidete Figuren, 65 Tierfiguren. 1986 erwarb Freising dieses Glanzstück. Damit wetteifert es mit dem Bayerischen Nationalmuseum.

Das Buch bietet eine bildhafte Auswahl der markantesten und eklatantesten Figuren, allein oder in Gruppen, auch in witzigen Detailansichten – wundersam integriert in das laute, strotzende neapolitanische Leben und Weben heute. Da würden sich manche Damen und Herren von der Straße, verglichen sie sich physiognomisch mit einzelnen geschnitzten Krippenfiguren, glatt wiedererkennen. Dieter Richters Essay geht auf diese Zusammenhänge dezidiert ein. Kürzeder spürt dem „Wesen neapolitanischer Krippen“ nach. Nina Gockerell wirft einen weiblichen Blick auf die brillant-stupenden Kostüme. Man kann sich in Details vertiefen und muss bei keinem der relativ kompakt und kurz gehaltenen 7 Beiträge auf aufgeblasene Literaturbelege achten. Das Buch ist – rundweg eine Schau. Auch eine, die auf erläuternde und Atmosphäre schaffende Worte nicht ganz verzichten kann, sie aber, trotz ihrer kompetenten Einsprengsel durch einen Tierarzt aus Parma, einen italienischen Romanautor, von Kunsthistorikerinnen und einer Restauratorin, hintansetzt, um der Wirkung der Noblesse der glanzvollen Farbfotos willen. Gepriesen seien – neben dem Konzeptor Christoph Kürzeder – die Fotografen Walter Bayer, Jens Bruchhaus, Thomas Dashuber und Heike Ollertz. Nicht zu vergessen: die mutige, freistaatlich frisch dekorierte Verlegerin.

„Buon Natale“. Choreografie der Neapolitanischen Weihnacht. Hrsg. v. Christoph Kürzeder, Diözesanmuseum Freising, 176 Seiten, 134 Abbildungen, 39,90 Euro, Sieveking Verlag, München 2015

Über Hans Gärtner 456 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.

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