Das Buch der Stunde. Der Roman „Die Pest“ von Albert Camus in den Zeiten der Corona-Pandemie

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Bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie war der Roman „Die Pest“ von Albert Camus ein Bestseller. In der ARD-Reihe „Klassiker der Weltliteratur“ zählt sein Roman zu den berühmtesten der Weltliteratur. Das 1947 erstmals auf Französisch erschienene Buch erreichte alleine in der französischen Sprache eine Auflage zwischen vier und fünf Millionen Exemplaren. Es ist in fast vierzig Sprachen übersetzt worden. Wie der Buchtitel unschwer vermuten lässt, geht es in dem Roman um die Pest und damit darum, was Seuchen und Epidemien für das menschliche Leben bedeuten. Nach Ausbruch der Corona-Pandemie stieg die Nachfrage nach Camus‘ Roman fast ebenso exponentiell an wie die Zahl der Infizierten. In fast allen europäischen Ländern war das Buch kurzfristig ausverkauft. Der Rowohlt-Verlag, der eine deutsche Übersetzung seit dem Jahr 1950 herausgibt, hat kürzlich die 90. Auflage gedruckt. Was sind die realen Hintergründe für eine so außergewöhnliche Nachfrage nach einem Roman, der bereits vor fast achtzig Jahren geschrieben wurde?

Was macht die Seuche mit den Menschen?

Antworten der großen Weltliteratur

Eine Seuche oder Viruspandemie, die Zehntausenden oder Hundertausenden von Menschen das Leben kostet, ist für die betroffene Bevölkerung eine schwere Krise oder geradezu eine Katastrophe. Seuchen sind seit Jahrhunderten immer wieder aufgetreten und die Pest ist ein besonderes Mahnmal dafür. Es gab bereits in den vergangenen Jahrhunderten große Werke der Weltliteratur, die den Umgang mit und die Auswirkungen von Seuchen beschrieben, z.B. „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio aus dem 14. Jahrhundert oder der Roman „Die Verlobten“ von Alessandro Manzoni, der die Pest in Mailand aus dem Jahr 1665 darstellt. Im 20. Jahrhundert haben sich drei weltbekannte Schriftsteller, die schließlich mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurden, mit Seuchen auseinandergesetzt. Im Jahr 1911 erschien die Novelle „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann, die die Cholera-Epidemie in Venedig zum Inhalt hat. Im Jahr 1947 folgte der bereits erwähnte Roman „Die Pest“ von Albert Camus. Der kolumbianische Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez veröffentlichte im Jahr 1985 den Roman „Die Liebe in Zeiten der Cholera“. Alle drei Erfolgsromane wurden verfilmt und zu preisgekrönten Filmklassikern.

Entstehungsgeschichte des Romans „Die Pest“

„Die Pest“ ist der Roman, an dem Albert Camus am längsten geschrieben hat. Die großen Romane, Dramen und Essay-Bände, für die Albert Camus weltberühmt geworden ist, hat er alle innerhalb von zehn Jahren geschrieben (Radisch 2013, Csef 2014). Der berühmte Essay-Band „Der Mythos des Sisyphos“ erschien auf Französisch im Jahr 1942 und der letzte große Essay-Band „Der Mensch in der Revolte“ im Jahr 1951. „Die Pest“ markiert in der Werkgeschichte von Camus, die in drei Phasen eingeteilt wird, den Übergang von der ersten Phase des Absurden zur zweiten Phase der Revolte (Csef 2019). Albert Camus nannte die Jahre, in denen er seinen Erfolgsroman „Die Pest“ schrieb, seine „Pest-Jahre“. Sie dauerten von 1942 bis 1947, stehen also in der Mitte seines kurzen dichterischen Schaffens. Biographisch waren diese Jahre in vielfacher Hinsicht eine für ihn sehr schwierige Zeit: Er lebte in Paris, hatte sich der Widerstandsgruppe Résistance gegen die deutsche Besatzungsmacht angeschlossen und war Redakteur der Widerstands-Zeitschrift „Combat“. Hätten ihn die Nazis damals in Paris erwischt, wäre er wohl umgebracht worden. Gleichzeitig war er von seiner Ehefrau getrennt, die zu dieser Zeit in Algerien lebte. Als dritte große Belastung kam hinzu, dass seine bereits vor vielen Jahren ausgebrochene Tuberkulose-Erkrankung ihn mit einem schweren Rückfall konfrontierte (Csef 2015).

Ort, Zeit und Hauptakteure des Romans

Der erste Satz von „Die Pest“ lautet: „Die seltsamen Ereignisse, denen diese Chronik gewidmet ist, haben sich 194.. in Oran abgespielt.“ Oran ist eine im Westen Algeriens gelegene Hafenstadt. Albert Camus ist nicht weit davon entfernt in Mondovi in Algerien aufgewachsen. Der Roman handelt also von einer Pest-Seuche im 20. Jahrhundert und geschieht während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Während Camus an diesem Roman schrieb, wurde das KZ Auschwitz geöffnet, der Holocaust und die Vernichtung der Juden fand statt und in den meisten Ländern der Welt wütete ein Krieg, der hohen Blutzoll kostete. Der Abwurf der ersten Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki hat am Ende des Zweiten Weltkriegs Albert Camus ebenfalls sehr stark beschäftigt. In diesen Kriegs- und Vernichtungszeiten geschehen die Ereignisse, von denen der Roman „Die Pest“ berichtet.

Die Hauptpersonen sind der Arzt Rieux, sein Nachbar Tarrou, der Rathausangestellte Grand, der Jesuitenpater Paneloux, der Journalist Rambert, der Rentner Cottard, der Richter Othon und der Wissenschaftler Castel, ein Professor, der ein Serum gegen die Pest entwickelt. Die genannten Hauptpersonen sind alle männlichen Geschlechts. Dies ist nicht überraschend, denn in allen seinen Romanen und Dramen überwiegen eindeutig die männlichen Hauptpersonen. Camus beschreibt also überwiegend männliche Verhaltensmuster, Konflikte und Krisen. Auch in seinem bekanntesten Werk „Der Fremde“ – existieren fast ausschließlich männliche Hauptpersonen.

Chronologie des typischen Verlaufs einer Seuche

Der Roman „Die Pest“ ist wie ein klassisches Drama in fünf Akten gestaltet. Deshalb eignet sich der Inhalt auch sehr gut für die Darstellung als Drama auf der Bühne. Mittlerweile existieren zahlreiche Bühnen-Inszenierungen des Romans. Er zeigt einen chronologischen Verlauf und stellt damit die Entwicklung der Pest dar. Der erste Akt spielt im Frühling und beschreibt den Beginn der Pest: Der Arzt Rieux findet die erste tote Ratte und sieht weitere im tödlich endenden Überlebenskampf. Das Wort „Pest“ taucht erstmals auf Seite 24 des Romans auf. Bis dorthin ist alles Exposition des Dramas. Im zweiten Akt, der jahreszeitlich im Sommer spielt, kommt es zur Steigerung der Pest, die wiederum im dritten Akt (Spätsommer) ihren Höhepunkt erreicht. Im Herbst spielt der vierte Akt, der den Rückgang der Pest beschreibt: Weniger Menschen erkranken und sterben an der Pest. Der letzte und fünfte Akt spielt im Winter. Die Katastrophe ist vorbei, die Pest ist in ihren Erscheinungsformen abgeklungen, es kommt zu einer neuen Normalität. Gleichwohl erfolgt auf den letzten Seiten eine Mahnung: Die Ratten werden irgendwann wiederkommen!

Camus hat sich offensichtlich gründlich mit den medizinischen Fakten früherer Seuchen beschäftigt. Sehr fachkundig beschreibt er, was auch die Menschen im Jahr 2020 während der Corona-Pandemie auf der ganzen Welt erleben: Es gab erste Zeichen einer neuen bislang unbekannten Erkrankung und sehr bald die ersten Todesopfer. Ausgangspunkt der Pandemie war die chinesische Stadt Wuhan. Die Forscher identifizierten sehr schnell die Merkmale des Krankheitserregers: Es ist ein Virus, das dem bereits gekannten SARS-Virus ähnlich ist und im Extremfall zu tödlichen Lungenentzündungen führt. Das Virus wurde „SARS-Cov-2“ oder „Covid-19-Virus“ genannt. Im Roman wie auch jetzt während der Corona-Pandemie kam es dann zu Quarantäne-Maßnahmen, Kontaktverboten, Ausgangssperren und Sperrung oder Abriegelung ganzer Städte. Camus beschrieb in seinem Roman das Anschwellen der Pest, das Erreichen des Höhepunkts und schließlich einen Rückgang. Die chinesische Stadt Wuhan hat innerhalb von vier Monaten (Dezember 2019 bis März 2020) den von Camus skizzierten Verlauf der Seuche hinter sich gebracht und hat nur noch wenige neu Infizierte. Im April 2020 tobt die Corona-Pandemie vor allem in Europa und in den USA. Innerhalb der EU sind besonders Spanien und Italien mit hohen Todesraten (jeweils über 10000 Tote) betroffen. Wie sich die Chronik der Corona-Pandemie weltweit entwickeln wird und welche Folgen sie haben wird, ist heute noch offen.

Auswirkungen der Quarantäne auf menschliche Beziehungen

In zahlreichen europäischen Ländern gibt es seit Mitte März ein weitgehendes Ausgangs- und Kontaktverbot. Neu Infizierte werden in Quarantäne gesetzt. Schulen und Universitäten, die Gaststätten, Hotels und die meisten Geschäfte sind geschlossen. Es gibt Besuchsverbote in Heimen und Krankenhäusern, Väter dürfen bei der Geburt ihrer Kinder nicht in den Kreißsaal. Viele Betriebe haben geschlossen. Millionen von Menschen sitzen überwiegend zu Hause in ihren vier Wänden, auch wenn sie nicht selbst infiziert sind. Diese Menschen klagen über die Einschränkungen und fühlen sich in ihrer Freiheit und Lebensweise eingeschränkt. Das „enge „Aufeinandersitzen“ in den eigenen vier Wänden führt zu massiven Veränderungen in den Familien. Albert Camus hat sich genau diesem Phänomen gewidmet, wie die Quarantäne und die innere und äußere Verbannung auf die Menschen wirken. Hierzu ein Textauszug aus dem Roman:

„Ehemänner und Liebhaber, die das größte Vertrauen in ihre Gefährtin hatten, merkten plötzlich, daß sie eifersüchtig waren. Männer, die glaubten, sie seien unbeständig, entdeckten ihre Reue. Söhne, die bei ihrer Mutter gelebt und sie kaum angesehen hatten, legten ihre ganze Besorgnis und Reue in eine Falte ihres Gesichts, das sie in der Erinnerung verfolgte. Diese grausame Trennung ohne absehbare Zukunft brachte uns aus der Fassung und lieferte uns wehrlos den Erinnerungen an jene noch so greifbar nahe und doch so ferne Gegenwart aus, die nun unsere Tage erfüllten. In Wirklichkeit litten wir doppelt – zuerst an unserem eigenen Schmerz und dann, indem wir uns in die Abwesenden hineinversetzten, in den Sohn, die Gattin oder die Geliebte … Denn das war wirklich das Gefühl der Verbannung, jene Leere, die wir unablässig in uns trugen, diese besondere innere Unruhe, der unvernünftige Wunsch, in die Vergangenheit zurückzukehren oder im Gegenteil die Zeit vorwärts zu treiben. Diese brennenden Pfeile der Erinnerung. (Albert Camus, 1950, S. 43)

Die Botschaft der Heimsuchungen

Das, was den Menschen in der Pest widerfahren ist, nennt Albert Camus wiederholt „Heimsuchung“. Die Hauptperson Dr. Rieux überlebt schließlich die Pest und zieht auf der letzten Seite des Romans folgendes Resümee:

„Er wollte nicht zu denen gehören, die schweigen, er wollte vielmehr für diese Pestkranken Zeugnis ablegen und wenigstens ein Zeichen zur Erinnerung an die ihnen zugefügte Ungerechtigkeit und Gewalt hinterlassen; er wollte schlicht schildern, was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich, dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.“ (Albert Camus, 1950, S. 182)

Dieser eindrucksvolle letzte Satz sollte auch heute den Menschen während der Corona-Pandemie als wichtige Botschaft vor Augen bleiben.

Die Hoffnung auf eine neue Solidarität

Das Schreckliche an der Corona-Pandemie sind die zahlreichen Toten, die zu beklagen sind. In vielen Ländern wurde zu spät und nur halbherzig gehandelt. Es fehlten Schutzanzüge, Schutzmasken und Desinfektionsmittel. Besonders eklatant war der Mangel an dringend notwendigen Beatmungsgeräten, so dass in manchen Ländern die Ärzte entscheiden mussten, welchen Patienten sie eine Überlebenschance gewähren und welche sie sterben lassen. Der, der nicht ans Beatmungsgerät angeschlossen wurde, war dem Tode geweiht. Diese ethischen Entscheidungen waren und sind für die betroffenen Ärzte eine riesige seelische Belastung.

Es gibt mittlerweile zahlreiche Essays, Kommentare oder Interviews, in denen auch positive Erfahrungen der Corona-Krise berichtet werden. Viele Menschen helfen anderen ehrenamtlich und ohne Bezahlung. Zahlreiche Formen von neuer Solidarität entstehen. Es bleibt zu vermuten, dass unsere Gesellschaft nach dem Abflauen der Corona-Pandemie eine andere sein wird. Wie auch immer – um mit dem berühmten Philosophen Karl Popper zu sprechen – „die Zukunft ist offen“.

Literatur:

Camus, Albert (1950) Die Pest. Rowohlt, Reinbek

Csef, Herbert (2013) Albert Camus zum 100. Geburtstag. Universitas, Jahrg. 68, Nr. 820, S. 59-67

Csef, Herbert (2014) Sinnorientierte Lebensentwürfe bei Albert Camus. Ein Brückenschlag zwischen Existenzphilosophie und Psychotherapie. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik, 10. Ausgabe 1, S. 1-8

Csef, Herbert (2015) „Krankheiten sind einsame Abenteuer.“ Albert Camus‘ Überlebenskampf gegen seine Tuberkulose. Tabularasa Magazin vom 13. Februar 2015

Csef, Herbert (2019) Der Mensch in der Revolte. Albert Camus als Protagonist der modernen Protestbewegungen. Tabularasa Magazin vom 12. März 2019

Radisch, Iris (2013) Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef, Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Zentrum für Innere Medizin, Medizinische Klinik und Poliklinik II, Oberdürrbacherstr. 6, 97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

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Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.