Teil 3 – Die philosophische Reihe: Arthur Schopenhauer

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Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung

Schopenhauer wurde 1788 in Danzig geboren und wuchs in einer wohlhabenden Großkaufmannsfamilie auf. Er begann eine Kaufmannslehre, die er jedoch nach dem Tod seines Vaters abbrach. An den Universitäten Göttingen und Berlin studierte er Medizin, Naturwissenschaften, Geschichte, Mathematik, Sprachen und Philosophie. Seine Lehrer waren unter anderem Gottlob Ernst Schulze (Aenesidemus-Schulze; 1761–1833), Fichte und Schleiermacher (1768–1834). Er promovierte an der Universität Jena zum Dr. phil. Seine Mutter unterhielt in Weimar einen literarischen Salon, wodurch er in Kontakt mit Goethe gelangte. Über Friedrich Majer (1772–1818) und Julius Klaproth (1783–1835) kam er mit indischem Gedankengut in Berührung. Mit seiner Schrift ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ habilitierte er sich an der Berliner Universität. 1820 begann Schopenhauer seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität. Dabei trat er gegen Hegel an, indem er seine Vorlesungen zeitgleich mit denen Hegels ansetzte. Er verlor diesen Kampf jedoch, da die Studenten Hegel den Vorzug gaben. Aus Mangel an Zuhörern hielt er dort nur ein Semester Vorlesungen. In seinen späteren Schriften überzog er Hegel mit Hasstiraden, so ist von einer ‚Philosophie des absoluten Unsinns‘ oder einer ‚Afterphilosophie‘ die Rede (Spierling, 2002, S. 12). 1833 ließ er sich in Frankfurt a. M. nieder, wo er bis zu seinem Tod 1860 lebte (Koßler, 2020, S. 437).

Schopenhauers Philosophie durchzieht der folgende Gedanke, mit dem er sein Werk ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ einleitet:

‚Die Welt ist meine Vorstellung‘ – dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; […] Die Einseitigkeit dieser Betrachtung aber wird das folgende Buch ergänzen durch eine Wahrheit, welche nicht so unmittelbar gewiß ist wie die, von der wir hier ausgehn; sondern zu welcher nur tiefere Forschung, schwierigere Abstraktion, Trennung des Verschiedenen und Vereinigung des Identischen führen kann – durch eine Wahrheit, welche sehr ernst und jedem, wo nicht furchtbar, doch bedenklich sein muß, nämlich diese, daß eben auch er sagen kann und sagen muß: ‚Die Welt ist mein Wille.‘ (Schopenhauer, 2018, Wille I, S. 31ff.)

Vorstellung

Schopenhauer stimmte Berkeley zu: Der Mensch kenne die Sonne oder die Erde immer nur als gesehene Sonne oder gefühlte Erde (Schopenhauer, 2018, Wille I, S. 31ff.). Eine von unserer Vorstellung unabhängige Welt sei nicht denkbar (Schopenhauer, 2018, Wille I, S. 32). Das bedeutet: „Kein Objekt ohne Subjekt“ (Spierling, 2002, S. 45). Auf der anderen Seite stand die These „Kein Subjekt ohne Objekt“ (Spierling, 2002, S. 45), die Schopenhauer in die Nähe des Materialismus von D’Holbach, La Mettrie und Pierre Cabanis (1757–1808) rückte.

Das Gehirn betrachtete Schopenhauer als Denkorgan. Das bedeutet: Als Denkorgan bringt das Gehirn die Vorstellungen hervor, andererseits muss das Gehirn selbst eine Vorstellung sein. Daraus ergibt sich das sogenannte Gehirn- Dilemma: Wie kann das Gehirn zugleich Erscheinung und Quelle der Erscheinung sein? Dies führte zu einem ständigen ‚Drahtseilakt‘, ohne dass das Dilemma aufgelöst wurde (Birnbacher, 2009, S. 19).

Dieter Birnbacher weist auf einen entscheidenden Unterschied zu Kant hin. Für Kant entstehen Wahrnehmungen durch die Syntheseleistung eines

„transzendentalen Subjekts“20, während Schopenhauer dafür physiologische Vorgänge im Gehirn verantwortlich machte (Birnbacher, 2022, S. 128). Im Vorgriff auf die evolutionäre Erkenntnistheorie von Konrad Lorenz (1903–1989) interpretierte Schopenhauer Kants Prinzipien des Denkens biologistisch um (Birnbacher, 2022, S. 128).

Für das Leib-Seele-Problem bot Schopenhauer eine Lösung an, die von der Identität von Leib und Seele ausging: Seelisches und Leibliches seien untrennbar miteinander verbunden; sie seien zwei Aspekte derselben Sache (Birnbacher, 2009, S. 41).

Wille

Der Wille wurde in der neuzeitlichen Philosophie zu einem Leitbegriff, mit dem Themen wie Freiheit und Selbstbestimmung verbunden sind (HWdP, 12,785f.). Er ist eine elementare Erfahrung: Wir finden uns immer wollend vor (HWdP, 12, S. 785f.). Bei Kant ist der Wille einerseits ein Vermögen, bestimmte Vorstellungen hervorzubringen (KpV, S. 29), aber auch ein Vermögen, etwas nach bestimmten Zwecken hervorzubringen (KpV, S. 36).

Schopenhauer fasste den Willen sehr weit. Zum Willen zählte er den menschlichen Willen, aber auch die in der Natur wirkenden Kräfte. Zugleich deutete er den Willen auch als vernunftloses Drängen und Streben in der Natur. In den beobachtbaren Naturerscheinungen, Kräften und Trieben sah Schopenhauer Erscheinungsformen des Willens.

Wie kam Schopenhauer zu der Auffassung, dass hinter allen Erscheinungen der Erfahrungswelt der Wille als universelles und einheitliches Prinzip waltet? Schopenhauer folgert dies aus einem Analogieschluss vom menschlichen Körper auf die gesamte Natur. Der menschliche Wille äußert sich unter anderem in Hunger und Geschlechtstrieb. Sichtbarer Ausdruck dieses Willens sind z.B. die Zähne und die Genitalien. Analog dazu hat Schopenhauer Erscheinungen wie Menschen, Tiere, Pflanzen und Steine so gedacht, dass auch sie eine Willensseite haben (Spierling, 2002, S. 66). Dieser Wille sei die metaphysische Seite der Welt. Er sei ein Letztes, auf das unser Erkennen stoße (Spierling, 2002, S. 67).

Für Schopenhauer ist der Wille ein Grundzug der ganzen Welt (Birnbacher, 2009, S. 53) und damit auch der menschlichen Gesellschaft: […] auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetiert, ja die Kraft, durch welche der Kristall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol wendet, […] ja zuletzt sogar die Schwere, welche in aller Mate- rie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht – […], Wille heißt. (Schopenhauer, 2018, Wille I, S. 170)

Bewegungskräfte, elektrische und magnetische Kräfte wurden von Schopenhauer als Erscheinungen des Willens gedeutet. Der Wille sei der alleinige Kern der Naturerscheinungen: der Kräfte zwischen magnetischen oder elektrischen Polen, der Kristallbildung, der Veränderung des Aggregatzustandes und der Erdanziehungskraft (Schopenhauer, 2018, Wille I, S. 180). Er wirke auch dort, wo keine Erkenntnis ihn leite. Schopenhauer untermauert dies mit Beispielen aus der Tierwelt: So baut ein einjähriger Vogel ein Nest, um später Eier zu le- gen, ohne eine Vorstellung von Eiern zu haben, und eine Spinne webt ein Netz, ohne eine Vorstellung von diesem zu besitzen. Der Wille wirke auch in einer Reihe von körperlichen Funktionen (wie Verdauung, Blutkreislauf, Wachstum und Fortpflanzung), die nicht von Erkenntnis geleitet seien.

Ein und derselbe Wille zeige sich in der anorganischen und in der organischen Natur. Die Einheit des Willens äußere sich in der inneren Verwandtschaft der Erscheinungen. Schelling und seine Anhänger lobte Schopenhauer dafür, solche Verwandtschaften auch in der anorganischen Natur nachgewiesen zu haben. Als Beispiel nannte er die Verwandtschaft von Elektrizität und Magnetismus. Auch in Entsprechungen zwischen anorganischer und organischer Natur zeige sich die Einheit des Willens. So finde die Kristallisation in der organischen Welt ihre Entsprechung im Verfestigen der Knochen, das Mischen und Abscheiden in der anorganischen Natur entspreche im Bereich des Organischen dem Mischen der Körpersäfte (Schopenhauer, 2018, Wille I, S. 215).

Für Schopenhauer ist der Wille einerseits Ding an sich, andererseits Naturdynamik (Schopenhauer, 2018, Wille I, S. 173; Birnbacher, 2009, S. 31). Wieso bestehen in der Philosophie Schopenhauers zwei unterschiedliche Sichtweisen auf den Willen? Dieter Birnbacher weist darauf hin, dass sich in Schopenhauers Metaphysik sich zwei unterschiedliche Tendenzen ausmachen lassen: Zum einen geht es darum, die Vielfalt der seelischen, körperlichen und geistigen Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so wie die Newton’sche Mechanik die Vielfalt der Naturphänomene zu verstehen hilft. Das Schema des Willens bietet dafür ein geeignetes Muster. Andererseits aber müssen die (nur im Subjekt vorhandenen) Erscheinungen in etwas anderem begründet sein. Dieses transzendente Andere ist für Schopenhauer der Wille, der dem kantischen Ding an sich entspricht (Birnbacher, 2022, S. 135). Als Ding an sich ist der Wille den Erkenntnismethoden der Wissenschaft unzugänglich. Der Wille als Ding an sich ist das Reale hinter der Erscheinungswelt.

Im Spannungsfeld zwischen Materialismus und Idealismus

Ob Materie durch unsere Vorstellung konstituiert wird oder auch unabhängig davon existiert, beantwortete Schopenhauer so: Der Erkennende sei ebenso ein Produkt der Materie, wie die Materie bloße Vorstellung des Erkennenden sei (Schopenhauer, 2018, Wille II, S. 23). Der Materialismus habe seine Berechtigung, aber man könne nie das Subjekt überspringen, da eben allein das Bewusstsein das unmittelbar Gegebene sei. Er illustrierte dies durch die Paraphrase:

Denn der Materialismus ist die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts. (Schopenhauer, 2018, Wille II, S. 23f.)

Das Subjekt werde nur durch die Materie zusammengehalten. Andererseits sei Materie an die Form gebunden, die das Subjekt ihr vorgebe. Materie und Subjekt seien „unzertrennlich verknüpft als notwendige Teile eines Ganzen, das […] beide umfaßt […]“ (Schopenhauer, 2018, Wille II, S. 30). Dieses umfassende Ganze ist die Welt als Vorstellung oder die Erscheinung. Nach deren Wegnahme bleibt nur noch das rein Metaphysische, das Ding an sich, welches wir im zweiten Buche als den Willen erkennen werden. (Schopenhauer, 2018, Wille II, S. 30)

Der Stoff sei empirisch gegebene Materie. Im Stoff habe die Materie bereits bestimmte Formen angenommen (Schopenhauer, 2018, Wille II, S. 63f.). Schopenhauer setzte die Materie mit dem metaphysischen Begriff der Substanz gleich. Die Verschiedenheit der Stoffe deutete er als verschiedene Zustände dieser Substanz. Die Materie habe Eigenschaften wie Unzerstörbarkeit, Ursprungslosigkeit, raumzeitliche Ausdehnung und Wirksamkeit, ihr Wesen sei Kausalität, sie sei unendlich teilbar, sie sei das Beharrliche bei wechselnden Akzidenzien, durch sie sei Bewegung möglich, Materie sei (wie auch bei Kant) das Bewegliche im Raum.

Im Streit zwischen Idealismus und Materialismus versuchte Schopenhauer, beide Richtungen zu versöhnen. Sein Lösungsversuch blieb Kant verpflichtet: Die Grundstruktur der Welt sei subjektiv. Ausdruck dieser Subjektivität war für Schopenhauer der Wille. Der Wille wurde als Grundzug aller Erscheinungen gedeutet (Birnbacher, 2009, S. 51).

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Zum Buch:

Was außerhalb meines Geistes ist und was ich davon wissen kann

Gedanken über Materie, Geist und Realität

von Kay Herrmann

ISBN 978-3-8260-7848-4

Es wurden u.a. Grafiken der Düsseldorfer Künstlerin Aischa Sabbouh-Eggert verwendet: https://sabbouh.de/uber-mich.html

Autor Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay Herrmann über sich:

Mir ist es wichtig, Wissenschaft nicht nur für Fachkreise darzustellen, sondern allen Interessent:innen zugänglich zu machen. Deshalb sollen im Buch philosophische Hauptgedanken auch grafisch illustriert werden.

Als Physiker hat mich immer wieder beeindruckt, dass sich die Grundgesetze der Physik meist in mathematisch schönen und sehr einfachen Formen darstellen lassen. Deshalb spielte die Verbindung von Wissenschaft und Kunst in meinem Leben stets eine besondere Rolle. Von dieser Idee sind auch meine Installationen beseelt, die ich unter dem Projektnamen ‚Kosmografikum‘ zusammengefasst habe. Ziel ist es, physikalische und mathematische Objekte (z.B. ein 17 Meter langes Foucaultsches Pendel oder das Modell eines Hyperwürfels) in einer künstlerisch wertvollen und spannenden Form zu präsentieren (https://www.kayherrmann.de/kosmografikum.html).

Der Autor ist seit Februar 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Wissenschaftstheorie an der Technischen Universität Chemnitz, Institut für Pädagogik.

„Wissenschaft liefert Erklärungen. Aber Erklärungen sagen nicht viel über Wahrheit und Realität. Das Reale wird als Widerstand, als Widerfahrnis, aber auch als Stabiles und Robustes erlebt.“

Sie wollen mehr zum Buch erfahren? Auf den Seiten https://www.kayherrmann.de/vita.html und https://www.kayherrmann.de/ausserhalb-meines-geistes.html sowie https://verlag.koenigshausen-neumann.de/product/9783826078484-was-ausserhalb-meines-geistes-ist-und-was-ich-davon-wissen-kann/ finden Sie weitere Informationen.

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Über Kay Herrmann 9 Artikel
Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay Herrmann. Studium der Physik und Forschungsstudium der Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehramt für die Fächer Physik und Mathematik an Oberschulen beim Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung, 2011 Habilitation (Privatdozent, venia legendi) im Fach Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz, seit 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz und seit 2020 Fachausbildungsleiter für Physik an der Lehrerausbildungsstätte des Landesamtes für Schule und Bildung in Chemnitz.